Die Schia (arabisch شيعة Schīʿah ‚Partei‘ im Sinne von Anhängerschaft, Gruppe, d.h. nicht im Sinne einer modernen Partei (vgl. arabisch حزب Hizb ‚politische Partei (u.a.)‘)) ist eine der drei großen Konfessionen des Islam. Heute stellen die Anhänger der Schia, die Schiiten die zweitgrößte Konfession des Islam. Ihr Anteil liegt bei ca. 15 % der Muslime (weltweit), wobei der genaue Prozentsatz umstritten ist (die Spanne in der Literatur reicht von 10 bis 25 Prozent).
Die Schiiten betrachten Ali ibn Abi Talib, den Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed, als dessen legitimen Stellvertreter (Kalif). Sie unterscheiden sich von der sunnitischen Mehrheit, weil sie an das Imamat, d.h. die Hüterschaft des Glaubens durch einen Imam glauben (Überlieferung von Thaqalain), der jeweils aus der Familie des Propheten (ahl al-bait) stammt. In der Schia haben sich unterschiedliche Strömungen herausgebildetet, die jeweils eine verschiedene Anzahl von Imamen akzeptieren. Die am weitesten verbreitete Strömung sind die sogenannten (Zwölfer-)Imamiten.
Die Schia - Ihre Strömungen
Denken und Verbreitungsgebiet
Zwölferimamiten (12er)
- Die größte schiitische Strömung stellen die Zwölferimamiten, die hauptsächlich im Iran, Irak, Afghanistan, Aserbaidschan, Bahrain, Pakistan, Saudi-Arabien und im Libanon leben. Im Iran stellen sie zwischen 70 und 90 % der Bevölkerung. Aber auch im Irak stellen sie die Mehrheit mit ca. 60 % der Menschen. Trotzdem ist die Ausgangssituation im Irak eine andere, da es dort auch eine starke sunnitische Minderheit (u.a. viele der Kurden) und viele Christen gibt. In den anderen großen Ländern spielen Schiiten meist eine untergeordnete Rolle im politischen Leben, da sie meist in der Minderheit sind (Saudi-Arabien, Pakistan, Afghanistan). Die Imamiten werden manchmal auch, in Anlehnung an die vier sunnitischen Rechtsschulen (madhâhib, Sg. madhhab), Dschafaritische Rechtsschule genannt, weil sehr viele Überlieferungen auf den sechsten Imam Ja'afar as-Sadiq zurückgehen, der als Begründer der schiitische Rechtsmethodik gilt. Von ihm stammen zwar nicht alle, aber sehr viele schiitische Überlieferungen (ahadîth, Sg. hadîth).
Ismailiten (7er)
- Die zweite Gruppe sind die Ismailiten oder Siebener-Schiiten, die heute vor allem in Syrien, Afghanistan, Pakistan und Indien leben. Ihr bekanntestes Oberhaupt dürfte der Aga Khan sein, der allerdings nur den kleinen Teil der Nizari-Ismailiten repräsentiert. Sie sind sehr stark vom orientalisch-gnostischen Denken beeinflusst. In der Vergangenheit sind mehrere revolutionäre-ismailitische Gruppen aufgetreten, wie zum Beispiel die Assassinen in der Levante oder die Fatimiden, wobei letztere über 100 Jahre in Ägypten herrschten. Gegenwärtig spielen die Drusen eine wichtige politische Rolle im Nahostkonflikt.
Zaiditen (5er)
- Als dritte (und kleinste) Gruppe folgen die Zaiditen oder Fünfer-Schiiten, die heute nur noch im Nord-Jemen vorzufinden sind. Jedoch gibt es auch in Deutschland einzelne, darunter prominente Persönlichkeiten wie den ersten Lehrstuhlinhaber für die Religion des Islam Muhammad Kalisch (Uni Münster). Sie sind in ihrer Glaubenslehre (aqîda oder kalâm) der Schia (Imamat) zuzuordnen, haben jedoch in ihrer Rechtmethodik (fiqh) ausgesprochen sunnitische Züge. Dies wird dadurch verständlich, dass sie den sechsten Imam Ja'far nicht anerkennen, der die schiitische Rechtsmethodik als erster bergündet hat.
Aleviten
- Als vierte Gruppe könnte man die Aleviten* bezeichnen. Die meisten Aleviten leben in der Türkei und in türkischen Nachbarländern. Der Alevismus ist eine mystische Strömung der Schia, die teilweise nur als 'Geheimlehre' überliefert wurde. Die Aleviten sind stärker von der mystischen Tradition beeinflusst, vielleicht auch weil es nur wenige originär 'alevitische' Schriften gibt. Dementsprechen groß sind die Glaubensunterschiede zwischen den einzelnen alevitischen Gemeinschaften. Häufig wurden religiöse Autoritäten gefragt, ob die Aleviten zum Islam 'gehören'. Einige Aleviten grenzen sich selbst als eine eigenständige Religionsgemeinschaft ab. Andere fühlen sich als 'gewöhnliche' Muslime, die einen besonderen Bezug zu Ali und seinen Nachkommen habe. Da es im letzten Jahrhundert zu zahlreiche, blutige Zusammenstöße mit Sunniten kam, haben sich die jungen Abgrenzungstendenzen im 20. Jahrhundert verstärkt. Dies sind natürlich nicht die einzigen Gründe. Historisch ist die Abgrenzungstendenz eventuell mit einem der folgenden Gründe zu erklären: konfessionelle Minderheit, schiitenfeindliches Umfeld, keine türkischen, schiitischen Heiligtümer, andere Sprache als die Mehrheit der Schiiten, kein Zugang zu schriftlichen Quellen, hohe soziale und räumliche Mobilität, bilden 'neue' türkische Elite (Beamte, Angestellte, Journalisten, Künstler).
Ein alevitischer Geistlicher (Pir) - muss - stets aus der Familie des Propheten (Ahl-ul-Bayt) stammen. Der Pir bringt Wissen (Ilim) und Kultur (Irfan) in die Gemeinschaft.
Alawiten
- Die Aleviten* sind nicht zu verwechseln mit den zahlenmäßig geringeren Alawiten, die in Syrien die politische und militärische Elite bilden. Die Alawiten sind ismailitischen Ursprungs (Nusairier).
Schiitische Strömungen und ihre Unterscheidungsmerkmale
Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind übrigens nicht trennscharf, da sie von vielen regionalen Faktoren (Folklore, Grad der Urbanisierung etc.) abhängen. Zum Beispiel lassen sich die Aleviten auch als "türkische Zwölferschiiten" beschreiben, die allerdings stark von ihren regionalen und historischen Erfahrungen als konfessionelle Minderheit geprägt sind. Im Gegenzug sind die iranischen Zwölferschiiten von ihrer Mehrheitsposition geprägt, die seit der Safawiden-Periode (ab 1501) zu einem kontinuierlichen Zuwachs an politischem Einfluss geführt hat (vgl. auch Qajaren-Periode), der schließlich in der (revolutionären) Übernahme der politischen Herrschaft durch eine Gruppe iranischer Kleriker führte (Islamischen Revolution im Iran 1979).
Unterscheidungsmerkmale der drei bzw. vier Gruppen sind daher in erster Linie die Anzahl der "anerkannten" Imame und die Position, die diese im Heilsdenken einnehmen. So gibt es unter manchen Strömungen (Aleviten, Ismailiten) die Tendenz zur Vergöttlichung der Imame und teilweise zu einer Reinkarnationslehre (Drusen). Jedoch gibt es auch hier wieder regionale Unterschiede, die die Glaubensrealität kennzeichnen, und längst nicht alle Aleviten oder Ismailiten vergöttlichen die Imame. Leider wird die innermuslimische und -schiitische Diskussion über solche Fragen noch häufig polemisch ausgetragen. So werden die Aleviten von sunnitischen Gelehrten in der Regel nicht als Muslime anerkannt, weil ihnen kollektiv Vergöttlichung unterstellt wird.
Die Schia - Ursprung und Heilsgeschichte
Geschichtlicher Hintergrund
Die Schiiten haben ihren Ursprung in der Auseinandersetzung innerhalb des Islam bezüglich der Frage, wer nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 n. Chr. sein legitimer Nachfolger sein sollte. Während sich die Mehrheit der Muslime darauf einigte, einen Kalifen (arabisch khalifa „Nachfolger“) zu benennen, der die religiöse und politische Führung der Muslime übernehmen, jedoch keine göttlich autorisierte Legitimität beanspruchen sollte, lehnte eine Minderheit der Muslime diese Entscheidung ab, in der Überzeugung, Gott selbst würde den rechtmäßigen Nachfolger auswählen. Mit Bezug auf den Koranvers „Von seiner Partei ist auch Abraham“ (Sure 37, 83) waren sie der Ansicht, der Nachfolger Mohammeds müsse aus dessen Familie stammen, und glaubten, in Ali ibn Abi Talib, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten, den rechtmäßigen und von Gott erwählten Kalifen gefunden zu haben. Aus diesem Grund bezeichneten sich die Schiiten als Schi’at Ali.
Nachfolger Muhammads wurde jedoch nicht Ali, sondern Abu Bakr. Der Nachfolgestreit verschärfte sich, als nach Abu Bakrs zweijähriger Amtszeit Ali erneut nicht gewählt wurde. Erst nachdem drei andere Kalifen vor ihm regiert hatten, wurde Ali 656 in der Moschee von Medina zum Kalifen proklamiert. Nach schiitischer Auffassung kam mit ihm der einzig legitime Nachfolger Mohammeds an die Macht. Ali wurde jedoch nicht allgemein anerkannt. Er musste sich aus Medina in den Irak zurückziehen, wo die Stadt Kufa seine Residenz wurde und wo er 661 ermordet wurde. Seither wird er von den Schiiten als geistiger Ahnherr und erster Märtyrer verehrt.
Muawiya, der Begründer der Umayyaden-Dynastie, wurde der nächste Kalif. Hassan ibn Ali, einer von Alis Söhnen, der von den Schiiten als der zweite Imam angesehen wird, verzichtete auf eine Konfrontation mit Muawija und zog sich aus der Politik zurück. Als Muawiya 680 starb und seinen Sohn Yazid als Nachfolger einsetzte, stieß dieser Schritt auf Ablehnung unter einigen Muslimen.
So führte Alis zweiter Sohn, Husain, im Jahr 680 seine Familie und seine Anhänger gegen die Armee des Kalifen Yazid, nachdem er von den in Kufa lebenden Muslimen zu einem solchen Aufstand gedrängt wurde. Husain wurde, nachdem ihn seine kufistischen Verbündeten verraten hatten, bei Kerbela in der irakischen Wüste von Soldaten im Auftrag des omaijadischen Gouverneurs im Irak gestellt und am 10. Oktober 680 (10. Muharram 61 islamischer Zeitrechnung) ermordet.
Der Verrat an Husain gilt den Schiiten als "Erbsünde", Yazid als Symbol für das Böse, und der Märtyrer-Tod Husains wurde zum Kern der schiitischen Theologie. Am Aschura-Tag wird dieses Ereignis als höchster Trauer der Schiiten gesehen, teils verbunden mit blutigen Selbstgeißelungen. Im Iran wurde diese Tradition in jüngerer Zeit unter Chomeini und seinen Nachfolgern bewußt gefördert, nicht zuletzt anläßlich des Iran-Irak-Krieges.
Die zwölf Imame
1. Ali ibn Abi Talib 2. Hasan ibn Ali 3. Husain ibn Ali 4. Ali Zain ad-Din ibn Husain 5. Muhammad Baqir ibn Ali 5a. Zaid ibn Ali 6. Ja'far ibn Muhammad as-Sadiq 7. Musa al-Kazim 7a. Ismail ibn Ja'far 8. Ali ar-Rida 9. Muhammad at-Taqi al-Jawad 10. Ali al-Hadi 11. Hasan al-Askari 12. M-h-m-d al-Mahdi
Die Schia und Politik - Historische Staaten
Schiitisch regierte Staaten in der Geschichte
- Bujiden-Reich im westlichen Iran und Baghdad
- Fatimiden
- Kalifat der Fatimiden in Kairo (969-1171)
- (Ismailiten)
- Safawiden-Dynastie im Iran (ab 1501: Versuch einer Festigung der Herrschaft durch die Schiitisierung des Irans)
- Kadscharen-Dynastie im Iran (Emanzipation des schiitischen Klerus)
- Awadh mit der Hauptstadt Lakhnau in Nordindien bis 1856
Literatur
- Buchta, Wilfried: Schiiten. Kreuzlingen (u.a.) 2004.
- Elger, Ralf (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 383, Bonn 2004.
- Gronke, Monika: Geschichte Irans. Von der Islamisierung bis zur Gegenwart. München 2003.
- Halm, Heinz: Die Schia. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-03136-9.
- -: Der schiitische Islam. München 1994.
- -: Die Schiiten. München 2005.
- -: Das Reich des Mahdi. München 1991.
- -: Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten (973-1074). München 2003
- Krämer, Gudrun: Geschichte des Islam. München 2005.
- Löschner, Harald: Die dogmatischen Grundlagen des si'itischen Rechts. Eine Untersuchung zur modernen imamitischen Rechtsquellenlehre. Köln (u.a.) 1971.
- Tabataba'i, Muhammad Husain: Die Schia im Islam. Übersetzt von Farsin Banki, Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) 1996.
Weblinks
Nachschlagewerke
- Shia Islamportal - Schiitisches Internetportal in deutscher Sprache
- Ahlul Bayt Digital Islamic Library Project (DILP) - Digitale, schiitische Bibliothek in verschiedenen Sprachen
- Schiitische Feier- und Gedenktage - Verschiedene Daten zu den einzelnen Geburts- und Todestagen der schiitischen "Unfehlbaren" (ma'sumîn)
Einrichtungen
- Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) - Größte schiitische Moschee in Deutschland
- Institut für Islamische Bildung e.V. (IIB) - Islamisches (schiitisches) Institut in Hamburg
- Offizielle Homepages religiöser Autoritäten - Die schiitischen maraja' im World Wide Web
Schiitische Überlieferungen
- Schiitische Hadith-Sammlung - Thematische Auswahl in deutscher Sprache
- Nahj al-Balagha - Auswahl von den Imam Ali zugeschriebenen Reden