Wenn man über Homosexualität im Neuen Testament spricht, ist zuerst der Begriff Homosexualität zu definieren. Denn der heutige Begriff der Homosexualität und das damit verbundene Konzept von Homosexuellen als einer besonderen Gruppe von Menschen existierten zur Zeit der Abfassung der Bibel nicht. Diese Denkweisen entstanden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Das Neue Testament stellt Zärtlichkeit und innige Liebe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts entweder gänzlich neutral oder stark romantisierend dar (siehe den Abschnitt über das Johannes-Evangelium). Sexuelle Handlungen sind dabei nirgends erwähnt. Ob das ihrer Missbilligung gleichkommt, ist zwischen konservativen und progressiven Exegeten heftig umstritten. Einzig Paulus lässt an seiner Ablehnung gleichgeschlechtlicher Begierden keinen Zweifel aufkommen.
Paulus
Römerbrief 1,26-27
Paulus betrachtet im Römerbrief den mannmännlichen Beischlaf als ein Kennzeichen der Heiden. So wie die Menschen in ihrer Religion Geschöpfe statt des Schöpfers verehrten, habe der Schöpfer sie zur Strafe der schändlichen "Vertauschung" ihrer Leidenschaften überlassen:
- "Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung." (Röm 1,26-27/32-33).
Bemerkenswert ist, dass der gleichgeschlechtliche Verkehr als Folge, nicht als Ursache der Ablehnung Gottes dargestellt wird. Ob sich der erste Satz auf lesbische Sexualität oder auf männlich-weiblichen Analverkehr bezieht, ist umstritten, da bei der Rede vom natürlichen Verkehr der Frauen die Präzisierung "mit Männern" fehlt. Viele weisen darauf hin, dass männliche und weibliche "Homosexualität" in der Antike nur sehr selten analogisiert wurden und dass das Alte Testament sich zu lesbischen Handlungen überhaupt nicht äußert.
Vielfach hängt die Entscheidung dieser Frage davon ab, welches Weltbild man Paulus unterstellt. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Positionen. Konservative Ausleger sehen seine ablehnende Haltung gegenüber homosexuellen Akten in der alttestamentlichen Konstruktion einer Geschlechterpolarität zwischen Mann und Frau begründet. Beide seien durch die "natürliche Schöpfungsordnung" geschlechtlich aufeinander verwiesen. Würden dagegen Männer mit Männern und Frauen mit Frauen verkehren, vergingen sie sich am Willen Gottes. (Ob die Tora die Geschlechter wirklich so polar konstruiert, wird allerdings auch angezweifelt. Vgl. hierzu Intersexualität: kulturelle Aspekte.)
Progressive Ausleger führen Paulus' restriktive Haltung zur menschlichen Sexualität dagegen eher auf den griechischen Platonismus zurück. Diese Auffassung stützt sich vor allem auf die Tatsache, dass er an dieser Stelle den Begriff "widernatürlich" [gr. para physin, wörtl. über die Natur hinaus] verwendet. Dieser Begriff lässt sich erstmals in Platons Werk Nomoi belegen und wurde später von dem jüdisch-hellenistischen Denker Philo von Alexandria aufgegriffen, der auf die späten Schriften des Neuen Testaments großen Einfluss ausgeübt hat. So lehnt Philo jeden sexuellen Verkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, als "widernatürlich" ab. Darunter fasst er einerseits den mannmännliche Beischlaf, andererseits aber auch den nicht-koitalen Verkehr zwischen Mann und Frau (damals oft die einzige Form der Empfängnisverhütung). Daher vertreten progressive Ausleger die Ansicht, dass Paulus mit seiner Positionierung gegen den "widernatürlichen Verkehr" von Frauen sämtliche sexuelle Praktiken gemeint haben könnte, die nicht der Zeugung von Nachkommen dienen. Diese lustfeindliche Haltung steht in einem deutlichen Gegensatz zur jüdischen Tradition, die den sexuellen Verkehr im Rahmen der Gesetze auch um seiner selbst willen heiligt (vgl. das Hohelied Salomos).
Zusätzlich muss man beachten, dass das ganze 1. Kapitel des Römerbriefs eine sehr stark rhetorisch gestaltete Passage ist. Im griechischen Originaltext ist dies klarer zu erkennen als in den Übersetzungen. Insofern ist Paulus hier wohl weniger an der Ausbreitung einer detaillierten Lehre über homosexuelle Handlungen interessiert, vielmehr dient ihm die (von seinen Adressaten wohl geteilte) Verurteilung derselben nur als ein kleines Teilstück eines großen "Rundumschlags" gegen das, was er und seine Adressaten als insgesamt unhaltbare Zustände empfanden.
Eine Minderheit, z.B. Detering sagen, dass der Abschnitt von Römer 1:19 bis 2:1, also einschließlich 1:26 und 1:27 wahrscheinlich nicht aus der Hand des Apostels stamme sondern eine spätere katholische Einfügung sei. Siehe hierzu auch Hermann Detering "Die ursprüngliche Gestalt des Römerbriefes, Berlin 2003; W.C. van Manen, Universität Leiden "The Epistle to the Romans" in Encyclopaedia Biblica (New York: Macmillan, 4 Vols., 1899-1903) und Bart D. Ehrmann in "The Orthodox Corruption of Scripture".
Erster Korintherbrief und Erster Brief an Timotheus
Neben dem Römerbrief gibt es auch zwei weitere Stellen, an denen mannmännlicher Beischlaf verurteilt wird. So heißt es im ersten Korintherbrief (und ähnlich im ersten Brief an Timotheus, 1.Tim 1, 9-10):
- "Wißt ihr denn nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben (griechisch μαλακοι, malakoi), noch Knabenschänder (griechisch αρσενοκοιται, arsennokoitai), noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben." (1.Kor 6,9 Einheitsübersetzung).
Die Begriffe, die der Autor im griechischen Original benutzt, sind arsenokoitai und malakoi. Bei ersterem handelt es sich um ein Kunstwort, das im damaligen Sprachgebrauch nicht existierte. Es bedeutet wörtlich ungefähr "Mannbeischläfer". Malakos dagegen bedeutet eigentlich nur "weich" und ist jahrhundertelang unter Protestanten als Anspielung auf die Masturbation verstanden worden. Im Altgriechischen lässt sich das Wort hin und wieder als Bezeichnung für einen Knaben finden, der an passivem Analverkehr Gefallen findet. Die Einheitsübersetzung (im NT ökumenisch), welche von "Lustknaben" und "Knabenschändern" spricht, deutet diese Begriffe daher altersbezogen in Richtung einer Verurteilung der Päderastie.
Dies sind die einzigen Belegstellen des Neuen Testaments, die sich ausdrücklich gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr aussprechen.
Einige progressive Ausleger, die zwischen Paulus und Jesus einen starken Gegensatz postulieren, führen dagegen eine Reihe von Versen aus den vier Evangelien an, um diese Haltung als eine Folge von Paulus' radikaler Leibfeindschaft darzustellen. Andere betonen, dass Paulus im Römerbrief übliche jüdische Vorwürfe an Heiden verwendet, die kulturell bedingt sind, wie z.B. die Empfehlung des Schleiertragens (1 Kor 11).
Matthäus
Es muss vorangesetzt werden, dass das Matthäus Evangelium von der biblischen Textforschung einem unbekanntem Matthäus 2. oder 3. Generation ca. 80 bis 100 Jahre nach Christus zugeschrieben wird. Der Verfasser ist nicht der Apostel Matthäus.
Mt 5,22
Beispielsweise wird folgende, von den meisten Exegeten als neutral angesehene Stelle aus der Bergpredigt von einzelnen Autoren als Verurteilung von Homophobie ausgelegt:
- "[...] wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein." (Mt 5,22).
Nach dieser These könnte es sich dabei um eine Fehlübersetzung handeln. Wo "Dummkopf" übersetzt wurde, steht im Original "raca". Die Einheitsübersetzung führt diesen Begriff auf das aramäische Wort reyqah zurück, das "hohl" (bzw. "Hohlkopf") bedeutet. Aus phonetischen Gründen liegt jedoch das Wort rakha näher. Es ist das hebräische Äquivalent zu malakos (weich, effeminiert) und kann auch in einem sexuellen Kontext gebraucht werden. Wo die katholische Einheitsausgabe hingegen "Narr" übersetzt, steht im Original "moros". Moros kann sicher vieles bedeuten, u.a. auch "dumm" (vgl. Oxymoron). Manche weisen jedoch darauf hin, dass es sich ebenso auf einen (homo)sexuellen Aggressor bezieht. Diese Bedeutung läge nicht nur deshalb nahe, weil sie die heftige Reaktion von Jesus auf dieses Schimpfwort besser erklären würde, sondern auch weil moros mit rakha zusammen so auf einmal ein logisches Wortpaar ergibt, welches ähnlich wie das von Paulus die aktive und passive Rolle während des mannmännlichen Beischlafs bezeichnet hätte. Diese Stelle wird daher von wenigen sehr progressiven Auslegern als eine Verurteilung von antihomosexueller Denunziation gelesen.
Mt 8,8
Diese äußerst umstrittene Auslegung wird auch damit in Verbindung gebracht, dass Jesus den "Knaben" [gr. pais] eines römischen Hauptmanns heilte, der gelähmt und mit großen Schmerzen zu Hause lag: "Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knabe gesund." (Mt 8,8). Die Einheitsübersetzung gibt pais mit "Diener" wieder, obwohl das Wort wie auch die ganze Geschichte auf eine sehr emotionale Beziehung zwischen den beiden hinweist. Einige stellen sie daher in den für damalige Zeiten nicht gerade fern liegenden Kontext der Päderastie, deren Name sich ebenfalls von pais ableitet. Falls diese Interpretation zuträfe, hätte Christus keinen Anstoß an der so genannten Knabenliebe genommen. Denn er zitiert den Hauptmann, den er für seine Glaubensfestigkeit lobt, sogar als Beispiel dafür, dass dereinst auch viele Nichtjuden "mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen" würden (Mt 8,11).
Mt 19,12
Häufig wird auch folgender Vers in einen Zusammenhang mit Homosexualität gebracht:
- "Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig (griechisch ευνουχος, eunouchos), manche sind von den Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen." (Mt 19,12).
Ob sich die erste Kategorie nun wirklich auf "geborene Homosexuelle" bezieht, wie manche behaupten, lässt sich dem Text nicht entnehmen. Dennoch nimmt Christus damit eine deutliche Einschränkung des mosaischen Ehegebots vor, welches lautet:
- "Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und sie werden ein Fleisch." (Gen 2,24).
Diesen Satz will Jesus ausdrücklich nicht als eine für alle gültige Aussage gelten lassen, denn eine Reihe von Personen seien nicht für eine dauerhafte Bindung an das andere Geschlecht geschaffen worden. Ihnen rät er von der Ehe ab.
Johannes (13,21-25)
Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge stammt das Johannes-Evangelium nicht aus der Feder des Apostels Johannes. Der Text wurde von einem unbekannten Johannes ca. 80 - 125 Jahre nach Christus verfasst.
Das Johannes-Evangelium diente bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit als Verweisstelle, mit der zwei Personen des gleichen Geschlechts ihre Liebe füreinander begründen konnten. Dort heißt es:
- "Nach diesen Worten war Jesus im Innersten erschüttert und bekräftigte: Amen, amen, das sage ich euch: Einer von euch wird mich verraten. Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wußten, wen er meinte. Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es?" (Joh 13,21-25)
Dieser Jünger wird im Johannes-Evangelium stets nur als "der, den Jesus liebte" angesprochen. Nach traditioneller Sicht handelt es sich um den Evangelisten Johannes selbst. Im Mittelalter betrachtete man Jesus und Johannes (genau wie die biblischen Gestalten David und Jonathan) als "geschworene Brüder". Die christlichen Mystiker sahen in dieser Liebe die spirituelle Vereinigung zwischen Mensch und Gott verwirklicht.
In der frühen Neuzeit wurde des Öfteren auf Jesus und Johannes Bezug genommen, um die Existenz intimer Freundschaften zwischen Männern zu rechtfertigen, die ab dem 17. Jahrhundert immer stärker unter Druck gerieten. So antwortete beispielsweise König Jakob I. im Jahr 1617 auf die Vorwürfe des englischen Parlaments, das ihn wegen seines Verhältnisses zu George Villiers attackierte:
- "Ihr könnt sicher sein, dass ich den Herzog von Buckhingham mehr als jeden anderen liebe und mehr als euch, die ihr hier versammelt seid. Ich wünsche für mich selbst zu sprechen und nicht, dass dies für einen Mangel gehalten wird, denn Jesus Christus hat dasselbe getan und daher kann ich nicht beschuldigt werden. Christus hatte seinen Sohn Johannes, und ich habe meinen George."
Auch heute wird das Johannes-Evangelium wieder herangezogen, um die gleichgeschlechtliche Liebe gegen religiöse Angriffe zu verteidigen. So hat der methodistische Theologe Theodore Jennings ein Buch verfasst, in dem er unter Verweis auf weitere Stellen aus den Evangelien behauptet, dass der Mann, den Jesus liebte, dessen "schwuler Freund" gewesen sei. Diese Betrachtungsweise ist jedoch ahistorisch. In früheren Zeiten war Zärtlichkeit und die innige Liebe zwischen zwei Freunden etwas völlig Selbstverständliches. Es ist daher nicht möglich, zwischen "normalen" und "schwulen" Freundschaften zu unterscheiden. Ob zwei Freunde nun Sex miteinander hatten (wie etwa der Kirchenvater Augustinus in seiner Jugend) oder nicht, lässt sich nach außen kaum sagen.
Markus: eine möglicherweise gestrichene Passage
Das Geheime Markus-Evangelium, eine Variante des heute gebräuchlichen Markus-Evangeliums, dient einigen Autoren als Hinweis auf eine körperliche Beziehung zwischen Jesus und Lazarus. Obwohl das Geheime Markus-Evangelium selbst verloren gegangen ist, sind uns zwei Fragmente daraus durch einen Brief des Kirchenvaters Clemens von Alexandria erhalten geblieben. In einem heißt es:
- "Aber der Jugendliche blickte [Jesus] an und liebte ihn und begann ihn zu ersuchen, dass er mit ihm sein möge. [...] Und nach sechs Tagen sagte ihm Jesus, was zu tun wäre, und am Abend kam der Jugendliche zu ihm, ein Leinentuch um seinen nackten Körper. Und verbrachte die Nacht mit ihm, denn Jesus lehrte ihn das Geheimnis des Reichs Gottes."
Nach Ansicht einiger Wissenschaftler befand sich diese Passage ursprünglich zwischen Mk 10,34 und Mk 10,35 und wurde später von den Kirchenvätern zensiert. Andere Wissenschaftler vertreten dagegen die umgekehrte Ansicht, dass diese Stelle nicht herausgekürzt, sondern im ersten oder zweiten Jahrhundert nachträglich hinzugefügt wurde. Je nach Forschungsmeinung wird daher entweder das "offizielle" oder das geheime Markus-Evangelium für das ältere und damit nicht selten auch für das authentischere Evangelium gehalten.
Judasbrief Vers 7
Der Brief wird von der Textforschung als "pseudoepigraphisch" eingeordnet. Der unbekannte Verfasser (ca. 140 n.C.) benutzt den Namen Judas Thaddäus als Pseudonym, d.h. der Autor des Briefes ist nicht der Apostel Judas Thaddäus.
Der dem Apostel Judas Thaddäus zugeschriebene letzte Brief des Neuen Testaments enthält einen Verweis auf das Alte Testament:
- "Auch Sodom und Gomorrha und die umliegenden Städte sind ein Beispiel: In ähnlicher Weise wie jene trieben sie Unzucht und wollten mit Wesen anderer Art verkehren [wörtlich: sie liefen anderem Fleisch nach]; daher werden sie mit ewigem Feuer bestraft." (Jud 7 Einheitsübersetzung)
Nach herkömmlicher Tradition wird dieser Vers jedoch weniger als Anspielung auf den mann-männlichen Koitus, sondern als Verurteilung von Bestialität verstanden – eben dem Verkehr mit "Wesen anderer Art", wozu neben den (männlichen) Engeln, die in der Sodom-Geschichte (Gen 19) erwähnt sind, später auch der Teufel und seine Dämonen sowie vor allem Tiere gerechnet wurden (so etwa bei Thomas von Aquin). Manche neuere Exegeten mit fundamentalistischer Ausrichtung sehen diesen Vers gleichwohl als eine weitere Belegstelle für die biblische Verurteilung von "Homosexualität". Allerdings hebt der Originaltext eindeutig den Verkehr mit anderem Fleisch als das Vergehen der Sodomiter hervor, was einer solchen Interpretation offenkundig widerspricht.
Heutige Einordnung
Heute ist Homosexualität im Christentum und innerhalb von vielen Konfessionen ein sehr kontroverses Thema. Die Haltung der einzelnen Richtungen, Theologen und Christen ist dabei in vielen Fällen, unabhängig von der Konfession, durch ihre Sicht der Bibel geprägt. Eine traditionelle Bibelauslegung sieht praktizierte Homosexualität als Widerspruch zur biblischen Aussage, eine liberale Auslegung sieht keinen Widerspruch zwischen Bibel und praktizierter Homosexualität. In der Bibel selbst allerdings spielt diese Frage bestenfalls eine Nebenrolle. Für die ersten Christen war es offensichtlich kein zentrales Thema -- ähnlich wie andere heute innerkirchlich heftig diskutierte Themen, z.B. die Empfängnisverhütung.
Die traditionelle katholische, evangelikale und orthodoxe Position, die in dieser Debatte eine antihomosexuelle Position bezieht, kann sich im Rahmen des Neuen Testaments allein auf Paulus berufen, dessen Sichtweise von Homosexualität allerdings mit der des mosaischen Gesetzes übereinstimmt.
Kritiker der traditionellen Position gehen davon aus, die paulinischen Aussagen zum sexuellen Verkehr zwischen Männern ließen sich nicht von seiner gesamten Haltung zur menschlichen Sexualität trennen. So habe er selbst aus Überzeugung zölibatär gelebt, die sexuelle Vereinigung habe für ihn, wenn, dann ausschließlich in die Ehe gehört (1.Kor 7,1-8), alles andere war Unzucht. Die sexuelle Vereinigung von Männern (und je nach Auslegung auch Frauen) war für ihn, wie z.B. auch Geiz, Neid, Lieblosigkeit oder Treulosigkeit eine Folge der Abkehr von Gott (Röm 1, 26-32). Dieser Gesamtkontext von Paulus' Aussagen werde in den einschlägigen Diskussionen häufig nicht zur Kenntnis genommen, da sie seine Haltung zum mannmännlichen Beischlaf relativiere. Eine solche selektive Lektüre zeuge -- so meinen manche Kritiker -- eher von dem Versuch, die Bibel für eine nachträgliche Begründung der eigenen Homophobie heranzuziehen, als dass ihre Aussagen wirklich ernstgenommen würden.
Eine dritte Position wird hingegen von Religionskritikern vertreten. Sie halten die ganze Debatte für antiaufklärerisch. Die Beteiligten bedienten sich nicht ihres eigenen Verstandes, sondern eines zweitausend Jahre alten Textes, um gleichgeschlechtlichen Sex moralisch einzuordnen. Kritisiert wird, dass Fundamentalisten ihre Interpretation der Bibel zum Maßstab für die Gesellschaft als ganzes erheben wollten. In zahlreichen Ländern sei der christliche Einfluss nicht nur für antihomosexuelle Gesetze, sondern auch für gewalttätige Übergriffe auf Lesben und Schwule verantwortlich. Das Ziel müsse es daher sein, sich für eine Ausgrenzung der Religion aus der öffentlichen Debatte einzusetzen und die Interpretation der Bibel den Altertumswissenschaften zu überlassen.
Literaturverweise
- John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. 1981. ISBN 0226067114.
- Daniel A. Helminiak: What the Bible Really Says About Homosexuality. 2000. ISBN 188636009X.
- Theodore W. Jennings: The Man Jesus Loved: Homoerotic Narratives from the New Testament. 2003. ISBN 082981535X.
- Holger Tiedemann: Die Erfahrung des Fleisches: Paulus und die Last der Lust. 1998. ISBN 3-87173-162-5.
Siehe auch
- Homosexualität im alten Testament
- Homosexualität und Religion
- Sodomiterverfolgung
- Schwurbruderschaft
- Kontextuelle Exegese
- John Boswell
- Ex-Gay-Bewegung
zugehöriges Portal
Weblinks
Hinweis: Die folgende Auswahl von Links verweist auf Webseiten, die jeweils einen bestimmten - unter Umständen nicht neutralen - Standpunkt vertreten. Die Wikipedia erhebt nicht den Anspruch, dass alle denkbaren Standpunkte in der folgenden Auswahl enthalten sind, und nimmt keine Bewertung dieser Standpunkte vor. Zur Orientierung sind nach den Links kurze Kommentare eingefügt, die die Meinung der jeweiligen Autoren andeuten.
- Biblische Weisungen zur Homosexualität? Katholisches Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Schrift
- http://www.ekd.de/EKD-Texte/2091_spannungen_1996_2.html EKD: Die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität - Evangelischer Vermittlungsversuch, 1996
- http://www.freeingthespirit.org/Homosexuality%26Bible.htm Homosexuality & the Bible - Untersuchung sämtlicher Bibelstellen aus einer pro-Homosexualität-Sicht (engl.)
- http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/bibel/homosex3.html Bibel und Homosexualität - Evangelikale Entgegnung auf progressive Ansichten
- http://www.ibka.org/artikel/ag02/bibel.html Unerfreuliche Bibelstellen zusammengetragen vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten
- http://www.huk.org/allgem/bibel.htm Erklärungen auf HuK (Homosexuelle und Kirche) von Pfarrer Leo Volleth aus Ismaning bei München