Selbstverletzendes Verhalten

Verhaltensweisen, bei denen sich Betroffene absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 6. Juli 2006 um 13:11 Uhr durch 212.204.77.21 (Diskussion) (Weblinks). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV) oder autoaggressivem Verhalten beschreibt man eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen. Häufig finden sich die Wunden von Schnitten o.ä. an Armen oder Beinen, aber auch andere Körperteile werden verletzt.

Bei selbstverletzendem Verhalten besteht in der Regel keine direkte Suizidabsicht, wenngleich betroffene Menschen häufig entsprechende Gedanken haben. Selbstverletzendes Verhalten ist oftmals, aber nicht immer, ein Symptom einer psychischen Erkrankung (v.a. Borderline-Persönlichkeitsstörung).

Arten

Es gibt verschiedene Arten der Selbstverletzung; häufig werden mehrere von einer Person angewandt. Zu den häufigsten zählen

  • das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sog. Ritzen) der Haut an den Armen und Beinen mit spitzen Gegenständen wie Rasierklingen, Messern, Scheren oder Scherben; eine Häufung der Narben ist am nicht-dominanten (Unter-)Arm zu finden, aber auch beide Arme können von Narben übersät sein, wie auch z. B. Bauch, Beine, Brust, Genitalien oder das Gesicht.
  • wiederholtes "Kopfschlagen" (entweder mit den eigenen Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
  • das Ausreißen von Kopfhaaren, Augenbrauen, Wimpern usw. (Trichotillomanie)
  • In-die-Augen-Bohren
  • Mit Nadeln (Sicherheitsnadeln etc.) stechen
  • Das Beißen in erreichbare Körperpartien, auch Abbeißen von Fingerkuppen und "Zerkauen" der Innenseite von Wangen oder Lippen
  • Verbrühungen mittels heißem Wasser/Verbrennungen mit Zigaretten (Zigarettenausdrücken auf Armen und Beinen, Verbrennen mit Bügeleisen, Hand über eine Kerze halten)
  • Eine andere Art ist die intravenöse, subkutane oder intramuskuläre Injektion von verschiedenen Mitteln (z.B. Lauge, Säure oder Spülmittel) in Venen oder anderen Körperteile
  • Äußerliche Verätzung des Körpers mit Chemikalien (z.B. Salzsäure, Schwefelsäure u.a.)

Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers Endorphine (Glückshormone) ausgeschüttet werden, die den Schmerz lindern, wie es bei körperlicher Anstrengung oder auch einer Geburt der Fall ist. Diese werden in Verbindung mit Adrenalin ausgeschüttet, da der Körper durch die Selbstverletzungen in eine starke Form des Stresses versetzt wird.

Es steht fest, dass eine Gewöhnung stattfindet, die extremere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte, großflächigere Verbrennung), um das "Glücksgefühl" zu verspüren.

Nicht immer allerdings werden Endorphine oder Adrenalin ausgeschüttet; bei "Beißern" tritt nicht die Form des Stresses auf, sondern genau das Gegenteil: Der Betroffene steht unter Druck. Besonders durch das Beißen im Mundinneren wird Stress, enormer Druck, abgebaut. Wie bei anderen Verletzungen auch werden die Wunden immer größer bzw. tiefer, um den (wiederum durch das Beißen provozierten und gesteigerten) Druck abbauen zu können. Überdies ist therapeutisch nicht eindeutig erwiesen, ob es sich bei autoaggressivem Verhalten um eine Art „Selbstbelohnungs- oder Selbstbestrafungstrieb” handelt.

Bei einer Multiple-Choice-Studie auf einer Homepage, die sich mit dem Thema befasst, wurde festgestellt, dass sich viele Menschen mit Selbstverletzendem Verhalten nicht auf eine Art der Selbstverletzung beschränken sondern auch diverse Methoden kombinieren:

Schneiden (Ritzen) wurde mit einer Häufigkeit von 72% angegeben, 35% verbrannten sich, 30% schlugen sich selbst, 22% verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22% kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10% gaben an, sich die Haare auszureißen und 8% brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.

Zahlen und Daten

Folgende statistische Angaben sind unter Vorbehalt zu betrachten, da sie Teils nur Schätzungen sind und/oder sich auf spezifische Gruppen beziehen und daher keine statistisch abgesicherten Ergebnisse liefern. Jedoch geben sie ausgeprägte und deutliche Tendenzen wieder.

Die Häufigkeit in Deutschland wird mit 0,7 % bis 1,5 % angegeben, was einer Anzahl von rund 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen entspricht. Überwiegend weibliche Personen sind von Autoaggression betroffen, die Angaben schwanken hier jedoch stark und werden mit 3:1 (Frauen:Männer) bis 9:1 (Frauen:Männer) angegeben.

Altersstruktur

Mehrheitlich liegt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr, das am häufigsten genannte Alter ist 13. In der Zeit der Pubertät ist also meistens der Auslöser zu suchen, das Verhalten tritt meist während der ohnehin emotional in der Regel sehr angespannten Phase der Pubertät (verlorene Liebe, Aggression gegen Eltern, etc.) auf. Die Ursachen bzw. Gründe werden meistens dagegen davor in der Kindheit gesucht. Demnach würden Konflikte, die dort nicht ausgetragen werden konnten, nun hervorbrechen und würden nun zum Auftreten des Selbstverletzenden Verhaltens führen.

Ein anderer Aspekt ist die Frage, ab welchem Alter aktiv nach autodidaktischer, ärztlicher und/oder psychologischer Hilfe gesucht wird. Aus fortlaufender Erhebung auf der Internetseite "Rote Tränen" ergibt sich etwa folgende Struktur direkt oder indirekt Betroffener, die die Bewältigung versuchen oder sich mit Alternativen beschäftigen:

  • ab ca. 11 bis 16 Jahre: 34%
  • 16 bis 18 Jahre: 29%
  • 18 bis 20 Jahre: 17%
  • 20 bis 24 Jahre: 13%
  • über 24 Jahre: 7%

Häufigkeit

  • 1 mal: 2%
  • 25 bis 50 mal: 23%
  • öfter als 50 mal: 75%

Angaben zum Aufschneiden der Haut entfiel zu 85% Prozent auf Extremitäten und 15% auf den Rumpf.

Umgang mit Betroffenen

Selbstverletzendes Verhalten bedarf keiner objektiv "schlimmen" Situation, sondern kann von psychischen Erkrankungen ausgelöst werden, die unabhängig von den objektiven Zuständen vorkommen können. Eine häufige spontane, zynische Reaktion - "Anderen geht es noch viel schlimmer" - verkennt gerade den Krankheitswert dieser Störung, und geht implizit von der irrational anmutenden Konsequenz aus, das Menschen in schlimmen Umständen zur Selbstverletzung neigten.

Während nur Fachpersonal die zugrundeliegenden Störungen kompetent therapieren kann, kann das familiäre und soziale Umfeld durch Vermeidung der Distanzierung und durch Sozialisierung in Krisensituationen zur Besserung der Symptomatik beitragen. Alle Versuche die Symptomatik zum Gegenstand einer Diskussion zu machen sind aufgrund des Krankheitswertes kontraproduktiv.

Möglichkeiten der Therapie

Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer Psychotherapie, welche im Durchschnitt zwei bis vier Jahre dauert. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer Heilung. 1/3 der betroffenen Menschen gelten als nicht therapierbar. Ein Mensch mit selbstverletzendem Verhalten gilt als davon geheilt, wenn er sich, wie bei anderen Suchtformen, fünf Jahre lang nicht mehr verletzt hat.

Zitate

  • Im Vergleich zum tiefen, dunklen, inneren Schmerz der Trauer, der Zerrissenheit, der Angst, welche sich im Bauch, in den Eingeweiden, im Hals und im Herzen ausbreitet, ist der umschriebene Schmerz eines Schnittes in der Haut eine Erleichterung. (Norbert Hänsli, 1996)
  • Narben haben die Kraft uns daran zu erinnern, dass die Vergangenheit Realität war (Hannibal in "Roter Drache")
  • Grenzen meines Körpers sind Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. (Jean Améry)

Rezeption

Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch immer wieder rezipiert worden, zum Beispiel vom österreichischen Aktionskünstler Günter Brus.

Eine zentrale Rolle spielt SVV auch in Elfriede Jelineks Roman "Die Klavierspielerin". Als Motiv kommt es in André Gides Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatikan) vor.

Weiterhin wurde das Thema auch von der Band Subway to Sally in ihrem Lied "Narben" aufgenommen, ebenso von der Band Goethes Erben im Lied "Rote Tränen" und auch die Band "Papa Roach" thematisiert in ihrem Lied "Last Resort" autoaggressives Verhalten. Auch wird SVV in "Scherenschnitt" von Samsas Traum oder "Du willst es doch auch" von Oomph! beschrieben. Ebenso in "Du bist nicht allein" von der Band Deine Angst, wo die Gedanken des autoaggressiven Selbstverletzers/-verletzerin sehr anschaulich dargestellt werden.

Auch in Filmen wird SVV thematisiert bzw. kommt autoaggressives oder selbstverletzendes Verhalten vor:
Zum Beispiel in Dreizehn, Secretary und Two days with Juliet verletzen sich die Hauptcharaktere selbst. In Durchgeknallt und 28 Tage wird dieses Verhalten an einem Nebencharakter gezeigt.

Literatur

  • Ackermann, Stefanie: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen (Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2002)
  • Hänsli, Norbert: Automutilation - Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis, Verlag Hans Huber Ber, Göttingen 1996
  • Rohmann, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten - Überlegungen, Fragen und Antworten (1998)
  • Sachsse, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten - Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung (6te Auflage 2002)
  • Smith, Gerrilyn et al: Selbstverletzung - Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen (2000)
  • Smith, Mike: Hilfen für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten (2000)
  • Strong, Marilee: A Bright Red Scream: self-mutilation and the language of pain (1999, Penguin Books)
  • Teuber, Kristin: Ich blute, also bin ich. Selbstverletzung der Haut von Mädchen und jungen Frauen. (Herbolzheim: Centaurus Verlag 2000)
  • Hettinger, Jochen: Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation : die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen (1996)
  • Mühl, Heinz et al: Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung : ein Lehrbuch aus pädagogischer Sicht (1996)
  • Noel, Vincent Sarah-Vom Ende meines langsamen Abschieds : Hilft Betroffenen und nicht Betroffenen besser zu verstehen (2005)
  • Levenkron, Steven: Der Schmerz sitzt tiefer: Selbstverletzung verstehen und überwinden (2001)

Hilfe/Selbsthilfe allgemein

SVV-bezogene Websites