Der Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen) ist eine ethisches Konzept, welches in verschiedenen Varianten auftritt. Neben der Ethik hat er auch Einzug in die Sozialphilosophie und die Wirtschaftswissenschaften gehalten.
Den Kern des Utilitarismus kann man in der Forderung zusammenfassen: "Handle immer so, dass das größtmögliche Maß an Nutzen (bzw. Glück) entsteht!" (Maximum-Happiness-Principle). Dabei ergibt sich das allgemeine Glück aus der Zusammenfassung des Glücks der einzelnen Menschen. Insofern ist der Utilitarismus eine hedonistische bzw. eudämonistische ethische Theorie. Da auch die möglichen Folgen und deren Auswirkungen auf das Glück der Menschen berücksichtgt werden, ist der Utilitarismus konsequentialistisch.
Er wurde vor allem durch Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 - 73) entwickelt. Bentham erläutert das Prinzip des Utilitarismus im ersten Kapitel seiner "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" (zuerst erschienen 1789, dem Jahr der Französischen Revolution) folgendermaßen:
"Mit dem Prinzip des Nutzens ist das Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Partei zu erhöhen oder zu vermindern, um deren Interessen es geht ... Mit 'Nutzen' ist diejenige Eigenschaft einer Sache gemeint, wodurch sie zur Schaffung von Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutem oder Glück tendiert."
Der von den Utilitaristen verwendetet englische Begriff "utility" deckt sich also nicht mit dem deutschen Begriff "Nützlichkeit", worunter nur die Zweckmäßigkeit verstanden wird. Ein schöner Blumenstrauß besitzt zwar "utility", aber er ist nicht "nützlich".
Begründung des Utilitarismus
Utilitarismus und Hedonismus
Ethisches Kriterium der Utilitaristen ist die Maximierung des Glücks. Der ethische Hedonismus ("Jeder soll nach der Maximierung des Glücks streben!") wird von den frühen Utilitaristen mit dem psychologischen Hedonismus ("Jeder Mensch strebt nach Glück") begründet.
Wenn die Menschen nichts anderes als Glück begehren, dann zeigt dies nach Mill, dass Glück das allein Begehrenswerte ist. Er schreibt: "Wenn die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie nichts begehrt, was nicht entweder Teil des Glücks oder ein Mittel zum Glück ist, dann haben wir keinen anderen und benötigen keinen anderen Beweis dafür, dass dies die einzigen wünschenswerten Dinge sind. In diesem Fall ist Glück der einzige Zweck menschlichen Handelns und die Beförderung des Glücks der Maßstab, in dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss." (Utilitarismus, Reclam, S. 67)
Selbst wenn die These des psychologischen Hedonismus richtig wäre, dass die Menschen tatsächlich nur nach ihrem Glück streben, so folgt daraus keineswegs, dass Glück das allein Wünschenswerte ist. Etwas, was tatsächlich gewünscht wird, muss deswegen noch nicht wünschenswert im normativen Sinne sein. Dies wäre ein "naturalistischer Fehlschluss" vom Sein auf das Sollen, wie bereits G.E.Moore betont hat.
Noch aus einem anderen Grund eignet sich der psychologische Hedonismus nicht zur Begründung einer utilitaristischen Ethik. Der psychologische Hedonismus besagt, dass jeder Mensch nur sein eigenes Glück anstrebt. Der Utilitarismus verlangt aber von den Individuen, dass sie das Glück aller Menschen anstreben. Mill schreibt dazu: "Kein Grund kann dafür angegeben werden, weshalb das allgemeine Glück begehrenswert ist, außer dem, dass jede Person ihr eigenes Glück anstrebt." (a.a.O. S. 88 ff.). Aus der Tatsache, dass für jede Person das eigene Glück ein Gut ist, folgt jedoch logisch nicht, dass das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit aller Personen ist.
Selbst, wenn man – wie Mill es versucht - den Hedonismus in seiner individuellen Form durch einen psychologischen Hedonismus in sozialer Form ("Alle Menschen streben nach der Förderung des allgemeinen Glücks") ersetzen würde - so könnte man aus dieser Tatsachenbehauptung logisch noch keine moralische Norm ableiten. Eine utilitaristische Norm würde sogar völlig überflüssig, denn sie würde fordern, was sowieso schon alle tun, nämlich das größte allgemeine Glück zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen.
Inzwischen gibt es verschiedene Versuche, den Utilitarismus unabhängig von der These des psychologischen Hedonismus zu begründen. Ein Beispiel ist die Ethik von R.M Hare, der einen Utilitarismus auf sprachanalytischer Grundlage entwirft. Das hedonistische Element lässt sich ohne größere Probleme aus dem Utilitarismus herauslösen und durch einen entscheidungstheoretischen Nutzenbegriff ersetzen. Bereits bei Bentham und Mill deutet sich eine breitere, nicht-hedonistische Interpretation des Nutzenbegriffs an, wenn statt der Begriffe "Glück" ("happiness") oder "Lust" ("pleasure") andere, nicht-hedonistische Begriffe Verwendung finden wie Vorteil (advantage), Gewinn (benefit) oder Gutes (good).
Inhaltliche versus verfahrensmäßige Normbegründung
Die Utilitaristen haben keine Schwierigkeiten, Norm setzende Institutionen wie z. B. das Versprechen utilitaristisch zu rechtfertigen. Damit bestehen jedoch zwei Gesichtspunkte für die Geltung einer Norm nebeneinander:
1. Zum einen gibt es die formale Legitimation einer einzelnen Norm, indem die Norm durch eine dazu berechtigte Institution, wie z.B. durch einen Vorgesetzten, ein Parlament oder die Parteien eines Vertrages gesetzt wurde.
2. Zum andern gibt es die inhaltliche Legitimation einer einzelnen Norm durch Berücksichtigung und Bewertung aller verfügbaren Alternativen des Handelns einschließlich der zu erwartenden Konsequenzen unter dem Gesichtspunkt des größten Glücks.
Nun ist es aber ohne weiteres möglich, dass ein Verfahren der Normsetzung (z. B. ein Mehrheitsbeschluss), das generell gegenüber anderen Verfahren gerechtfertigt werden kann, eine inhaltlich falsche Entscheidung hervorbringt, die keineswegs das allgemeine Wohl maximiert.
Wenn jedes Individuum unter Berufung auf die Folgen einer Entscheidung für das allgemeine Wohl auch denjenigen Normen die Verbindlichkeit bestreiten kann, die durch ein ansonsten anerkanntes Verfahren, z. B. einen Vertrag oder einen Mehrheitsbeschluss, gesetzt wurden, wird jegliche soziale Koordination und Kooperation fraglich.
R.B.Brandt und andere versuchten diesem Problem durch die Formulierung eines "Regelutilitarismus" gerecht zu werden, den sie einem "Handlungsutilitarismus" gegenüber stellten.
Ohne auf die relativ komplizierte Diskussion näher einzugehen, kann man diesen Ansatz dadurch charakterisieren, dass nur die generellen Normen oder Regeln (wozu gewöhnlich auch die Normsetzungsverfahren bzw. Institutionen gerechnet werden) am utilitaristischen Kriterium des Gesamtnutzens gemessen werden, während die einzelnen Handlungen nur an ihrer Vereinbarkeit mit diesen Regeln - und nicht unmittelbar am Kriterium des Gesamtnutzens - gemessen werden.
Durch ein derartiges zweistufiges Kriterium kann der Regelutilitarismus eventuelle Differenzen zwischen der utilitaristischen Bewertung einer generellen Norm und der Bewertung einer daraus resultierenden einzelnen Handlung zugunsten der generellen Norm auflösen.
Allerdings ist diese Lösung nicht immer befriedigend. Ein solches Vorgehen kann z.B. bedeuten, dass Widerstand gegen die Entscheidungen eines legitimierten Verfahrens auch in den katastrophalsten Fällen unzulässig wäre. Dies Problem wird in der Rechtsphilosophie gewöhnlich als das Problem der Abwägung zwischen Rechtsunsicherheit und Gerechtigkeit diskutiert und taucht z.B. dann auf, wenn es um ein "Widerstandsrecht" gegen parlamentarisch legitimierte Gesetze geht.
Entwicklung der utilitaristischen Theorie
Eine erste Form des Utilitarismus findet sich bei dem Chinesischen Philosophen Mozi, dessen Leben sich zwischen 479-381 v.Chr. während der Zeit der streitenden Reiche erstreckte. Er begründet die Schule des Mohismus im alten China und vertrat eine utilitaristische Ethik ungefähr 1800 Jahre bevor eine solche als brauchbares Prinzip in Europa formuliert wurde.
Jeremy Bentham vertrat als erster utilitarische Ethik in Europa. Bentham sah Leid und Glück als die einzigen Absoluta in der Welt: "nature has put man under the governance of two sovereign masters: pleasure and pain." Davon ausgehend formuliert das bekannte Prinzip der Nützlichkeit, dass all das gut sei, welches die größte Menge an Glück für die größte Zahl der Menschen bringe. Bentham erkannte später dass hierin zwei potentiell im Konflikt liegende Prinzipien vereint waren, weswegen er später nur noch die größte Menge an Glück in Betracht zog.
John Stuart Mill vertrat in seinem Buch Utilitarismus das kulturelle, intellektuelle und spirituelle Befriedigung einen höheren Wert besäße als bloße körperliche Befriedigung, weil ein Mensch, welcher sowohl höhere wie auch niedere Befriedigung erfahren hätte, Erstere der Letzteren vorziehen würde. Sowohl der Utilitarismus von Bentham wie der von Mill sind hedonistisch, da sie nur Befriedigung bzw. Glück in Betracht ziehen.
Der klassische Utilitarismus von Bentham und Mill beeinflusste viele anderen Philosophen und die Entwicklung eines breiteren Konzepts des Konsequentialismus. In Folge dessen sind selbst unter Philosophen Unklarheiten, wo sich Utilitarismus und Konsequentialismus unterscheiden würden. Der Utilitarismus von Bentham und Mill wird jedoch, obwohl am bekanntesten, heute nur noch von einer Minderheit vertreten. Weiterführende und gegenüber Kritk verbesserte Varianten des Utilitarismus wurden unter anderem von William Godwin, Henry Sidgwick und J.J.C. Smart entwickelt. Heute sind vor allem R.M. Hare und Peter Singer zu erwähnen.
Utilitarismus wurde als Argument für viele veschiedene politische Ansätze gebraucht. In seinem Essay Über die Freiheit und anderen Werken vertrat John Stuart Mill die Ansicht, dass Utilitarismus gesicherte freiheitliche Grundrechte für jeden einzelnen erfordere, durch welche jedes Individuum die größtmögliche Freiheit, die nicht mit der Freiheit anderer kollidieren würde, erhalten müsste, um das eigene Glück zu maximieren. Ludwig von Mises argumentierte mit utilitaristischen Argumenten für Libertarismus. Umgekehrt vertraten einige marxistische Philosophen auf utilitaristischer Basis den Sozialismus.
Theoretische Inhalte
Nutzenkalkül
Ein Grundprinzip des Utilitarismus ist unter dem Namen Nutzenkalkül, bei Bentham auch als Hedonistischer Kalkulus bekannt. Es ist sehr charakteristisch für utilitaristische Überlegungen und Werturteile, und ist auch Hauptanstoßpunkt vieler Kritik und intuitiver Abneigung.
Wenn ein Mensch vor mehreren Handlungsalternativen stehe, so solle er gemäß dem Utilitarismus die Handlung wählen, welche in ihrer Konsequenz aller Wahrscheinlichkeit nach das größtmögliche Glück trägt. Dazu habe er alle Einzelkonsequenzen und ihre Auswirkungen auf das Glück und Leid der Einzelnen in Betracht zu ziehen. Letztlich müsse man alles durch das mögliche Praktizieren einer Handlungsalternative entstehende Glück und Leid bei den Einzelnen zu einer Gesamtsumme errechnen, wodurch man erkennen könne inwiefern eine Handlung allgemein das Glück mehrt oder Leid erzeugt. Dann sei die Handlungsoption zu wählen, welche allgemein das größtmögliche Glück erzeugt.
Bentham umschrieb als erster solch ein Verfahren. Obgleich eine detailiertere und konkretere Ausarbeitung nicht exisitiert, wird das Nutzenkalkül als prinzipiell brauchbare Leitlinie von Utilitaristen anerkannt.
Anwendbarkeit
Da die individuellen Präferenzen der Individuen nicht direkt objektiv messbar sind, ist die Anwendung der utilitaristischen Ethik oft mit Problemen verbunden. Ein Beispiel hierfür ist die Verteilung von Geld in einer Gesellschaft: Nach der utilitaristischen Ethik müsste der individuelle Geldbedarf jeder Person (d. h. der Nutzen pro Geldeinheit) erfasst werden und dann das vorhandene in einem Zeitraum erwirtschaftete Geld unter Berücksichtigung des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen so auf die Individuen verteilt werden, dass für die Gesamtheit der Nutzen maximiert wird. Da der individuelle Geldbedarf jedoch nicht bekannt ist, werden Transferleistungen in pauschalisierter Form (Steuern, Sozialhilfe usw.) vorgenommen. Die Ermittlung des Geldnutzens jeder einzelnen Person wäre mit einem derart hohen Aufwand verbunden, dass der entstehende Gesamtnutzen kleiner wäre, als er bei der pauschalisierten Nutzenbeurteilung ist. Insofern wird auch hier nach utilitaristischen Prinzipien vorgegangen. Das Beispiel zeigt jedoch, dass der erreichbare Gesamtnutzen stark von der Verfügbarkeit von Informationen abhängig ist.
Formen und Richtungen
Utilitaristische Theoretiker haben sich von heute als klassisch angesehenen Entwürfen von Bentham und Mill entfernt. Indem sie an den zahlreichen Grundannahmen des klassischen Utilitarismus Variationen vornahmen sind zahlreiche verschiedene Richtungen entstanden. Um sich von den teils berechtigt, teils polemisch kritisierten Grunformen zu distanzieren, bezeichnen sich einige heute als Konsequentialisten.
Der Utilitarismus tritt in verschiedenen Formen auf:
- Neoutilitaristen betonen, dass Nutzen nicht dasselbe wie Eigennutz oder Egoismus sei; so könne z. B. die Adoption eines Kindes von subjektivem Nutzen sein. Hier spalten sich jedoch die Neoutilitaristen: Die einen haben einen empirischen Begriff, nehmen also an, dass der Mensch grundsätzlich nach Nutzenmaximierung sucht, Unlust vermeiden und Lust gewinnen will. Versuche an Tieren werden auf Menschen übertragen. Die anderen, etwa Mancur Olson, haben einen analytischen =Begriff der Nutzenmaximierung, wonach der Nutzen zuerst offen bleibt, um dann analytisch zu =untersuchen, welche Handlungsoptionen bei gegebenen Nutzen zu welchem Ergebnis führen. An Einfluss und im Hinblick auf die Erklärung sozialer Phänomene sind sie den empirischen Utilitaristen voraus.
- Die utilitaristische Ethik versucht die Entstehung und Geltung moralischer Normen und gesellschaftlicher Institutionen auf den Nutzen zurückzuführen, den sie für die Gesellschaft haben. Als eine normative Theorie setzt sie das Prinzip der Nützlichkeit als ein moralisches Kriterium, an dem die moralische Richtigkeit und Falschheit von Handlungen und Recht und Unrecht moralischer, rechtlicher und anderer gesellschaftlicher Normen und Institutionen gemessen werden sollen. Die utilitaristische Ethik fragt immer nach dem größten Glück der größten Zahl.
Aktutilitarismus und Regelutilitarismus
Eine verbreitete Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Utilitarismus ist die zwischen Akt- oder Handlungsutilitarismus einerseits, und Regelutilitarismus andererseits.
Nach dem Aktutilitarismus sollte man in jeder Situation für die möglichen Handlungen die möglichen Konsequenzen und ihre Wahrscheinlichkeiten in Betracht ziehen, und sich davon ausgehend für die Handlung entscheiden, welche das größtmögliche Glück zur Folge hat. Dabei ist für jede Situation neu zu entscheiden, welche Handlung welche Konsequenzen hat, und wie diese zu bewerten sind.
Im Kontrast dazu steht der Regelutilitarismus. Er sucht zunächst Regeln für das Handeln, welchen zu befolgen sind. Um zu entscheiden ob man eine Regel befolgen sollte oder nicht wird überlegt, welche Konsequenzen es hätte sie immer zu befolgen. Die Regel, welche deren Befolgen das meisten Glück nach sich zieht, sei hierbei latent und konsequent zu praktizieren. In dieser Hinsicht gleicht der Regelutilitarismus einer proportionalistischen ethischen Theorie.
Der Regelutilitarismus darf nicht mit den von J.J.C. Smart vertretenen Faustregeln verwechselt. Auch ein Aktutilitarist kann zustimmen, dass es sinnvoll ist Regeln zu formulieren und zu befolgen, da es Situationen geben kann in welchen eine Kalkulation der Konsequenzen zu komplex, zu schwierig oder zu zeitaufwendig ist. Faustregeln würden dabei in den meisten Fällen sehr großen Nutzen nach sich ziehen. In Situation, wo diese Bedingungen aber nicht gegeben ist, könne man diese Faustregeln jedoch durchaus ignorieren.
Arten des Nutzens
Man kann utilitaristische Richtung danach differenzieren, welche Vorstellung von Nutzen und Glück ihnen zugrunde liegt. Der klassische Utilitarismus von Bentham und Mill wird als hedonistisch betrachtet, da er das Gute als die Befriedigung primitiver Triebe betrachtete.
Im Unterschied dazu ist der Präferenzutilitarianismus eine bestimmter Typ des Utilitarianism, der das Gute als die Erfüllung der Präferenzen einer Person ansieht. Wie jeder Utilitarismus behauptet diese Art, dass das Gute, also hier die Erfüllung der eigenen Präferenzen, zu maximieren sei. In dieser Hinsicht können die Konsequenzen auch andere Dinge als pure Lustbefriedigung wie beispielsweise den Ruf oder Bildung enthalten. Er wird heute vor allem von Peter Singer bevorzugt, welcher von R.M. Hare beeinflusst wurde.
Negativer Utilitarismus
Die meisten Utilitaristen beschäftigen sich mit der Maximierung der Menge an Glück für die Menschen. Negativer Utilitarismus ist Utilitarismus, welcher umgekehrt den Fokus darauf legt die kleinstmögliche Menge an Leid für die Menschen zu erreichen, oder die größtmögliche Menge an Leid zu verhindern. Dem Glück wird kein Wert beigemessen oder es wird zumindest ein absoluter Vorrang der Leidensminimierung vor der Glücksmaximierung gesehen. Befürworter argumentieren, dass dieses ethische Prinzip effektiver sei, da es mehr Möglichkeiten gäbe Leid als Glück zu erzeugen, und dass das größten Quellen von Leid folgenreicher wäre als die größten Quellen von Glück.
Einige Philosophen argumentieren hingegen, dass das ultimative Ziel des negativen Utilitarismus letztlich die schnellste und schmerzloseste Auslöschung der gesamten Menschheit wäre, da dies ultimativ und effektiv das Leid minimieren würde. Negative Utilitaristen müssten konsequent die Zerstörung der Welt fordern, um den Schmerz einer stechenden Nähnadel zu vermeiden. Derartige Schlussfolgerungen aus dem negativen Utilitarismus werden jedoch nicht von allen geteilt.
Andere Spezien
Da die Grundlage des Utilitarismus letztlich die Empfindungsfähigkeit ist, haben schon von Anfang an viele Utilitaristen nichtmenschliche Lebewesen in die moralische Berücksichtigung mit eingeschlossen. Jeremy Bentham schrieb in The Principles of Morals and Legislation die folgenden in der Tierrechtsliteratur viel zitierten Worte:
- „Der Tag mag kommen, an dem der Rest der belebten Schöpfung jene Rechte erwerben wird, die ihm nur von der Hand der Tyrannei vorenthalten werden konnten. Die Franzosen haben bereits entdeckt, daß die Schwärze der Haut kein Grund ist, ein menschliches Wesen hilflos der Laune eines Peinigers auszuliefern. Vielleicht wird eines Tages erkannt werden, daß die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die Endung des Kreuzbeins ebensowenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. Was sonst sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit der Rede? Ein voll ausgewachsenes Pferd aber oder ein Hund ist unvergleichlich verständiger und mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Doch selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen? sondern: können sie leiden?“
Gegenwärtig beschäftigt sich der bekannte (Präferenz-)Utilitarist Peter Singer ausgiebig mit diesem Themengebiet. Er gilt auch als Vater der modernen Tierrechtsbewegung.
Auseinandersetzung mit anderen Ethiken
Neben der Ablehnung einiger ethischer Systeme haben Utilitaristen auch versucht, ihre Ethik explizit mit anderen zu verbinden.
Um die aufgedeckte Mängel an beiden Systemen zu überwinden wurde versucht, den Utilitarismus mit Kant's Kategorischen Imperativ zu verbinden. Beispielsweise stellt James Cornman den Gedanken auf, dass in jeder gegebenen Situation soviele Menschen wie möglich als Mittel gebrauchen sollten, und soviele Menschen wie möglich als Zweck behandeln sollten, was er als „utilitaristisches Kantsches Prinzip“ bezeichnet.
Anderen Konsequentialisten betrachten Glück als ein wichtiges Gut, räumen aber auch anderen Gütern wie Gerechtigkeit oder Gleichheit einen gewissen Wert ein, was den Utilitarismus kompatibler mit allgmeinen Moralvorstellungen macht.
Kritik an utilitaristischer Ethik
Seit seiner Formulierung durch Bentham und Mill war der Utilitarismus zahlreichen Kritikpunkten ausgesetzt.
Utilitarismus und allgemeines Moralverständnis
Vom Standpunkt des Utilitarismus ist Glück das höchste und alleinige Gut. Andere ethische Güter wie beispielsweise Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit oder Tugendhaftigkeit und intuitive Moralvorstellungen haben aus utilitaristischer Sicht keinen Wert an sich. Dadurch kann es jedoch zu Situationen kommen, in welcher eine utilitaristische Ethik zu einer Handlung rät, welche anderen Ethiken als absolut unmoralisch bewerten würden. Die meisten Zurückweisungen des Utilitarismus fußen auf diesen Konflikt. Beispielsweise könnte man für die Folterung oder Tötung eines Menschen argumentieren, wenn sich dadurch Menschen leben retten ließen.
Utilitaristen reagieren unterschiedlich auf solche Vorwürfe. Einige vertreten, dass in solchen Situationen nur das Glücksmaximierung zähle, und andere moralische Urteile abzulehnen seien. Andere verweisen darauf, dass in einer gedachten Dilemmasituation der Utilitarismus nur oberflächlich zu einer falsch erscheinenden Entscheidung raten würde, während sich bei dem Bedenken aller direkten und indirekten Konsequenzen ein anderes Bild ergeben würde. So müsse man hierbei auch langfristige Konsequenzen, etwa der Verlust des Vertrauens in staatliche Grundrechte, bedenken. Utilitaristen wie Smart betonen hierbei, dass viele intuitive oder tradierte Moralvorstellung in der Tat utilitaristisch brauchbar seien, da ihre Befolgung im allgemeinen und auf lange Sicht zu einer Nutzenmaximierung führt. Smart verwendete dabei den Begriff "Faustregel".
Menschenwürde
Ein weiterer Kritikpunkt ist jedoch auch, dass der Utilitarismus die Würde des Menschen zwar anerkennt, dies jedoch nach den Grundsätzen des Utilitarismus nicht immer durchführbar ist. Anhand eines Beispiels lässt sich dies erklären: angenommen, eine Verkäuferin lässt eine alte, sehbehinderte Frau sehr lange nach Kleingeld suchen, während sich hinter ihr eine lange Schlange bildet. Nach dem Utilitarismus, der ja das Allgemeinwohl als höchstes Ziel vorsieht, dürfte die Verkäuferin nicht der alten Frau helfen, sondern wäre im Sinne des Allgemeinwohls dazu verpflichtet, die anderen Kunden schneller zu bedienen und daher die alte Frau nicht zu bedienen oder ihr nicht zu helfen, Kleingeld zu suchen. Hier wird also deutlich, dass der Utilitarismus keinesfalls immer anwendbar ist und es (wie an diesem Beispiel erläutert wird) oftmals zu Schwierigkeiten/Kritik an den Grundsätzen des Utilitarismus kommen kann. (Beispiel Quelle: "Einführung in die utilitaristische Ethik", Franke Verlag, 1992)
Nicht-Beweisbarkeit
Am Utilitarismus wird kritisiert, dass er durch Logik oder Wissenschaft nicht als das richtige ethische System bewiesen wäre. Tatsächlich wurde dieses Problem von Utilitaristen als eine ersten untersucht. Mill argumentierte, dass dieses Probleme für alle Ethiken bestehe und darum der Utilitarismus gegenüber anderen System dadurch nicht benachteiligt sei. Unterstützer verweisen dieses Problem weiter an das Problem des infiniten Regress. Einige argumentieren als Antwort auf die Kritik, dass jedes politische Argument für eine bestimmte Gesellschaftsform zumindest implizit eine utilitaristisches Prinzip verwendet, wenn es behauptet eine bestimmte Gesellschaft sei für die Menschen am nützlichsten. Manche vermuten, dass Utilitarismus zu einem gewissen Grad dem menschlichen Denken angeboren sei.
Vergleichbarkeit von Glück
Eine Schwierigkeit betrifft den Vergleich von Glück zwischen verschiedenen Menschen. Viele der früheren Utilitaristen hofften auf eine Methode das Glück von Menschen quantitativ zu messen und es mittels eines Nutzenkalküls zu vergleichen, um somit eine Entscheidungsgrundlage zu erhalten - auch wenn kein Philosoph bisher solch ein Kalkül in der Praxis ausgearbeitet hatte. Einioge Kritiker verweisen darauf, dass das Glück verschiedener Menschen inkommensurabel sei, und dass daher das Nutzenkalkül nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unmöglichsei. Verteidiger wenden ein, dass jeder dieses Problem vorfindet, wenn er zwischen zwei Handlung wählen muss, bei welcher beide für die beteiligten Menschen Leid bedeuten. Wenn Glück inkommensurabel wäre, dann wäre der Tod von hundert Menschen nicht schlimmer als der Tod eines Einzelnen. Triage scheint ein Beispiel für eine Situation in der echten Welt zu sein, wo der Utilitarismus erfolgreich angewendet wurde.
Siehe auch
Literatur
- Jeremy Bentham. An introduction to the principles of morals and legislation. Kila(?): Kessinger: 2005. ISBN 1-4179-5732-8
- John Stuart Mill. (1871) Der Utilitarismus. Stuttgart: Reclam, 1976. ISBN 3-15-009821-1
- Peter Singer. Praktische Ethik. 2., überarbeitete Auflage. Philipp Reclam, Stuttgart, 1994. ISBN 3-15-008033-9
- Otfried Höffe. Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen: Francke, 1992. ISBN 3-7720-1690-1
- Bernward Gesang. Eine Verteidigung des Utilitarismus. Stuttgart: Reclam, 2003. ISBN 3-15-018276-X
Weblinks
Deutsch
Englisch
- Onlinetexte von Jeremy Bentham
- John Stuart Mills Utilitarianism bei Project Gutenberg
- Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- http://www.utilitarian.com/
- Utilitarian Philosophers. Großes Kompendium von Schriften von und über bedeutende utilitaristische Philosophen, sowohl klassisch wie auch gegenwärtig.
- Utilitarian Resources. Gute Sammlung von Definitionen, Artikeln und Links.
- Utilitarianism. Ein kurzer Überblick zum Utilitarismus
- Rule Consequentialism From the Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Utilitarianism explained, applied and evaluated Aus der UK-Website RSRevision.com
- Utilitarianism FAQ Umfangreiches FAQ über Utilitarismus
Französisch