Präventivkriegsthese

Behauptung, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 habe einen sowjetischen Angriff verhindert
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Die Präventivschlagthese (auch Präventivkriegsthese) besagt, der Angriff auf die Sowjetunion durch Hitler-Deutschland am 22. Juni 1941 sei in der Absicht erfolgt, einem drohenden Angriff der Roten Armee zuvor zu kommen.

Hintergründe

Die Präventivschlagsthese wurde schon von der nationalsozialistischen Propaganda verbreitet, die den Angriff als „Vorsichtsmaßnahme“ bzw. als Reaktion auf einen sowjetischen Aufmarsch rechtfertigte[1]. Sie findet heute vor allem unter Nationalisten und Rechtsextremisten Unterstützung und gilt als typisches Element des Geschichtsrevisionismus. In der Geschichtsforschung wird die These jedoch mehrheitlich abgelehnt.

In den 90er Jahren erfuhr die Präventivschlagthese kurzzeitg neuen Auftrieb, als Historiker wie Werner Maser bis dahin unbekannte Dokumente aus sowjetischen Archiven veröffentlichten. Aber auch diese Dokumente konnten die Existenz eines konkreten sowjetischen Angriffsplans für den Sommer 1941 nicht schlüssig belegen. Nach weitgehend anerkanntem Forschungsstand scheute Stalin seit 1940, nach den raschen Siegen Hitler-Deutschlands in Westeuropa, vor einem Kriegseintritt auf Seiten Englands zurück. Da sich an der militärisch ungünstigen Lage seines Landes bis Sommer 1941 nichts Wesentliches geändert hatte, halten die meisten Historiker einen sowjetischen Angriffsplan zumindest für diesen Zeitpunkt für äußerst unwahrscheinlich.

Ein weiterer Einwand gegen die Präventivschlagthese ist, dass Hitler bereits in seinem Buch „Mein Kampf“ einen Krieg gegen Russland als Ziel seiner Politik dargestellt hatte, neuen „Lebensraum“ im Osten zu erobern. Darüber hinaus hat er vor und nach 1941 mehrfach geäußert, dass der Krieg gegen die Sowjetunion und den Bolschewismus zu seinen ureigenen Zielen gehörte. Gegen die These, Hitler sei Stalin nur im letzten Moment zuvorgekommen, spricht auch, dass die Entscheidung für den Überfall auf die UdSSR schon im Sommer des Vorjahres fiel und der geplante Angriff vom Herbst 1940 auf das Frühjahr und schließlich noch einmal auf den Sommer 1941 verschoben wurde. [2].

Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 wurde von beiden Diktatoren geschlossen, um Zeit zu gewinnen. Beide waren gewillt, den Nichtangriffspakt bei einer sich bietenden günstigen Gelegenheit zu brechen. Im Sommer 1941 war die Situation für Hitler-Deutschland günstig, nicht jedoch für die Sowjetunion. Stalin tat im Gegenteil alles, um Hitler keinen Vorwand für einen Angriff zu bieten und achtete darauf, dass die UdSSR ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Deutschland exakt einhielt. So fuhren sowjetische Getreidetransporte noch am Tag des Angriffs in deutsch kontrolliertes Gebiet, als die Wehrmacht die Grenzen der Sowjetunion bereits überschritten hatte.


Befürworter und Kritiker

Zu den Hauptvertretern der Präventivschlagsthese gehören in Deutschland Joachim Hoffmann, Werner Maser, Walter Post und Ernst Topitsch, in Russland vor allem Viktor Suworow.

Der deutsche Historiker Werner Maser hält es für belegt, dass sowohl Hitler als auch Stalin Präventivkriege gegeneinander planten, und Hitler dabei Stalin lediglich zuvorkam: "Dass Stalin nicht nur einmal einen Krieg gegen Hitler führen wollte, ist zweifelsfrei belegbar. Nachgewiesen werden kann aber auch, dass er die sowjetischen Vorbereitungen für den Krieg gegen Deutschland zumindest seit Ende Dezember 1940 als notwendige Massnahme zur Auslösung eines Präventivkrieges bezeichnen konnte, wie es auf deutscher Seite 1941 ebenfalls eindeutig der Fall war." [3]

Dieser Interpretation Masers schließt sich die Mehrheit der internationalen historischen Forschung nicht an. Als Kritiker der Präventivschlagsthese treten in Deutschland vor allem Wigbert Benz, Biana Pietrow-Ennker und Gerd R. Ueberschär in Erscheinung. Auf internationaler Ebene haben sich Gabriel Gorodetsky und David M. Glantz kritisch mit der These beschäftigt.

Weitere Argumente Pro und Contra

Von den Befürwortern der Präventivschlagthese wie z.B. Maser wird vorgebracht, dass zu Beginn des Krieges sowjetische Kampfflugzeuge für den Offensivaufmarsch der Sowjetarmee dicht an dicht aufgereiht "wie zum Appell" in Grenznähe vorgefunden worden seien, und nicht, wie sie es für den Verteidigungsfall für notwendig halten, viel weiter im Hinterland der UdSSR, desgleichen Munition, Waffen und Treibstoff. Minenfelder, Stacheldrahtverhaue und Sprengvorrichtungen, die vorher von den sowjetischen Truppen zu Verteidigungszwecken in Grenznähe angelegt worden waren, seien von ihnen demontiert worden, um die eigene geplante Offensive nicht zu behindern..[4]

Als Argument für die Präventivschlagthese wurde auch der schnelle Vorstoß der deutschen Truppen in den ersten Wochen des Unternehmens Barbarossa und die hohen Zahlen an Gefangenen vorgebracht. Dies zeige, dass sich die sowjetischen Truppen bereits in den Vorbereitungen zu einer Offensive befunden hätten und somit nicht defensiv hätten agieren können. Einen Beweis für diese Behauptung gibt es jedoch nicht.

Dem widersprechen zudem Äußerungen führender deutsche Militärs schon während des Krieges. Erich von Manstein stellte beispielsweise fest, dass es sich bei der russischen Truppenaufstellung nicht um einen offensiven Aufmarsch gehandelt habe. Er bezeichnete sie vielmehr als einen „Aufmarsch für alle Fälle“. Oder auch die Schwierigkeiten der Wehrmacht beim Durchbruch durch die sogenannte Stalinlinie Ende Juli 1941, als der Vormarsch bedenklich ins Stocken geriet.

Für die hohen sowjetischen Verluste gibt es zahlreiche Erklärungen:

  • Die Säuberungen des Offizierskorps 1937 beraubten die Armee um Marschall Tuchatschewski fast seines gesamten Führungsstabes bis hinunter zu den Brigadekommandeuren. Derartig führungslos, war die Kampfkraft entscheidend geschwächt, was sich schon im Winterkrieg dramatisch zeigte. In der entscheidenden Phase der Operation, vor Moskau, wurden die überlebenden Militärs aus den Straflagern geholt und auf Bewährung eingesetzt. Dies steigerte im entschiedenen Moment die Kampfkraft gegen einen geschwächten Gegner.
  • Stalin wollte seinen Gegner nicht provozieren, weshalb die Verteidiger keine vorgeschobenen Verteidigungspositionen, zum Beispiel am Bug einnehmen konnten.
  • Der sowjetische Nachrichtendienst war zwar umfassend über die deutschen Pläne informiert, diese Informationen waren aber so vollständig, dass Stalin diese Informationen für gefälscht hielt. Dies führte zu einer vollständigen Negation der deutschen Angriffsvorbereitungen. Deshalb war die Truppe nur friedensmäßig organisiert und wurde deshalb vom Alarm völlig überrascht.
  • Der Blitzkrieg setzte auf ein schnelles Vorstoßen motorisierter und gepanzerter Verbände in den Rücken des Gegners, was den Gegner schockiert und dadurch verteidigungsunfähig macht. Eine Gegenmaßnahme gegen die Panzerverbände sind massierte Panzergegenstöße. Zu dieser Zeit wurden die russischen Panzer jedoch als Infanterie-Unterstützungswaffe angesehen und wurden einzeln oder in kleinen Gruppen wirkungslos geopfert. Dies haben die deutschen Strategen wie Heinz Guderian schon früh erkannt: „Nicht kleckern, klotzen“. Gegen die deutschen Panzerverbände massiert eingesetzt, hätten die schweren Kampfwagen KV-1 und KV-2 den deutschen Vormarsch möglicherweise aufhalten können. Die deutschen Panzer waren nicht in der Lage, die Panzerung dieser schweren Typen zu durchschlagen.

Bedeutung heute

Die Vertreter der Präventivschlagsthese sind mit ihrer Interpretation weitgehend isoliert. Historiker wie etwa Hoffmann oder Maser, welche die These unterstützen, setzten sich damit in Gegensatz zur überwiegenden Forschungsmeinung. Jedoch wurde die bis Ende der 1980er Jahre vor allem in der Sowjetunion vorherrschende Meinung revidiert, die Sowjetunion sei auf den deutschen Angriff völlig unvorbereitet gewesen. Es ließen sich aber keine stichhaltigen Belege dafür finden, nach denen Stalin habe im Sommer 1941 tatsächlich ganz Europa erobern wollen, wie z. B. der ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen GRU, Viktor Suworow, behauptet, der allerdings kein Historiker ist. Bis heute sind jedoch noch immer nicht alle russischen Aktenbestände aus der Kriegszeit für die Forschung zugänglich.

1993 veröffentlichten die russischen Militärhistoriker W. D. Danilow und Juri Gorkow ein Dokument, das sie als "Überlegungen zum Plan eines strategischen Aufmarschs der Streitkräfte der UdSSR für den Fall eines Krieges gegen Deutschland und seine Verbündete" betitelten. Dieses Dokument wurde im Generalstab der Roten Armee (RKKA) vorbereitet und gegen Mitte Mai 1941 fertiggestellt.

Der größte Teil der westlichen Historiker (die bekannteste Ausnahme ist vielleicht Albert L. Weeks[5]) verneint die These. Trotzdem hat sie unter einigen russischen Historikern Unterstützung gefunden. Während des vorangegangenen Jahrzehnts, als viele Archivmaterialen aufgedeckt wurden, wurden die möglichen Angriffspläne heiß diskutiert. Autoren, die die These unterstützen, dass Stalin geplant hatte Hitler anzugreifen, sind W. D. Danilow[6], W. A. Neweschin[7] und B. W. Sokolow[8]

Eines der bedeutendsten Beispiele ist Die verlorene Chance Stalins, ein Buch von Michail Meltjuchow.[9]. Meltjuchow argumentiert, dass der Plan Deutschland anzugreifen (oder einen Präventivschlag zu führen) vor Mai 1941 gefasst worden war und die Grundlage der sowjetischen Militärplanung von 1940 bis 1941 war. Meltjuchow behauptet, dass fast keine bedeutenden sowjetischen Verteidigungspläne gefunden wurden; es jedoch verschiedene Versionen des Angriffsplanes gibt. [10]. Laut Meltjuchow wurde die erste Version bald nach dem Ausbruch des Krieges aufgesetzt, die letzte Version um den 1. Mai 1941 [11]. Laut dieses Angriffsplans wurde auch die Aufstellung der Truppen gewählt, so Meltjuchow.

Literatur

  • Wigbert Benz, „Die Lüge vom deutschen Präventivkrieg 1941.“ In: Geschichte lernen: Legenden – Mythen – Lügen. H.52 (1996). Friedrich-Verlag in Zusammenarbeit mit Klett, S.54-59
  • David M. Glantz, Stumbling Colossus. The Red Army on the Eve of World War. Lawrence: University Press of Kansas 1998.
  • Gabriel Gorodetsky, Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen „Barbarossa“. Berlin: Siedler 2001
  • Joachim Hoffmann, Die Sowjetunion bis zum Vorabend des deutschen Angriffs, in: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1987, S.38-97 (enthalten in „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, Band 4, Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt)
  • Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945. Planung, Ausführung und Dokumentation. 6. Auflage, München 2000. ISBN 3-7766-2079-X
  • Werner Maser, Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg. München 1994. ISBN 3-7892-8260-X
  • Werner Maser Fälschung, Dichtung und Wahrheit über Hitler und Stalin, Olzog Verlag München 2004, ISBN 3789281344
  • Bianka Pietrow-Ennker (Hg.) Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt: Fischer (TB) 2000
  • Viktor Suworow Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül. Klett-Cotta 2001, ISBN 3608915117
  • Ernst Topitsch, Stalins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft. Strategie und Scheitern. Herford 1993. ISBN 3-512-03112-9
  • Gerd R. Ueberschär, Lev A. Bezymenskij (Hg.), Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese WBG / Primus 1998 (der Band enthält alle wichtigen Dokumente)
  • Oleg Wischljow, „Zu militärischen Absichten und Plänen der UdSSR im Sommer 1941.“ In: Babette Quinkert (Hg.), „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg: VSA-Verlag 2002, S.44-54

Anmerkungen

  1. Barton Whaley, Codeword Barbarossa Cambridge, Massachusetts 1974 ISBN 0-262-73038-3, S. 174.
  2. Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die Geschichte des zweiten Weltkriegs Darmstadt 1995 S. 211 ff.
  3. Werner Maser Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, Heyne Verlag 1997, ISBN 3453117646
  4. Werner Maser Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, Heyne Verlag 1997
  5. Albert L. Weeks, Stalin's Other War. Soviet Grand Strategy, 1939–1941. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield, 2002 (festgebunden: ISBN 0742521915); 2003 (Paperback, ISBN 0742521923)
  6. Данилов.В.Д. Сталинская стратегия начала войны: планы и реальность -- Другая война. 1939-1945 гг; oder: Danilоv V. Hat der Generalsstab der Roten Armee einen Praventiveschlag gegen Deutschland vorbereitet? // Österreichische Militarische Zeitschrift. 1993. №1. S. 41-51
  7. Невежин В.А. Синдром наступательной войны. Советская пропаганда в преддверии "священных боев", 1939-1941 гг. М., 1997
  8. Соколов Б.В. Неизвестный Жуков: портрет без ретуши в зеркале эпохи. — Мн.: Родиола-плюс, 2000. http://militera.lib.ru/research/sokolov2/index.html
  9. Мельтюхов М.И. Упущенный шанс Сталина [1]
  10. Мельтюхов М.И. Упущенный шанс Сталина, S. 375
  11. Мельтюхов М.И. Упущенный шанс Сталина, S. 370-372