Kurzgeschichte

moderne literarische Form der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt
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Die Kurzgeschichte (Übersetzung vom englischen "short story") ist eine besondere, moderne literarische Form der Kurzprosa, deren Hauptmerkmal in einer starken Komprimierung des Inhaltes besteht.

Gattungsabgrenzung

Kurzgeschichte im engeren Sinn kennzeichnet modern short stories, eine Gattung, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Der Oberbegriff für "kurze" (Kürze meint nicht nur die reine Länge) Geschichten lautet deshalb korrekterweise Kurzprosa. Der Begriff Kurzgeschichte hat sich aber mit der Zeit zu einer allgemeinen Bezeichnung für Kurzprosa ausgeweitet. Von der Kurzgeschichte abzugrenzen ist die Novelle, die in ihrer Länge auch 30 Seiten deutlich überschreiten kann, und sich dadurch auszeichnet, dass sie eine stringentere Handlung und einen strukturierteren Rahmen besitzt.

Merkmale

Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die bei jeder Kurzgeschichte vorkommen müssen, und "Kurzgeschichte" als Begriff ist nicht trennscharf. Die gegenwärtige literarische Praxis der Kurzgeschichtenschreiber entscheidet über die Merkmale, die mit dem Begriff "Kurzgeschichte" in Verbindung gebracht werden. Handlung und Konflikt können sich völlig in einen Menschen verlagern, so dass diese innere Handlung bedeutsamer ist als das rein äußere sichtbare Geschehen (Wechselwirkung). Trotzdem lassen sich einige Merkmale finden (, die nicht immer auftreten):

  • Geringer Umfang
  • Keine Einleitung (bzw. sehr kurze Einleitung)d.h. keine Exposition
  • Überraschender Einstieg
  • Offener Schluss oder eine Pointe
  • Konfliktreiche Situation
  • Ein oder zwei Hauptpersonen stehen im Mittelpunkt (es gibt jedoch auch Kurzgeschichten mit deutlich mehr Hauptpersonen)
  • Ein entscheidender Einschnitt aus dem Leben der handelnden Person wird erzählt
  • Chronologisches Erzählen
  • Einsträngige Handlung
  • Wenig Handlung
  • Metaphern und Leitmotive weisen den Leser auf wichtige Gesichtspunkte der Geschichte hin
  • Der Höhepunkt/Wendepunkt ereignet sich am Ende der Geschichte
  • Themen sind Probleme der Zeit
  • Die Figuren sind Menschen, die nicht herausragen (Vgl. Alltagsmenschen), sie sind keine Helden
  • Es bleiben noch Fragen übrig (offenes Ende), der Leser muss zwischen den Zeilen lesen

es wird in der gegrenwart geschrieben

Form

Idealerweise besteht eine Kurzgeschichte aus den 4 Elementen: Auftakt, Aufbau des Problems/der Spannung, retardierendes Moment, Lösung. Lösung muss in dem Moment nicht Lösung des Problems bedeuten. Ein Scheitern der Protagonisten wird in diesem Zusammenhang auch als "Lösung" angesehen. Die Erzählperspektive ist oft die des Ich-Erzählers (Rückschau, chronologische Anordnung) mit eingeschränktem Wissen für den Leser. Er erfährt oft nicht mehr (sogar weniger), als der Ich-Erzähler zum Zeitpunkt des Geschehens weiß. Moderne Kurzgeschichten haben oft einen Er-Erzähler, der weit hinter (in!) die Hauptfigur(en) zurücktritt. Er ist häufig nur noch in verbindenden Zwischentexten nachweisbar (...sagte er.). Manchmal erzählt er wie aus dem Bewusstseinszentrum einer oder mehrerer Personen (innerer Monolog!), oder er verhält sich wie ein völlig neutraler Beobachter, ohne die Gedanken und Gefühle seiner Figuren preiszugeben (wie eine neutral registrierende Kamera!), indem er ausschließlich äußere Vorgänge abschildert (Schnitttechnik). Absicht / Wirkung letzterer Erzählhaltung: Der Leser ist gezwungen, den Text sehr intensiv zu lesen, vieles an inneren Vorgängen zu erschließen, um zu verstehen, die Gedanken, Gefühle und Reaktionen aus den äußeren Hinweisen abzuleiten und auch die Charakterzüge so zu erfassen: aktives, mitdenkendes, mitschaffendes Lesen wird erfordert. Der Leser kann sich meist sehr gut in die handelnde Person hineinversetzen, da es sehr wenige biographische Daten über sie gibt.

Scheiß Schule

Kürze

Ein wesentliches, im Begriff steckendes Merkmal ist natürlich die Kürze der Kurzgeschichte. Gemeint ist damit nicht nur der quantitative Seiten-/Zeilenumfang, sondern auch der qualitative Umfang: Es gibt meist nur einen Spannungsbogen oder Handlungsrahmen, die Kurzgeschichte handelt in einem kurzen und klar umrissenen Zeitumfang und arbeitet mit einer nur geringen Anzahl an Orten und Charakteren.

Offenheit

Gattungstypisch ist vielmehr der unvermittelte Anfang der Geschichte sowie der offene Schluss - oder aber eine Pointe am Ende des Textes.

Alltagssituation

Kurzgeschichten setzen Identifikationsangebote für den Leser und weisen schon daher inhaltlich eine Alltagsbezogenheit aus, die sich sowohl situativ wie auch in der Sprache (Alltagssprache) zeigt. Mittelpunkt der Kurzgeschichte ist meist kein Held (Heros), sondern eine Person des Alltags oder gar ein Antiheld, dessen Schwächen, Probleme oder Sichtweisen in der Kurzgeschichte knapp kontrastiert werden.

Sprachliche und inhaltliche Verdichtung

Die geringe Länge der Kurzgeschichte geht mit dem Zwang zur Detailansicht, zur Kontrastierung bestimmter, isolierter Themen einher. Sprachlich werden deshalb einzelne Wörter und Leitmotive in bewusst mehrdeutigen Konstruktionen und in gezielter Wiederholung benutzt, was die Kurzgeschichte Gattungen wie Gedichten oder der Parabel nahe bringt. Daher ist eine Kurzgeschichte meist sachlich, nüchtern und knapp. Sie ist bildhaft und realitätsnah und wird nicht isoliert, sondern funktional geschrieben.

Geschichte

Kurzgeschichten entstanden als short stories im Bereich der anglo-amerikanischen Literatur (z. B. Edgar Allan Poe; Sherwood Anderson; F. Scott Fitzgerald; Ernest Hemingway, William Faulkner; Sinclair Lewis) und setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland durch.

In Deutschland entstanden besonders in der Nachkriegszeit bedeutende Kurzgeschichten z. B. von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Ilse Aichinger, Hans Bender, Elisabeth Langgässer, Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Wolfgang Weyrauch und Gabriele Wohmann. Ab Mitte der 1960er-Jahre hat diese literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung verloren. Weitere Komprimierung und Reduktion führten zur Kürzestgeschichte; Verfasser solcher Texte sind u.a. Peter Bichsel, Kurt Marti, Helga M. Novak und Thomas Bernhard.

Zitate

  • "Uns fehlt der Optimismus des 19. Jahrhunderts, zu glauben, diese Welt ließe sich auf fünfhundert Seiten einfangen; deshalb wählen wir die kurze Form!" (Jorge Luis Borges)
  • "Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist." (Vicente Aleixandre)
  • "Mein hartgesottener Ehrgeiz kann nicht ablassen von dieser Form. Nimmt man sie wirklich ernst, dann wird die Kurzgeschichte - das ist meine Meinung - zur schwierigsten aller Prosaformen, denn keine andere verlangt vom Autor soviel Disziplin." (Truman Capote)
  • "Je mehr Du kürzest, desto häufiger wirst Du gedruckt." (Anton Tschechow)
  • "Ein Kunstwerk kann sozusagen nicht kurz genug sein, denn auf seiner gedrängten Kürze beruht sein Wert." (Gilbert Keith Chesterton)
  • "Da gibt es Kurzgeschichten, die lesen sich wie ein Achtzeiler von Goethe, randvoll mit sprachlichen, gedanklichen und gefühlsmäßigen Beziehungen und Verdichtungen. Andere wieder erscheinen so komprimiert, daß sie beim Lesen zerknallen wie Handgranaten." (Wolfgang Liebeneiner)
  • "Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit mich kurz zu fassen!" (Goethe)

Literatur

Textsammlungen

  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hrsg. und mit einem Nachwort von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2003. ISBN 3-15-018251-4 [Die Sammlung enthält 33 Geschichten aus dem Zeitraum 1945 - 1965.]
  • Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2005. ISBN 3-15-018387-1 [Die Sammlung enthält 30 Texte aus dem Zeitraum 1965 - 2004: Kurzgeschichten, Kürzestgeschichten, moderne Kurzprosa.]

Interpretationen

  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2004. ISBN 3-15-017525-9 [33 Interpretationen zu den Texten der 2003 veröffentlichten Anthologie.]
  • Rainer Könecke: Interpretationshilfen: Deutsche Kurzgeschichten 1945-1968. 2. Auflage. Klett, Stuttgart/Dresden 1995.
  • Franz-Josef Thiemermann: Kurzgeschichten im Deutschunterricht. Texte - Interpretationen - Methodische Hinweise. Kamps, Bochum 1967 [u.ö.].

Forschungsliteratur

  • Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte. In: Deutsche Rundschau 87 (1961) Heft 1. S. 61-66.
  • Hans Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 205-225.
  • Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 226-245.
  • Jan Kuipers: Zeitlose Zeit. Die Geschichte der deutschen Kurzgeschichtenforschung. Groningen 1970.
  • Ludwig Rohner: Theorie der Kurzgeschichte. Frankfurt a. M. 1973. - 2., verbesserte Auflage. Wiesbaden 1976.
  • Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. München 1989 (UTB 1519).
  • Erna Kritsch Neuse: Der Erzähler in der deutschen Kurzgeschichte. Columbia (S.C.) 1991.
  • Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte? Stuttgart: Reclam 1993. ISBN 3150150302
  • Manfred Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1980. - 3., erweiterte Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. ISBN 382602074X
  • Leonie Marx: Die deutsche Kurzgeschichte. 3., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005 (Sammlung Metzler. 216). ISBN 3-476-13216-1
  • Urs Meyer: Kurz- und Kürzestgeschichte, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Reclam 2002, S. 124-146.

Siehe auch