Islam in Polen, Litauen und Belarus
Polen gilt nach dem Vatikanstaat als das „katholischste Land Europas“, der Islam in Polen spielt eine scheinbar ungeordnete Rolle. Tatsächlich beträgt die Zahl der Muslime in Polen nur 30.000, was einem Bevölkerungsanteil von weniger als 0,1% entspricht.
Seit 600 Jahren aber gibt es in Polen eine kleine Minderheit einheimischer Muslime.
Polnische Tataren
Fernab Polens, an der Wolga, war ab 1380 die Herrschaft der tatarischen Goldenen Horde durch eine Teilniederlage gegen die Moskowiter Russen und einen Vernichtungsfeldzug Tamerlans schwer erschüttert worden. In die darauf folgenden innertatarischen Machtkämpfe mischte sich auch Polen-Litauen ein. Nachdem Tamerlan die mit Litauen verbündeten Tatarenkhane vertrieben hatte, stellte sein General Edigü die Goldene Horde wieder her. Mit Hilfe der Litauer versuchte Ex-Khan Toktamisch zurückzukehren, doch das vereinte litauisch-tatarische Heer unter Großfürst Vytautas wurde 1399 von Edigu in der Schlacht an der Worskla entscheidend geschlagen.
Toktamischs Tataren fanden in Polen-Litauen Aufnahme, sein Sohn Dschalal ad-Din verhalf mit seiner leichten Reiterei den Polen 1410 in der Schlacht bei Tannenberg zum Sieg über die schwergepanzerten deutschen Ordensritter. Nach weiteren vergeblichen Versuchen, Dschalal ad-Din oder seine Brüder als Khane an der Wolga zu inthronisieren, schloß Polen-Litauen 1418 Frieden mit Edigü.
Nach der russischen Eroberung der Tataren-Khanate an der Wolga und der Zurückdrängung auch der Krimtataren kamen im 16. Jahrhundert weitere Tataren und Nogaier ins Land, im 17. Jahrhundert soll ihre Zahl bereits 200.000 betragen haben. Als polnische Hilfstruppen kämpften 15.000 von ihnen verzweifelt gegen Russen, Schweden und ukrainische Kosaken, siedelten zunächst in der westpolnischen Region Lipka (Großpolen, Posen) und nahmen sich polnische Frauen, ohne jedoch den sunnitischen Islam aufzugeben.
Allmählich wurden die Tataren nahezu vollständig assimiliert, polonisiert und verwestlicht. Noch im 20. Jahrhundert kämpften sie auf polnischer Seite gegen Sowjetrußland sowie Nazideutschland und zählen heute etwa 5.000 Nachfahren vor allem in der Region Bialystok. Einige Tausend weitere polnische Tataren leben in Litauen (Tataren-Museum in Vilnius) und Weißrußland, stets in friedlicher Nachbarschaft mit polnischen Katholiken und unter völliger Gleichberechtigung der religiös und politisch aktiven Frauen, die sogar Gemeindefunktionäre sind. Ein Großteil der polnischen Tataren ist jedoch auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Großstädte Warschau, Danzig, Breslau, Lublin und Bialystok abgewandert, wo sie sich zunehmend mit muslimischen Immigranten vermischen. Nur 500 von ihnen betrachten sich noch heute als „reine“ Tataren statt als Polen.
Lipka-Rebellion
Bereits 1526 hatte Polen-Litauen seinen um 1400 erworbenen ukrainischen Zugang zum Schwarzen Meer (Jedisan) an die osmanischen Türken verloren, siehe auch Islam in der Ukraine.
Unter dem Druck der (seit 1596 anhaltenden) Katholisierung lief bei Ausbruch des Krieges zwischen Polen und dem Osmanischen Reich 1672 ein Teil des 3.000 Mann starken tatarischen Lipka-Regiments zu den Türken über und übergab ihnen die ukrainischen Städte Bar und Kamieniec-Podolski. Ein anderer Teil aber hielt an der Waffenbrüderschaft mit den Polen fest, wofür ihnen König Jan Sobieski 1679 zwei ostpolnische Dörfer (Bohoniki und Kruszyniany, später auch Sokółka) nahe Bialystok als Siedlungsgebiet schenkte und eine Generalamnestie für alle Tataren erließ. Polen hatte so den Rücken frei für die Schlacht um Wien (1683) und den Krieg um Ungarn. Schon 1699 schließlich gewann es Podolien wieder zurück.
Die Lipka-Rebellion bildete den Hintergrund für den historischen Roman „Pan Wołodyjowski“ (auch als Film) des polnischen Nationaldichters Henryk Sienkiewicz.
Während der Türkenkriege unterstützte 1768-1772 das Osmanische Reich einen Aufstand polnischer Patrioten, die sich in der Konföderation von Bar gegen Russland und ihren eigenen (prorussischen) König zusammengeschlossen hatten. Da Österreich den Sieg Russlands über die Türkei schmälern wollte, "vermittelte" Preußen zum Ausgleich die Teilungen Polens. 1945 fiel ein Teil des tatarischen Siedlungsgebietes in Polen an die Sowjetunion.
Muslimische Immigranten
Den Großteil der Muslime in Polen machen jedoch nicht Tataren, sondern vor allem türkische und arabische Einwanderer aus. Rund 25.000 ausländische Muslime leben heute in Polen, so Brockhaus (2006).
Einzigartig für Europa ist ein 1997 gebildeter Katholisch-Islamischer Rat, der für einen interreligiösen Dialog eintritt und sowohl von polnischen Bischöfen als auch vom saudischen Königshaus gefördert wird.
Siehe auch
Weblinks
- Lipka-Tatars (englische Wikipedia)
- Bohoniki (polnische Wikipedia)
- Polens Katholiken beteten für Frieden am "Tag des Islams"
- Seit Jahrhunderten Muslime in Polen
- Muslime an der Ostsee
- Islam w Polsce (Islam in Polen, polnisch)
- Islam in Warschau (englisch)
- Stella Brozek (Human Rights Without Frontiers): Islam in Poland (PDF)
- Arabischer Islam in Polen (englisch, polnisch, arabisch und schwedisch)
- Farrukh Younus: In Search of the Tartar Muslims of Poland (englisch)