Geschichte des Antisemitismus bis 1945
Antisemitismus (auch: Anti-Semitismus) ist eine moderne Form der Judenfeindlichkeit, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auftritt und nicht mehr primär mit christlicher Religion, sondern mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründet wurde.
Der Antisemitismus betrachtet Juden pseudowissenschaftlich als geschlossene Abstammungseinheit mit negativen Eigenschaften, die angeblich erblich und somit auch durch einen Religionswechsel nicht zu verändern seien. Er zählt daher auch getaufte Juden und ihre Nachfahren zu einer Minderheit, die er für eine Vielzahl tatsächlich oder vermeintlich negativer Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verantwortlich macht.
Als Ideologie, oft in Form einer Verschwörungstheorie, stellt der Antisemitismus eine Reaktion auf die europäische Moderne und die Aufklärung dar und ist zugleich eines ihrer Krisensymptome. Er verband sich mit unterschiedlichen antiaufklärerischen, antidemokratischen, antikapitalistischen und antisozialistischen Zielen. Antisemitische Parteien und Propaganda forderten die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden und bereiteten damit den Holocaust durch den Nationalsozialismus mit vor. Antisemitismus war einer der zentralen Bestandteile von dessen Weltanschauung und Programmatik.
Überblick
Als pauschale Diskriminierung und Verfolgung von Juden als Volk basiert der moderne Antisemitismus auf dem Antijudaismus des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Er entstand in Europa seit etwa 1789: genau zu der Zeit, als ältere antijüdische Vorurteile aufgrund der aufgeklärten Begründung und französischen Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte zunehmend an Überzeugungskraft einbüßten. Zu seinen Vorbedingungen gehören auch die Säkularisierung, die allmähliche Demokratisierung, Industrialisierung sowie die widersprüchlich verlaufene Judenemanzipation.
In fast allen Ländern Europas und den USA gab es vor, teilweise auch nach 1945 antisemitische Tendenzen. Zunächst im zaristischen Russland, seit 1880 und verstärkt seit 1918 auch in Deutschland und Österreich sahen Antisemiten die Lösung der „Judenfrage“ zunehmend in der Vertreibung oder gar Ausrottung aller Juden. Dazu gründeten sie eine Reihe politischer Parteien, die mit programmatischem Antisemitismus antiaufklärerische, antidemokratische und antikapitalistische Ziele verbanden. Daran konnte der Nationalsozialismus später anknüpfen.
Dieser Artikel beschreibt Voraussetzungen, Entstehung und Entwicklung der antisemitischen Ideologie von 1789 bis 1945. Ihre Rolle und Anwendung im „Dritten Reich“ behandeln die Artikel Holocaust und Zeit des Nationalsozialismus. Heute fortwirkende und neue antisemitische Vorurteilsstrukturen und aggressive Tendenzen gegen Juden thematisieren Antisemitismus nach 1945 und Antisemitismusdebatte. Ihre wissenschaftliche Erforschung behandelt Antisemitismusforschung. Herkunft und Gebrauch stereotyper antisemitischer Propaganda in arabischen und islamischen Ländern beschreibt Arabischer Antisemitismus.
Offene antisemitische Äußerungen und Handlungen gelten in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Österreich nach den Erfahrungen der NS-Zeit als Straftaten, z.B. als
- Volksverhetzung,
- bei entsprechendem Material als Verbreitung von Propaganda verfassungsfeindlicher verbotener Organisationen oder Parteien,
- bei besonderen schwerwiegenden Bedrohungen oder Tätlichkeiten als Landfriedensbruch.
Der Begriff
Herkunft
Das Wort Antisemitismus ist aus Antisemit, antisemitisch abgeleitet und bedeutet dem Wortsinn nach „prinzipiell" bzw. „weltanschaulich (-ismus) gegen (anti-) Semiten“ und „gegen das Semitische“. „Semit“ bedeutet ursprünglich „Nachfahre des Sem“. Diesen nennt die Bibel als ältesten der drei Söhne Noahs neben Ham und Jafet (Gen 9,18). Die „Völkertafel“ in 1. Buch Mose 10 führt alle Völker der Erde auf diese drei Söhne zurück und zählt die für sie seit der Sintflut entstandenen Völker als ihre Nachfahren auf. Sie teilt sie nur nach väterlicher Stammeslinie, Generationenfolge und Siedlungsgebieten, nicht sprachlichen oder rassischen Merkmalen ein.
Die mittelalterliche Bibelexegese führte diese Sicht der Völkergeschichte weiter und bezog die drei Stammeslinien auf die damals bekannten Kontinente: Sie ordnete die „Nachfahren Sems“ Asien, die Jafetiten Europa und Hamiten Afrika zu, verband mit ihnen aber sonst keine besonderen gemeinsamen Eigenschaften. Da die biblische Urgeschichte mit Gen 11,9 eine ursprünglich einheitliche Weltsprache andeutete, lag es jedoch nahe, diesen Stammeslinien verwandte Sprachen zuzuschreiben bzw. von diesen auf gemeinsame Abstammung zu folgern.
Daran knüpften Historiker und Orientalisten im 18. Jahrhundert an, wobei sie den Sinn der Begriffe veränderten. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) unterschied 1710 zwischen nördlichen „Sprachen der Jafetiten" und südlichen „Sprachen der Aramäer", wobei er letztere den Nachfahren Sems und Hams zuwies. Der deutsche Historiker August Ludwig von Schlözer (1735-1809) bezeichnete 1771 eine Volksgruppe als „Semiten“. Sie umfasste Hebräer und Araber, aber auch afrikanische Abessinier und wich damit von der biblischen und mittelalterlichen Völkereinteilung ab. Doch seitdem bezeichnet die Sprachwissenschaft Hebräisch, Arabisch, Aramäisch und das in Äthiopien gesprochene Amharisch als Semitische Sprachen. - 1816 bewies Franz Bopp die Verwandtschaft Indogermanischer Sprachen, die er von den „semitischen“ unterschied. Beide Kategorien bezogen sich nur auf sprachliche Merkmale und besagten nichts über Eigenschaften oder Abstammungsverhältnisse ihrer Sprecher.
Die damalige Ethnologie schloss gleichwohl von sprachlicher auf völkische und genetische Verwandtschaft und stellte „Semiten“ den „Indogermanen" bzw. „Ariern“ auch anhand rassischer Merkmale gegenüber. Arier galten als hellhäutige „Inder" oder „Kaukasier“, von denen die Nordeuropäer abstammten. Obwohl auch Juden überwiegend hellhäutig sind und in der europäischen Diaspora längst nicht mehr nur Hebräisch sprachen, wurden sie aufgrund ihrer Herkunftsprache einer anderen Rasse zugeordnet.
Diesen vermeintlichen Rassen wurden dann verschiedene Eigenschaften zugeschrieben. Der Orientalist Christian Lassen (1800-1876) z.B. sah Arier und Semiten in seiner Indischen Altertumskunde (herausgegeben 1844-1865) als Ursprungsrassen der Zivilisation und schrieb:[1]
- Die Geschichte beweist, dass Semiten nicht die Harmonie seelischer Kräfte besitzen, die die Arier unterscheidet. Der Semit ist selbstsüchtig und ausschließend. Er besitzt einen scharfen Verstand, der ihn befähigt, Gebrauch von den Gelegenheiten zu machen, die andere schaffen, wie wir es in der Geschichte der Phönizier und später der Araber sehen.
Von da aus wiesen auch Geisteswissenschaftler alle positiv verstandenen Werte „Ariern“ zu, während sie „Semiten“ fast nur negativ darstellten. Der französische Historiker und Philologe Ernest Renan (1823-92) z.B. behauptete in seinen Études d'Histoire Religieuse (Studien zur Religionsgeschichte) 1862, „Semiten" sei jeder militärische, politische, wissenschaftliche und geistige Fortschritt fremd; Intoleranz sei die natürliche Folge ihres Monotheismus, den sie den polytheistisch geprägten Ariern aus ihrer Kultur übergestülpt hätten. Damit meinte er explizit die Juden: Ihr arrogantes Erwählungsbewusstsein sei seit 1800 Jahren verantwortlich für den Hass auf sie.
Bereits zwei Jahre zuvor hatte der jüdische Bibliograph und Mitgründer der Judaistik Moritz Steinschneider (1816 -1907) erstmals das Adjektiv „antisemitisch“ verwendet, um Renan wegen seiner antijüdischen Vorurteile zur Rede zu stellen. Auch für das preußische Staatslexikon von 1865 kennzeichnete das Adjektiv eine dem „typisch“ Jüdischen entgegengesetzte Haltung. Der Wortbestandteil „semitisch“ hatte sich also im politisch-ideologischen Kontext bereits auf die Bedeutung „jüdisch“ eingeengt.
Eigenbezeichnung von Judengegnern
Der deutsche Journalist Wilhelm Marr gebrauchte 1873 erstmals das Substantiv „Antisemitismus“. Er richtete es aber nicht gegen alle zur semitischen Sprachfamilie gehörenden Völker, sondern gezielt nur gegen Juden:
- um sie nach ihrer Abstammung, nicht ihrer Religionszugehörigkeit zu definieren,
- um ihre Zugehörigkeit zu einer anderen Volksgruppe bzw. Rasse und deren angeblich unveränderbaren „Nationalcharakter“ behaupten zu können,
- um diesen Zuschreibungen den Anschein wissenschaftlicher Begründung und öffentlicher Diskutierbarkeit zu geben.
Der Begriff kennzeichnet diese Gegnerschaft als „-ismus“, also als Weltanschauung mit bekennender Anhängerschaft und einem mehr oder minder ausgeprägten ideologischen System. Er weist den Juden rassische und kulturelle Eigenarten zu, um daraus bestimmte Zeitererscheinungen zu erklären, die die Antisemiten in Gestalt der Juden bekämpften.
Das Wort „Semitismus“ war damals unbekannt. Die Antisemiten selbst konstruierten diesen Gegensatz zu ihrer Ideologie, weil die als „semitisch" definierte Minderheit keine einheitliche Ideologie oder Partei vertrat, zu der sie eine Opposition hätten bilden können. Denn die Juden lebten seit Jahrhunderten unter allen Völkern Europas und waren bei aller religiösen Fremdheit, Absonderung und traditionellen Ablehnung seit wenigen Jahren gleichberechtigter Teil der meisten europäischen Staaten geworden. Eben dieser Integrationsprozess konnte nur durch eine neue, aufklärerische Intentionen scheinbar aufnehmende Definition bekämpft werden. Abegesehen von dieser ideologischen Verwendung bezeichnete der Begriff im Deutschen später nur aus einer semitischen Sprache entlehnte Worte (vgl. Latinismus).
1879 stellte Marr Antisemitismus in seiner vielgelesenen Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet ausdrücklich als Alternative zum christlich-religiösen Judenhass vor, um diese „unaufgeklärte“, bloß emotionale Aversion auf einen angeblich rationalen Diskurs über den verderblichen gesellschaftlichen Einfluss der Juden zu orientieren. Als „moderner“ Antisemit griff er auch die assimilierten Juden als „artfremde Nation in der Nation“ an, die deren Selbstfindung im Wege stehe. Damit erschien ihre Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft, sei es durch erzieherische „Verbesserung“, sei es durch die Taufe, von vornherein unmöglich. Anders als damalige protestantische und katholische Judengegner sprach Marr also nicht nur Christen und Konservative an, sondern aufgeklärte, religionsferne Bürger, um ihnen Ausgrenzung aller Juden als politisches Ziel plausibel zu machen.
„Der Jude“, schon lange ein Schimpfwort, wurde nun Inbegriff aller als negativ erlebten und gedeuteten Zeiterscheinungen. Er stand für die Antisemiten hinter allen von ihnen abgelehnten modernen Wissenschafts-, Staats- und Gesellschaftstheorien: Aufklärung, Rationalismus, Liberalismus, Materialismus, Internationalismus, Individualismus, Pluralismus, Kapitalismus, Demokratie, Sozialismus, Kommunismus. Er galt als der eigentliche Schuldige an der „Zersetzung“ der traditionellen Gesellschaftsstrukturen und der Uneinigkeit und Schwäche der Nation: Er beherrschte die kritische Presse, sorgte für Ausbeutung, Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration, Inflation. Dabei war dieses auch sonst in Europa gepflegte Feindbild besonders in Deutschland Kehrseite eines aggressiven Nationalismus, der die Juden den „Germanen“ gegenüberstellte, um sie aus dem „Volkstum" auszugrenzen.
In diesem Sinn wurde der Begriff rasch Allgemeingut und gut 75 Jahre lang zur Selbstbezeichnung „prinzipieller" Judenfeinde.
Fremdbezeichnung seit 1945
Seit dem Holocaust bezeichnen Judengegner sich kaum noch als Antisemiten und grenzen sich oft vom Rassen-Antisemitismus ab. Dennoch behalten Historiker und Politologen den Begriff bei, um weiterwirkende Vorurteile und politische Tendenzen zu benennen, die in Verbindung mit typischen, stets wiederkehrenden judenfeindlichen Klischees auftreten. Daher wird Antisemitismus umgangssprachlich häufig als Synonym für „Judenfeindlichkeit" verstanden.
Auch die angelsächsische und israelische Antisemitismusforschung verwendet den Begriff als Oberbegriff für alle komplexen Motive und Traditionen pauschaler Judenfeindschaft. Sie überträgt damit den fehlgeprägten Rassenbegriff der Antisemiten auch auf nichtrassistisch begründete Judenfeindlichkeit, betont also eher deren Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung dagegen verwendet den Begriff meist für die besondere anti-emanzipatorische Strömung, die sich von etwa 1789 an in Mitteleuropa etablierte, im Deutschen Kaiserreich politisch organisierte und sich im 20. Jahrhundert zum Faschismus und Nationalsozialismus steigerte. Sie gilt als eigenständiges Phänomen gegenüber dem Antijudaismus und sonstigem Rassismus.
Denn während dieser eher eine Minderwertigkeit der verachteten Gruppe unterstellt, unterstellen moderne Antisemiten „den Juden“ bzw. dem „Weltjudentum" einen übergroßen Einfluss, Gefährlichkeit und Machtstreben bis hin zur Weltherrschaft. Um dies zu bestätigen, verallgemeinern sie stets vermeintlich oder tatsächlich problematische Handlungen aller Art, von einzelnen Juden, jüdischen Organisationen oder als „jüdisch" denunzierten Nichtjuden. „Antimoderne“ Bewegungen zeigen auch heute eine Tendenz, negative Begleitumstände von komplexen gesellschaftlichen Vorgängen - Urbanisierung, Globalisierung etc. - „den Juden“ anzulasten und sich mit Antikapitalismus, Antikommunismus und Islamismus zu verbinden.
Auch dort, wo keine Juden leben oder man keine kennt, sind Menschen nicht selten von einer weltbeherrschenden, andere Völker schädigenden Rolle „der Juden" überzeugt: Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden (Jean-Paul Sartre in seinen Überlegungen zur Judenfrage). Dieses chimärische Judenbild ist durch Hinweise auf Fakten kaum korrigierbar und immunisiert sich gegen Korrektive von außen: ein Merkmal aller klassischen Verschwörungstheorien.
Zur Sündenbock-Funktion trat seit 1945 ein „sekundärer“ Antisemitismus, der unbewältigte sozialpolitische Defizite und unverarbeitete Schuldgefühle wieder auf die Nachkommen der Holocaustopfer zurückprojiziert. Dieses Muster existiert auch dort, wo nicht das Judentum, sondern ihm zugeschriebene Eigenschaften abgelehnt werden. Dann spricht man von einem „strukturellen“ Antisemitismus.
Die verschiedenen Begründungen für prinzipielle Judenfeindschaft tendierten bei all ihrer inneren Widersprüchlichkeit letztlich auf die völlige Auslöschung des Judentums: sei es, indem es zur überholten und „verworfenen" Religion erklärt wurde, sei es, indem es einem allgemeinen humanen „Fortschritt“ zum Opfer gebracht werden sollte oder zum Untergang durch den Selbstbehauptungskampf einer überlegenen „Rasse" bestimmt wurde.
Die Mechanismen, durch die solche pauschalen Judenbilder immer wieder entstehen, gelten als Beispiel für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder (Wolfgang Benz). Die verschiedenen Zusammenhänge, übergreifenden Zeiträume und Arten des Phänomens illustrieren deren Irrationalität. Gleichwohl haben sie sich über die Jahrhunderte als außergewöhnlich stabil und wandlungsfähig erwiesen. Individual- und Sozialpsychologie sehen darin eine menschliche Grundeigenschaft: sich Objekte seiner Frustrationen zu suchen und diese Projektion zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Warum dieser Hass in Europa immer wieder besonders Juden traf, ist damit noch nicht zureichend erklärt.
Vorgeschichte
Situation der mitteleuropäischen Juden um 1800
Die Juden bildeten um 1800 in den meisten Ländern Mitteleuropas die größte nichtchristliche Minderheit. Sie gehörten überwiegend zur Unterschicht, da ihnen die „ehrbaren“ Berufe verschlossen waren. Bereits seit dem Mittelalter waren ihnen Grunderwerb und Ackerbau, die Mitgliedschaft in Handwerkszünften und Kaufmannsgilden sowie der Aufstieg in den Adel verboten. Rechtlich galten sie im Römisch-deutschen Reich als Kammerknechte des Kaisers, der seine Herrschaftsrechte über sie, das so genannte Judenregal, im Laufe der Zeit an die Landesherren abtrat. Die Juden mussten diesen hohe Abgaben und Steuern leisten, wurden in den größeren Städten des Reichs in Ghettos gedrängt und waren immer wieder von Pogromen und dem Verlust ihrer materiellen Existenz bedroht. Schon die blutigen Massaker der Kreuzzüge hatten den jüdischen Fernhandel beendet. Der ihnen aufgrund des Zinsverbots für Christen zugewiesene Geldverleih wurde ihnen großenteils im Zusammenhang mit den Judenpogromen zur Zeit der Pest 1348-1350 wieder entzogen.
In der Frühen Neuzeit waren Judengemeinden zum Spielball der Interessenkämpfe zwischen Landesherren, Städten und Zünften geworden. Ein nichtjüdisches Kreditwesen war entstanden, Naturalabgaben waren durch Geldabgaben ersetzt worden und der Fernhandel hatte sich seit der Entdeckung Amerikas vom Mittelmeerraum zum Atlantik verlagert. So blieben ihnen nur bestimmte Nischen als Berufsbereiche, in denen sie zudem mit Nichtjuden konkurrieren mussten: das nicht-zünftige Handwerk, der Kramhandel, die Pfandleihe, das Kleinkredit-Gewerbe, Brauwesen und Schankwirtschaften, Hausierergeschäft und reisender Landhandel. Dort, wo sie zeitweise eine gehobene und für den Adel unentbehrliche Stellung als Zoll- und Steuerneinnehmer, Gutspächter, Holz- und Pferdehändler erreichten, z.B. im Polen des 16. Jahrhunderts, wurden sie später vom Kleinadel und aufstrebenden christlichen Bürgertum verdrängt. Nur eine sehr kleine Schicht von weniger als zwei Prozent erreichte den Status von wohlhabenden und geachteten „Hofjuden“ oder Ärzten mit hoher Bedeutung für ihre christlichen Herren. Die Masse lebte in „Judendörfern“ oder „Judengassen“ in religiöser, rechtlicher und ökonomischer Absonderung. Ihre Begegnungen mit der übrigen Bevölkerung beschränkten sich weitgehend auf Tauschgeschäfte und Märkte.
Einige Großstädte wie Frankfurt am Main hatten noch größere Judenghettos, die meisten jedoch hatten die Juden bis etwa 1670 aufs Land vertrieben. Rechtsunsicherheit und ständige Gefährdung begleiteten Judengemeinden auch im 18. Jahrhundert, als die Aufklärung ihre Gesellschaftsposition neu zu bewerten begann. Aus unterschiedlichen Gründen, vielfach aus Konkurrenz zu anderen bedrückten Ständen und städtischen Kaufleuten oder wegen Versorgungskrisen, vertrieb man oft - besonders mittel- und arbeitslose - Juden: z.B. 1745 aus Prag, 1750 aus Breslau, 1772-1790 aus dem Bezirk Dresden. Dort, wo sie geduldet wurden, wurden ihre Niederlassung, Gewerbe und Heiratsmöglichkeiten vielfach beschränkt. Das Recht zur Ansiedlung war von einem Mindestvermögen abhängig. „Schutzbriefe“ von Landesherren, die sie aufnahmen, mussten mit hohen Sondersteuern bezahlt werden und galten nur befristet.
Hinzu kam seit etwa 1780 eine starke Westwanderung von meist verarmten Juden aus Osteuropa. Deren Vorfahren waren während der großen Pogromwellen des Mittelalters dorthin geflohen; nun trieb die restriktive Judenpolitik in Polen, Litauen, Russland und der Ukraine sie wieder westwärts. 1804 verfügte ein Statut, dass die Juden des Zarenreichs nur noch in bestimmten Grenzgebieten siedeln durften; in den Folgejahren wurden etwa 230.000 russische Dorfjuden ausgewiesen oder zwangsumgesiedelt. Ihr Zustrom verschärfte die Lage in mitteleuropäischen Regionen. Obwohl willkürliche Vertreibungen um 1800 weithin als Unrecht galten, nahmen Juden-Ausweisungen von 1800 bis 1848 auch in Preußen zu. Die Folge war eine stetige Abnahme, Verkleinerung und Verelendung der verbliebenen Judengemeinden. Dies verstärkte wiederum das negative Außenbild von ihnen, das sich etwa in den Legenden vom heimatlos durch die Zeiten wandernden Ewigen Juden spiegelte.[2]
Aufklärung
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Aus Rationalismus und Naturrecht leitete aufgeklärte Philosophie die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung aller Bürger ab. Vorbedingung bzw. Ziel war für sie die Überwindung des religiösen Aberglaubens. Der Antijudaismus galt den Gebildeten nun als irrational; aber auch sein Gegenpart, der „Judaismus", galt als überholte und hinderliche Unvernunft. Schon die englischen Deisten im 17. Jahrhundert bekämpften das Judentum wegen seines Offenbarungs- und Wunderglaubens, um so zugleich das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. Damit drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.
Voltaire (1694–1778) führte das Christentum auf seinen jüdischen Ursprung zurück und lehnte beide Religionen von Grund auf ab. In seinem Werk finden sich wiederholt heftige Hasstiraden gegen Juden als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, den „Abschaum der Menschheit“ usw.. Er hielt diese Züge für angeborene, unveränderliche Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.
Diderot (1713–1784) dagegen glaubte an die soziale Bedingtheit aller religiösen Erfahrung und damit an ihre Veränderbarkeit. Mit seinem Enzyklopädie-Projekt wollte er indirekt auch einen Beitrag zur Überwindung des jüdisch-christlichen religiösen „Wahns“ leisten.
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) urteilte über „den Juden“: Er sei …ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist…, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt, ein Paradigma des Bösen und eine Identifikation des Minderwertigen. So verglich er die Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden.
Sogar Immanuel Kant (1724–1804), der wie Goethe Juden zu seinen besten Freunden zählte und in seinem Sittengesetz biblische Grundgedanken vernunftgemäß entfaltete, nannte sie „Vampyre der Gesellschaft“ und meinte 1798:[3]
- Die unter uns lebenden Palästinenser sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen.
Er hielt das Christentum für sittlich überlegen und grenzte es scharf gegen das Judentum ab. Ohne Kenntnis der rabbinischen Tradition verlangte er von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“. Er glaubte, dass nur Erziehung sie bessern könne, und forderte die Abkehr von ihrer Religion als Voraussetzung für ihre nationale und kulturelle Integration. Er deutete die Diaspora-Situation der jüdischen Minderheit als deren Unfähigkeit zu einem eigenen Staatsleben: Juden seien seit Jahrtausenden eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen.[4]
John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster ausdrücklích für eine Befreiung der Juden von rechtlicher und kultureller Herabsetzung aus. Vor allem Moses Mendelssohn (1729–1786) kämpfte für diese Anerkennung seiner Religion, die er zugleich von innen liberalisieren und über sich selbst aufklären wollte (Haskala). Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die gegenseitige Toleranz der drei monotheistischen Weltreligionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur trägt deutlich Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.
Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung war nur Montesquieu (1689-1755) bereit, das Judentum in seiner Eigenart anzuerkennen. Sonst empfahlen alle den Juden den Verzicht auf ihre Religion und Tradition und damit praktisch die Selbstaufgabe. Dennoch setzten sie die rechtliche Gleichstellung der Juden als Bürger auf die politische Tagesordnung.
Emanzipation und Reaktion
Hauptartikel: Jüdische Emanzipation
Die Situation der Juden ließ sich nur als späte Folge der bürgerlichen Demokratiebewegung ändern. Die Schrift des preußischen Archivars Christian Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) wurde einflussreiches Leitbild für solche Reformen. Doch um 1800 lasen und diskutierten nur wenige Gebildete und Adelige die Schriften der Aufklärer, während die einfache Bevölkerung Juden weiterhin als minderwertig und minderen Rechts behandelte. In den Umbrüchen des bürgerlichen Zeitalters fürchteten viele den Verlust ihrer bisherigen ökonomisch-sozialen Privilegien. Dies wog schwerer als die Aussicht auf mehr demokratische Partizipation. Daher war der Emanzipationsprozess - besonders für Juden im deutschsprachigen Raum - langwierig, mit ständigen Rückschlägen verbunden und nur mit staatlichen Verordnungen von „oben" durchsetzbar. Diese spiegelten durchweg eine von traditioneller christlicher Dominanz bestimmte Diskriminierung des Judentums.
Nach ersten Schritten wie dem Habsburger „Toleranzpatent“ vom 2. Januar 1781 brachte die französische Nationalversammlung nach der Revolution von 1789 den Juden 1791 erstmals in einem europäischen Land die vollen Bürgerrechte. Sie hob damit aber auch ihre bisherigen Sonderrechte – vor allem Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung – auf und zwang sie so zur Assimilation.
Der von Napoleon 1804 erlassene Code civil machte die prinzipielle Gleichberechtigung aller Bürger des Landes unabhängig von ihrer Religion auch in den von Frankreich eroberten Gebieten zum Gesetz: So erhielten z.B. die Juden des Rheinlands oder Hamburgs zum ersten Mal die bürgerlichen Freiheitsrechte. Doch bereits 1808 schränkte ein Dekret Napoleons diese wieder ein: Jüdische Kreditgeber mussten nachweisen, dass ihre Forderung an den Schuldner ohne „Betrug" zustande gekommen sei. Zinsen auf Darlehen wurden auf 5 Prozent begrenzt; bei mehr als 10 Prozent vereinbarten Zinsen verfiel der Gesamtbetrag. Zudem durften Juden nur noch mit Vorlage eines jährlich erneuerten Leumundszeugnisses („Judeneid“) Geschäfte abschließen. Dies bedeutete für viele jüdische Händler und Kaufleute den Ruin.[5]
Bis 1812 folgten fast alle deutschen Staaten Dohms Gleichstellungsforderungen, zuletzt Preußen mit dem Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden. Es gab diesen weitgehende Bürgerrechte, schloss sie aber weiterhin vom gehobenen Staatsdienst aus und galt nur für die schon eingebürgerten Juden altpreußischer Gebiete. Sie mussten für eine Studienberechtigung zudem am christlich-konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen.
In den Folgejahren scheiterten Bestrebungen zur vollen Gleichberechtigung. Nach den Befreiungskriegen erlaubte der Wiener Kongress von 1814 den Staaten des Deutschen Bundes, den Juden ihre von Napoleon verfügten Rechte wieder zu nehmen. Daraufhin widerriefen sie ihre bisherigen Zugeständnisse. Im Gefolge der Hep-Hep-Unruhen von 1819 (s.u.) kam es sogar wieder zu Ausweisungen (Lübeck). 1822 verbot Friedrich Wilhelm III. Juden Lehrberufe in Preußen und entließ sie aus allen Staatsdiensten. Dies machte besonders die assimilierten, gebildeten Juden arbeitslos. Für Bildungschancen und gesichertes Einkommen ließen diese sich nun vermehrt christlich taufen: Heinrich Heine sah darin das „Entreebillet zur europäischen Kultur“.
Erst ab 1830 forderten auch liberale Demokraten die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden wie der Bauern, um die feudale Ständegesellschaft abzuschaffen. Der deutschpatriotische Jude Gabriel Riesser kämpfte für volle Religionsfreiheit ohne diskriminierende soziale Folgen und sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 diese in die Grundrechte des deutschen Volkes aufnahm. Das Dekret Napoleons, das viele deutsche Staaten übernommen hatten, wurde in diesen erst 1849 aufgehoben. Doch bis 1850 blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, so dass Juden weiterhin nur verachtete und unsichere Nischen-Berufe und Kleingewerbe blieben.
Nach dem Herzogtum Baden (1862), der Stadt Frankfurt am Main (1864), dem Norddeutschen Bund (1869) wurde schließlich 1871 die volle Gleichberechtigung der Juden gesamtdeutsches Staatsgesetz im Kaiserreich.[6]
Geschichte in Deutschland
Romantik und Idealismus
Im deutschen Bildungsbürgertum wurden demokratische Rechte nach 1789 oft nur für geistige Eliten angestrebt und kombiniert mit einer anti-aufklärerischen Einstellung. Idealisten wie Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) waren glühende Patrioten und zugleich Judengegner. Er äußerte 1793 in seinem später viel zitierten Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution:[7]
- Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.
Selbst der umfassend gebildete Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes. Von ihm stammt der Satz:[8]
- Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele.
In der „Phänomenologie des Geistes“ schrieb Hegel:[9]
- Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste.
1811 brachte der Dichter Clemens Brentano (1778-1842) seine Verachtung der Juden in der Satire Der Philister vor, in und nach der Geschichte für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft zum Ausdruck:[10]
- Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.
Dieser Haltung widersprach Friedrich Schlegel (1772-1829) und verwies 1815 darauf, dass Juden alle bürgerlichen Pflichten, besonders den Kriegsdienst, erfüllt hätten und man ihnen deshalb nicht länger die Bürgerrechte verwehren könne.
Nationalismus und Frühantisemitismus
Am Vorabend der Französischen Revolution definierte Abbè Sieyès in seiner einflussreichen Kampfschrift Was ist der Dritte Stand den Begriff der Nation als die Gesamtheit aller Bürgerlichen im Gegensatz zu den privilegierten Ständen des Adels und des Klerus. Nach der Auffassung der Pariser Revolutionäre von 1789 galten für alle Landesbewohner die gleichen Menschenrechte. Der Nation konnte jeder angehören, der sich zu ihren Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bekannte.
Dieser offenen und demokratischen Definition wurde außerhalb Frankreichs bald eine ethnische gegenübergestellt. Insbesondere in Deutschland bildete sich als Reaktion auf die französische Fremdherrschaft eine exklusive, völkische Auffassung von „Nation" als einer „Abstammungsgemeinschaft“. Ihre Abgrenzung erfolgte nicht gegen die privilegierten Stände, sondern gegen die Franzosen und alle anderen Fremden. Als fremd und nicht zum eigenen Volk gehörig wurden in vielen Ländern Europas aber auch die Juden betrachtet. So verband sich der Nationalismus hier schon früh mit dem Antisemitismus.
In den deutschen Staaten etwa musste die Gleichstellung der Juden gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden. Bis ins 20. Jahrhundert war der deutsche Nationalismus durch die Ablehnung demokratischer Ziele und eine antisemitische Grundhaltung gekennzeichnet. Bereits vor 1848 sahen viele Befürworter des angestrebten deutschen Nationalstaats diesen als „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild häufig Kritik an „Volksschädlingen“, vor allem an den Juden. Anknüpfend an mittelalterliche Herabsetzungen der „Wucherer" wurden diese häufig als unproduktive „Schmarotzer" dargestellt.
Diese Sicht vertrat als einer der ersten der Berliner Justizrat Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer. Er reagierte schon 1791 auf die beginnende Emanzipationsdebatte in Preußen mit einer Schrift Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, die unverhohlen zu ihrer Vertreibung aufforderte. Dies löste heftige öffentliche Debatten in Berlin aus, die von weiteren Hassausbrüchen Grattenauers (u.a. 1804: Wider die Juden) gefolgt wurden, bis der Staat seine Schriften verbot.
Auch der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz warnte 1803 (Jesus und Moses) vor der langwierigen „bürgerlichen Verbesserung" der Juden und bedauerte, dass ihre Vertreibung heutzutage nicht mehr möglich sei. Gleichwohl wurde diese Möglichkeit öffentlich ausführlich erörtert und blieb ständiges Drohmittel, um die Assimilation der Juden zu beschleunigen. In beiden Lösungsmodellen, Vertreibung wie „Verbesserung“, ging es darum, ihre Religion baldmöglichst verschwinden zu lassen.[11]
Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt waren bekennende Judenfeinde. Sie begründeten jene Volkstums-Ideen, auf die rassistische Antisemiten später zurückgriffen. Arndt schrieb z.B. im Kontext der Zuwanderung russischer und polnischer Juden nach Westeuropa:[12]
- …Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.
Während die meisten Staatsregierungen die Integration der Juden im Interesse aller Bürger auf lange Sicht bevorzugten, blieb lokale Judenvertreibung in vielen Provinzstädten denkbar und opportun. Deshalb aktivierten auch akademische Frühantisemiten gern „Volkes Stimme". Der Völkerkundler Friedrich Christian Rühs (1781-1820) z.B. schrieb in einem antijüdischen Traktat 1816: Könne man die Juden nicht zur Taufe bewegen, dann bliebe nur ihre Ausrottung. Dem stimmte der Philosoph Jakob Friedrich Fries in seinem Aufsatz Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden zu:[13] Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe haßt und verflucht. Die „Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler" müsse ihre betrügerische Tätigkeit aufgeben oder der Staat müsse sie dazu zwingen, da andernfalls ihre gewaltsame Vertreibung unausweichlich sei. Er forderte, sich von der „jüdischen Pest“ zu befreien.
Ries war es auch, der bei der Gründung der Urburschenschaft auf dem Wartburgfest 1817 die anwesenden Studenten zu einer Bücherverbrennung aufhetzte. Dabei wurde auch die Schrift Germanomanie des jüdischen Autoren Saul Ascher, die sich kritisch mit Nationalismus und Verfolgungswahn der deutschen Patrioten auseinandersetzte, mit dem Ruf Wehe über die Juden! ins Feuer geworfen. Dies veranlasste Heinrich Heine 1819 zu der weitsichtigen Vorhersage:
- Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.
Kriminalrat Christian Ludwig Paalzow schrieb 1817 einen Dialogroman Helm und Schild, der die Argumente für und wider das jüdische Bürgerrecht auf einen Juden (Helm) und einen Christen (Schild) verteilte und letzteren rhetorisch siegen ließ. Er verwies im Munde Schilds auf die angeblich zu starke Vermehrung der Juden, ihre politische Unzuverlässigkeit und Neigung zur Rebellion aufgrund ihres Messiasglaubens. Ihre Gewerbefreiheit werde ihnen die ökonomische Macht über die Mehrheit zufallen lassen. Um dies zu verhindern, müsse man sie rechtzeitig vertreiben, wenn sie nicht freiwillig gingen. Der Schaden durch ihren Verlust sei geringer als der Nutzen, sie los zu sein.
1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den Judenspiegel. Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden.
Heinrich Eugen Marcard forderte 1843 in Minden mit einer Petition die „Vertilgung" der Juden. Hermann von Scharff-Scharffenstein schrieb 1851 in seiner antijüdischen Schrift Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft:[14]
- Das aber bildet eben den Grundcharakter dieser Nation, daß sie allem eigenen und fremden Staatsleben sich feindlich entgegenstellen und wie Parasiten an alle Völker sich anklammern, ohne diesen anders zu lohnen, als indem sie dieselben zu Grunde richten...Die Juden wollen die Herrschaft über Deutschland, ja über die ganze Welt erlangen. Deshalb werden sie nicht gehen, denn 'hier' können sie wie Vampyre das Blut der Christen saugen und in Palästina finden sie keine.
Wie viele andere Autoren verwendete er auch die Tiermetaphern der Spinne, die ihr Netz um die Welt spinnt, des Blutegels oder der gefräßigen Heuschrecken für Juden.
In den Jahren 1803-1805, 1812-1819, 1848ff waren judenfeindliche Schriften in der akademischen Literatur besonders oft vertreten. Sie setzten die mittelalterliche Tradition antijüdischer Hetzschriften im aufgeklärten, kirchenfernen Bürgertum fort und etablierten die Ressentiments, Abgrenzungs-, Deportations- und Vernichtungsrhetorik im öffentlichen Diskurs. Solche Ziele wurden also schon gut 100 Jahre lang erörtert, bevor der „Rasse“-Begriff für das Judentum aufkam.
Antijüdische Krawalle nach 1812
Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Im August 1819 breitete sich mit den Hep-Hep-Unruhen eine gewaltsame Krawallserie von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand, misshandelten und ermordeten Juden mit dem Kampfruf:
- Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!
„Hep“ wurde als Abkürzung eines alten Kreuzfahrer-Rufs Hierosolyma est perdita (Latein: „Jerusalem ist verloren“) und damit als Anspielung auf die Massaker der Kreuzzüge oder als Aufforderung Springt, haut ab analog zu Tieranrufen gedeutet. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als „Christusmörder“ angegriffen. Hier kam die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht, von denen auch nur wenige das Judentum und seine Emanzipation vorbehaltlos akzeptierten. Sie wurden nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.
Auch in den Folgejahrzehnten gab es an vielen Orten Gewalttaten gegen Juden, teils als Begleitung des allgemeinen antifeudalen Protestes und revolutionärer Stimmungen, teils in Krisensituationen oder aus alten religiösen Motiven. In Hamburg wurden Juden 1830 und 1835 wie schon 1819 vom Jungfernstieg vertrieben. Angeregt durch die Sensations-Berichte über die Damaskusaffäre 1840 lebte auch die Ritualmord-Legende wieder auf und führte in einigen Orten - u.a. Geseke, Oettingen, Thalmässing - zu teilweise monatelangen Ausschreitungen gegen Juden. Dabei wurden erneut Hepp, Hepp, Jude verreck!-Hetzrufe und die Parole Schlagt die Juden tot! laut. In Mannheim führte ein Regierungsbeschluss, eine Judenpetition für Gleichstellung zuzulassen, zu Volkskrawallen gegen Juden der Stadt. 1848 zerstörten Bauerngruppen in Leiningen im Taubertal Wohnungen von Juden, die sie als Gläubiger ansahen. In Baisingen verjagten bewaffnete Bauernknechte jüdische Bewohner mit dem Ruf „Geld oder Tod!" aus ihren Häusern und nötigten vorübergehend 230 Juden des Ortes zur Flucht. Sie versuchten, die Gemeinderäte zu erpressen, den Juden das Bürgerrecht zu nehmen, das die Allmende-Nutzung einschloss.
Im Verlauf der Revolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Angriffen auf Symbole der Abhängigkeit - Kreditbriefe, Schuldenakten - wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von revolutionärer - meist Bauern - wie antirevolutionärer - meist Bürger - Seite, die den Juden für Not und Revolution die Schuld gaben.[15]
Rassismus und Sozialdarwinismus
Das kirchliche Mittelalter hatte Juden prinzipiell eine jenseitige Erlösung offengehalten, die sie durch die Taufe schon in diesem Leben erreichen konnten. Deshalb wurden jüdischen Gemeinden zeitweise geduldet und von manchen Päpsten und Kaisern ausdrücklich geschützt. Freiwillig getaufte Juden waren vor weiterer Verfolgung meist relativ sicher. Nur bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie: besonders in Spanien im 15. Jahrhundert. 1492 stellten die katholischen Könige die spanischen Juden vor die Wahl zwischen Taufe oder Ausweisung. Eine Massenvertreibung war die Folge. Doch auch die im Land gebliebenen „Conversos“ standen unter dem Generalverdacht der Inquisition, sie würden ihre angestammte Religion heimlich weiter ausüben. Sie wurden als marranos („Schweine“) beschimpft, bald erneut blutig verfolgt und aus den erreichten gesellschaftlichen Positionen verdrängt. Dies wurde bereits rassistisch begründet: Mit dem Ideal des limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) schuf man ein Kriterium, um Neuchristen jüdischer Herkunft gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung zu verweigern.
Dieses Muster wiederholte sich in gewisser Weise im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Judenemanzipation. Bereits 1790 hatte der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners (1747-1810) ein Rangsystem der Rassen entwickelt, das Juden zwar über „Orang-Utans“, „Negern", „Finnen" (Lappen) und „Mongolen" skalierte, aber unter Weißen und Christen. Er folgerte daraus, dass sie weniger Rechte als diese beanspruchen könnten. Seit Ernest Renan war es zudem üblich, Juden als „Semiten" einen Mangel an Zivilisiertheit nachzusagen. Frühe Antisemiten wie Grattenauer und Hundt-Radowsky verglichen Juden direkt mit Affen, um ihnen die Menschenrechte abzusprechen und ihren Emanzipationsprozess, ihr Streben nach Bildung und Aufklärung als von vornherein lächerlich und illusorisch abzuwerten.[16]
Nachdem die rechtliche Gleichstellung jedoch erfolgt war, wurde der angebliche rassische zum welthistorischen Gegensatz überhöht: „Arier“ galten als zur Weltherrschaft berufene Bevölkerungsgruppe, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten, die gleichwohl zur Zeit noch über die Arier herrschten. In vielen Variationen wurden diese populären Klischees nun rassistisch untermauert.
1853 veröffentlichte Arthur de Gobineau den Aufsatz Die Ungleichheit der Rassen, der die Theorie des Rassismus begründete. 1858 erschien die deutsche Übersetzung des bahnbrechenden Aufsatzes von Charles Darwin Über die Entstehung der Arten, der die Evolutionstheorie und moderne Genetik begründete. Darin erklärte er die Entwicklung der Arten aus den Prinzipien Variation, Vererbung und Selektion: Der „Kampf ums Dasein“ führe zu einer Auslese der dem Überleben angepasstesten Arten. In Analogie dazu deuteten Rassisten auch die Völkergeschichte als Ergebnis eines ewigen Kampfes von höher- und minderwertigen Rassen. Das bot Antisemiten die Möglichkeit, die „Judenfrage“ mit pseudo-biologischen Argumenten als Rassenproblem zu propagieren. Sie bezeichneten Semiten und Arier seit etwa 1860 immer häufiger als Abstammungseinheiten und stellten „minderwertige Juden“ den „schöpferischen Germanen“ gegenüber.
So schrieb der österreichische Kulturhistoriker Friedrich von Hellwald (1842-1892) anknüpfend an Renan 1872 in einem Zeitungsartikel, Juden seien nicht einfach nur eine andere Religion, sondern eine völlig andere Rasse, eingewandert aus Asien. Diese Fremdartigkeit würden Europäer „instinktiv" spüren. Das sogenannte Vorurteil gegen Juden sei also ein natürliches, durch zivilisatorischen Fortschritt niemals zu überwindendes Gefühl. Der Jude sei Kosmopolit und besitze eine Schlauheit, mit der er dem ehrlichen Arier überlegen sei. Von Osteuropa aus grabe er sich als Krebsgeschwür in die übrigen europäischen Völker ein. Ausbeutung des Volkes sei sein einziges Ziel. Egoismus und Feigheit seien seine Haupteigenschaften; Selbstaufopferung und Patriotismus seien ihm völlig fremd.
Diese seit Mittelalter und Früher Neuzeit bekannten Sprachbilder der Entmenschlichung passten die Antisemiten der wissenschaftlichen Sprache an und übertrugen Begriffe aus der Bakteriologie, Mimikry-Theorie und Rassenlehre auf die jüdische Minderheit und ihr Verhältnis zur Mehrheit. Dabei wurden die Juden immer stärker nicht nur mit Schmarotzern, Volksschädlingen, Ausbeutern, Krebsgeschwüren, Ungeziefer, Seuchen, Blutsaugern, wuchernden Schlingpflanzen usw. verglichen, sondern identifiziert: Sie wirkten nicht nur ansteckend wie Pest oder wuchernd wie Krebs, sondern sie waren die Krankheit selbst. Stand im mittelalterlichen Aberglauben hinter ihnen der Teufel, also eine letztlich unbesiegbare dämonische Macht, so war es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt vorstellbar, sich dieser „menschlichen Viren" radikal zu entledigen.[17]
Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich durch Übertritt zum Christentum sozial anzupassen. Denn auch getaufte Juden blieben nun Juden, die von Juden – Vorfahren mit jüdischer Religion – abstammten, egal ob und wie lange ihre Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Eigenschaften erschienen als „Erbgut“, das keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation verändern könne. So wurden sie als nicht integrierbarer Fremdkörper in den europäischen Nationen dargestellt und ihre völlige Vertreibung aus ganz Europa als einzig realistische „Lösung der Judenfrage" nahegelegt. – Darwin selbst distanzierte sich 1880 davon.
Der Rassismus verschärfte auch die allgemeine Fremdenfeindlichkeit: Er untermauerte die Ablehnung anderer Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. Völkisch definierte „Fremde“ konnten nun als „Artfremde“ eingestuft werden. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa z.B. die Ablehnung der Sinti und Roma oder – im Rahmen des Antislawismus – der Sorben.
Politischer Antisemitismus im Kaiserreich
Nach der gewaltsamen Reichsgründung von 1871 sollte der Patriotismus die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft einen. Minderheiten, vor allem den Juden, wurde oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt. Politisch-soziale Widersprüche und ökonomische Krisen im nationalen Einigungsprozess wurden ihnen angelastet.
Auf den Börsenkrach 1870 folgte 1873 im Gefolge einer weltweiten Depression ein Gründerkrach. Viele Bauern, Händler und Bürger verloren ihre Ersparnisse und mussten ihre Firmen aufgeben, während Großindustrielle und Bankiers Verluste besser auffangen konnten. Da sich unter letzteren relativ viele Juden befanden, machte der abstiegsbedrohte Mittelstand alle Juden für die Pleitewelle verantwortlich. Nun ergriff der Antisemitismus breite Bevölkerungsschichten: Viele neu gebildete Vereine machte ihn zu ihrem Programm.
Im selben Jahr erfand der Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) den Begriff „Antisemitismus“ als Ersatz für „Judenhass“, um diesen pseudowissenschaftlich zu untermauern. Damit übernahm er Gobineaus säkular-rassistische Ideen, kennzeichnete aber nur die Juden als besondere „Rasse“, um sie ideologisch besser ins Visier nehmen zu können. Dabei konnte er auf fortbestehende kirchliche, aufgeklärte und völkisch-nationale Judenbilder zurückgreifen.
Stärker ökonomisch argumentierte Otto Glagau (1834–1892) in einer vielgelesenen Artikelserie in der Gartenlaube (1874), dann mit Schriften über den angeblichen Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1875) und Bankerott des Nationalliberalismus und die 'Reaktion' (1878). Auch er wandte sich an ruinierte Mittelständler und Kleinbürger und mobilisierte deren überkommene christliche Vorurteile gegen Juden.
Anfang 1878 gründete der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) die Christlichsoziale Partei als Gegenpartei zur Sozialdemokratie. Er wollte zunächst die Arbeiter für eine „Rechristianisierung" der Gesellschaft und Akzeptanz des vom protestantisch-konservativen Preußen geführten Kaiserreichs gewinnen. Doch fand er weitaus mehr Anhänger im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum und Mittelstand, die ihn drängten, sich zur „Judenfrage" zu positionieren. Daraufhin forderte er seit September 1879 die Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik und wurde so populär. Seine Ideen wirkten stark auf den deutschnationalen Protestantismus ein.
1879 gilt als Geburtsjahr des „modernen" Antisemitismus, in dem sich deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum reichsweit gesellschaftsfähig wurden. Undurchschaute Krisenphänomene, die die Industrialisierung, Kapitalisierung und Internationalisierung der Märkte begleiteten, wurden auf eine angebliche kulturelle, politische und ökonomische Dominanz der jüdischen Minderheit zurückgeführt. Das Judentum stand für eine Infiltration der Nation mit ihr fremden Ideen und Tendenzen, für Gewinnstreben, Egoismus und kalten Rationalismus. Britischer Manchesterliberalismus und sozialistischer Internationalismus wurden gleichermaßen auf jüdisches „Wesen“ zurückgeführt. So machte man die rechtlich-soziale Emanzipation der Juden als „Ursache" der Krisen aus und münzte sie in eine „Emanzipation von den Juden" um, die notwendige Bedingung für nationale Identitätsfindung sei.
In jenem Jahr erschien Marrs rassistisches Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Es fand reißenden Absatz und erreichte schnell 11 Auflagen. Daraufhin gründete er die „Antisemiten-Liga“ als erste deutsche Gruppe, die sich dem Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung verschrieb. Ihr erklärtes Ziel war die Vertreibung der Juden aus Deutschland. Sprachrohr dafür war das Hetzblatt Deutsche Wacht, das Marr zweimal monatlich herausgab.
Im selben Jahr ergriff der Berliner Antisemitismusstreit monatelang die Hauptstadt und die Akademikerzunft: Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) griff Stöckers Forderungen auf und schrieb in einem Artikel den verhängnisvollen, später von der NSDAP übernommenen Satz: Die Juden sind unser Unglück. Dagegen kritisierte sein angesehener Kollege Theodor Mommsen (1817–1903) die um sich greifende allgemeine Judenfeindschaft scharf. Zwar blieb Treitschke an der Humboldt-Universität isoliert; doch nun war die „Judenfrage" auch als „wissenschaftliches“ Thema etabliert.
Der hochdekorierte Veteran des Deutsch-Französischen Krieges Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) initiierte zusammen mit dem Lehrer Bernhard Förster (1853–1889) – einem Schwager von Friedrich Nietzsche – im Sommer 1880 eine „Antisemiten-Petition“. Sie forderte u.a. eine separate Besteuerung von Juden, ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern, vom öffentlichen Dienst und Bildungswesen sowie ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland. Vermittelt durch Förster bildeten sich an vielen Universitäten Ausschüsse zur Unterstützung der Petition, aus denen die ersten Vereine Deutscher Studenten hervorgingen. Auch Marrs Liga mobilisierte ihre Anhänger dafür. 250.000 Bürger unterzeichneten die Petition binnen Jahresfrist; Sonnenberg brachte sie in den Reichstag ein. 1881 gründete er den patriotisch-konservativen Deutschen Volksverein sowie die Deutsche Volkszeitung. Diese half, das Schlagwort „Antisemitismus“ im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten.
Glühende Antisemiten der 1880er Jahre waren auch:
- Dr. Ernst Henrici (1854–1915), der 1880 reichsweit mit antisemitischen Hetzreden Wähler für seine Soziale Reichspartei zu gewinnen suchte. Er bezeichnete sich selbst als „Brandstifter", griff auch Kirchen und Obrigkeit an und löste häufig Tumulte und Prügeleien aus.
- der als „Judenschläger“ bekannte Graf Pückler auf Branitz, der die Bauern seiner Region aufrief, Juden totzuprügeln.
- der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921). Sein populäres Buch Die Judenfrage als Racen, Sitten und Kulturfrage von 1881 erklärte die Kluft zwischen Ariern und Semiten für unüberbrückbar und forderte, die Juden wieder in Ghettos zu zwingen. Er sah die Juden als „Drahtzieher“ der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung, deren angeblich übermächtigen Einfluss es auszuschalten gelte:[18]
- Der unter dem kühlen nordischen Himmel gereifte nordische Mensch hat die Pflicht, die parasitären Rassen auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten muss!
Auf dem „Antisemitischen Kongress“ von 1882 versuchten diese Wortführer mit etwa 400 ihrer Anhänger gemeinsame Ziele zu finden. Dies gelang nur begrenzt, so dass das abschließende Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichen Staaten keine konkreten politischen Forderungen erhob. Der zweite, von Dühring dominierte radikalere Kongress von 1886 hatte nur noch 40 Teilnehmer.
Die Hetzpropaganda wurde umso intensiver: Ab 1885 verwendeten Marrs Zwanglose Antisemitische Hefte „Semitismus“ als feststehenden Sammelbegriff für alle bürgerlich-liberalen Erscheinungsformen: Aufklärung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Kulturaustausch, individuelles Glücksstreben, Demokratie, Kapitalismus. Diese galten als Ausdruck einer fremden, „jüdischen" Gegenkultur, die man als Patriot fundamental bekämpfen müsse. Die Juden seien die eigentlichen Urheber alles „Modernen“ und „Schädlichen“: Dieses Feindbild richtete sich vor allem gegen ihre rechtliche Gleichstellung und soziale Emanzipation. Es ersetzte die Analyse der tatsächlichen Ursachen der sozialökonomischen Probleme und Kritik an der Politik der Reichsregierung. Bis 1890 erschienen im Kaiserreich an die 500 Schriften, die sich in diesem Sinne mit der „Judenfrage“ befassten. Hinzu kamen mindestens 120 antisemitisch ausgerichtete Tageszeitungen, Monatsblätter und Vereins-Publikationen.
Auch parteipolitische Bestrebungen wurden verstärkt: Otto Böckel (1859–1923) gründete 1886 seine Deutsche Reformpartei, die sich noch im selben Jahr mit weiteren Gruppen zur Deutschen antisemitischen Vereinigung zusammenschloss. Böckel saß seit 1887 im Reichstag und trug sich dort stolz als erster „Antisemit“ ein. 1889 schlossen sich Stoeckers und Sonnenbergs Anhänger zur neuen Deutschsozialen Partei zusammen, Böckel gründete mit weiteren Gruppen 1890 die Antisemitische Volkspartei. Beide neuen Parteien forderten die Aufhebung der Emanzipationsgesetze, verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien im Wahlkampf als „Judenschutztruppe“ und gewannen bei den Reichstagswahlen desselben Jahres knapp drei Prozent der Stimmen.
1893 errangen beide Antisemitenparteien zusammen 18 Reichtagsmandate. 1894 vereinigten sie sich unter Führung Böckels zur Deutschsozialen Reformpartei. Ihr Programm baute auch auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) auf und redete erstmals von der „Endlösung der Judenfrage“. 1899 hieß es darin:[19]
- Dank der Entwicklung unserer modernen Verkehrsmittel dürfte die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage werden und als solche von den anderen Völkern gemeinsam und endgültig durch völlige Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden.
Abgesehen von der „Judenfrage" waren die Ziele der Antisemitenparteien jedoch widersprüchlich: Während die einen Arbeiter, Bauern und Mittelstand für den Nationalstaat gewinnen wollten, richteten die anderen ihren Nationalismus gegen Adel, kirchliche und staatliche Konservative und die im Reichstag führende Nationalliberale Partei. So agitierte z.B. der Lehrer Hermann Ahlwardt landesweit gegen „Junker und Juden“. 1890 behauptete er in seinem Buch Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum, alle Berufe und Stände seien vom jüdischen Wucher beherrscht, belegte dies aber nur mit seinen privaten Finanzproblemen. 1894 legte er ein Programm vor, das vorsah, alle Großgrundbesitzer zu enteignen und ihren Besitz in Gemeineigentum zu überführen. - Theodor Fritsch versuchte 1885 mit der Zeitung Antisemitische Correspondenz, die zerstrittenen Antisemiten zusammenzuführen. Dazu verfasste er 1887 einen damals weit verbreiteten Antisemiten-Katechismus. - Aufgrund innerer Uneinigkeit verloren sie danach jedoch wieder an Stimmen. Bei der Reichstagswahl 1903 erhielten ihre Parteien nur 3,5 Prozent (11 Mandate). 1907 stellten sie noch sieben Abgeordnete. Sonnenberg saß bis 1911 im Reichstag. Keins der Ziele seiner Petition von 1879 wurde im Kaiserreich erreicht.
Aber der politische Antisemitismus war nicht an bestimmte Parteien gebunden und wirkte viel weiter, als deren Stimmenanteile vermuten lassen. Viele Vereine blieben seit 1880 antisemitisch eingestellt, u.a. die Deutsche Turnerschaft, der Reichskammerbund und das angesehene Offizierskorps. Über andere Themen wie etwa die Flottenaufrüstung oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der „jüdischen Ausbeuter“ und ihrer „zersetzenden“ Demokratie-Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen.
Besonders folgenreich war der Antisemitismus an den Hochschulen. Viele dort ausgebildeten Akademiker, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Pastoren beteiligten sich dauerhaft an der antisemitischen Agitation, benachteiligten Juden aktiv und trugen so zu ihrer zunehmenden Verdrängung aus staatlichen Ämtern und gesellschaftlichen Ächtung bei. Auch ihre Fachverbände wurden seit etwa 1890 von der antisemitischen Welle erfasst. Viele Studentenverbindungen, als erstes 1886 der Kyffhäuserverband, schlossen Juden aus ihren Reihen aus.
Neue, nun ausdrücklich als antisemitische Interessengruppen gegründete Verbände kamen ab 1893 hinzu:
- der Bund der Landwirte, der rasch in den agrarischen Ländern Preußens Fuß fasste. Dafür sorgten auch Aktivisten der Studentenvereine wie Diederich Hahn und Zeitungsverleger wie Otto Schmidt-Gibichenfels.
- der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband für Angestellte und Handwerker. Er gewann rasch Einfluss auch unter vielen evangelischen Jugendverbänden. Dort sah man Antisemitismus als einzige richtige weltanschauliche Alternative zu Liberalismus und Sozialismus. Viele spätere Parteipolitiker gingen aus ihm hervor.
- der Alldeutsche Verband. Er wollte nach Bismarcks Entlassung und der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 bewusst einer großdeutschen imperialistischen Politik im Volk zum Durchbruch verhelfen. Mit der postulierten Unterordnung der Deutschen unter einen „Gesamtwillen der Nation" wurde er zunehmend antisemitisch.
- der Deutschbund, gegründet von Friedrich Lange 1894. Sein Ziel war die „Pflege deutscher Art", sein Organ die Tägliche Rundschau.
- die Gobineau-Gesellschaft, die sich der Förderung der „nordisch-germanischen Rasse" widmete, Gobineaus Werke ins Deutsche übersetzen ließ und publizierte.
Zwar hatten diese rassistischen Gruppen nur wenige Mitglieder; doch ihre Veröffentlichungen wirkten nachhaltig auch auf die sonstigen antisemitischen Verbände ein und bestimmten deren politische Schulung mit.
Die Erfolge antisemitischer Agitation beeinflussten die Konservative Partei: Diese nahm 1892 einen Teil antisemitischer Forderungen in ihr Parteiprogramm auf. Auch die katholische Zentrumspartei ließ - nicht zuletzt wegen der Haltung von Papst Pius IX., der Juden seit 1872 der Neigung zu Anarchismus und Freimaurerei bezichtigte - antisemitische Abgeordnete auf ihren Listen kandidieren. Auch einige Sozialisten äußerten sich judenfeindlich, so Johann Baptist von Schweitzer, Präsident des ADAV, und die Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen Wilhelm Hasselmann und Richard Calwer. Franz Mehring, enger Freund der Jüdin Rosa Luxemburg und Parteihistoriker, sprach oft abfällig und feindselig über Juden. In sozialdemokratischen Unterhaltungsblättern - z.B. dem Wahren Jakob, Süddeutschen Postillon oder der Neuen Welt - tauchten ab 1890 in Witzen, Karikaturen und Alltagsgeschichten jene judenfeindlichen Klischees auf, die sich in den vergangenen Jahrzehnten als soziale Normalität etabliert hatten: Juden werden als vom Profitstreben gelenkte, gerissene Schacherer und Wucherer, Börsenjobber und Händler ohne Geschäftsmoral dargestellt. Die Klischees unterschieden sich in Nichts von denen der bürgerlichen Literatur, die auch Romane wie Der Jude von Carl Spindler, Der Büttnerbauer von Wilhelm von Polenz u.a. immer wieder unter das Volk brachten.
Die SPD nahm jedoch seit ihrer Gründung nie antisemitische Forderungen in ihr Programm auf und war die einzige Partei im Kaiserreich, die dieser Ideologie offen widersprach. Typisch für ihren Fortschrittsglauben war aber, dass ihre Führer den verachteten „Radau-Antisemitismus" weit unterschätzten. So erklärte Wilhelm Liebknecht 1893: Ja, die Herren Antisemiten ackern und säen und wir Sozialdemokraten werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommen. August Bebel, für den Antisemitismus „der Sozialismus der dummen Kerls" war[20], glaubte, sie hätten nie Aussicht, irgendeinen maßgebenden Einfluß auf das staatliche und soziale Leben auszuüben.[21]
Jüdische Reaktionen
1879 erklärte der jüdische Historiker Harry Breßlau, „Juden“ und „Semiten“ seien nicht identisch. Er werde das Wort „Jude“ weiterhin verwenden, aber nur für die Herkunft, nicht die Religionszugehörigkeit von Juden:
- Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.
Damit reduzierte er Judesein seinerseits auf die Abstammung und trennte diese von der Religionszugehörigkeit. Doch diese Säkularisierung der Begriffe begünstigte nur die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen „semitischen Rasse“. 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum.
Der jüdische Arzt Leo Pinsker bereiste unter dem Eindruck der Pogrome in Russland von 1881 ganz Europa. Er sah in dem Umsichgreifen des Rassenwahns eine „Judäophobie“, die er als eine Geisteskrankheit beschrieb: Ihm war das Erscheinungsbild vertraut, wonach sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine mentale Störung anzeigten. Er folgerte in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 daraus die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Landes und wurde damit ein Pionier des Zionismus.
Auf die vermehrte Propaganda und Parteienbildung der Antisemiten reagierten religiöse Juden und judenfreundliche Christen 1891 mit der Gegengründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. 1893 bildeten Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.
Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat, das den politischen Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich viele freiwillig zur Front, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Sie wurden oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet und glaubten, dass ihre Eisernen Kreuze sie vor weiteren Verfolgungen schützen könnten.
Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus
Noch 1880 belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. So forderte z.B. Paul de Lagarde in Juden und Indogermanen 1887 die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten":[22]
- Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und wandte sich gegen die „Vermischung“ der „Rassen“, um so eine Radikallösung nahezulegen. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen die Juden wurde als eine Art Naturgesetz dargestellt. Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert.
1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain – ein Schwiegersohn Richard Wagners – in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen. – 1914 gingen die beiden Antisemiten-Parteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP) des Kaiserreichs auf. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts.
Zunächst überlagerte der Erste Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Etwa 100.000 Juden meldeten sich auf Drängen ihrer Vereine freiwillig zum deutschen Militärdienst. Dies schmälerte die Popularität judenfeindlicher Propaganda nicht. 1916 reagierte der Kriegsminister Hohenborn mit der Judenzählung auf verstärkte Hetze, Juden seien Drückeberger, die sich häufiger krank meldeten an der Front als Nichtjuden. Als die statistische Erhebung im Gegenteil einen höheren Anteil nichtjüdischer Dienstverweigerer ergab, hielt der Minister sie unter Verschluss.
Artur Dinter schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin zeigte er, wie sehr antisemitische Stereotypen auch mit körperlichen Zuschreibungen verbunden waren. Als Herausgeber eines „judenreinen“ Neuen Testaments für die antisemitische Geistchristliche Religionsgemeinschaft (1927) wurde er zum Ideengeber der späteren Deutschen Christen.
Als die Novemberrevolution 1918 das Kriegsende und die Flucht des Kaiser erzwang, traten die ungelösten sozialen Gegensätze offen hervor, die der Krieg nur verschärft hatte. In der Nachkriegsnot nahm der Antisemitismus neuen Aufschwung. Offiziere und große Teile des Bürgertums lasteten ihre Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. Sie erweiterten das Feindbild der „jüdischen Weltverschwörung“: Der „jüdisch-bolschewistische“ Revolutionär sei dem „im Felde unbesiegten" Heer heimtückisch in den Rücken gefallen. Er trachte danach, Deutschland zu versklaven und alle kulturellen Werte der Nation zu vernichten. Dabei verwies man auf jüdische Namen unter führenden russischen wie deutschen Revolutionären während der Räterepubliken. Diese Propaganda fand durch die 1919 auf Deutsch veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion neue Nahrung.
Republikfeindliche Antisemiten fanden sich nun in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP. Die Deutsche Burschenschaft z.B. beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Nach einer von einigen Medien unterstützten Hetzkampagne ermordeten paramilitärische Geheimbünde wie die Organisation Consul Symbolfiguren ihres Judenhasses, darunter 1922 Außenminister Walther Rathenau. Der gestürzte Wilhelm II. selbst forderte die „Ausrottung“ der Juden. Diese antidemokratische Ablehnung der „Judenrepublik" im reaktionären Bürgertum war nach Ansicht vieler Historiker eine entscheidende Weichenstellung und Zuspitzung, die den Siegeszug des Nationalsozialismus vorbereitete.
Für den österreichischen Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler war die Revolution 1918 das „Schlüsselerlebnis“ für seine Hinwendung zur Politik. Wie die meisten Nationalisten empfand er sie als „Dolchstoß“ von „jüdischen Verrätern“. Den Antisemitismus hatte er nach eigener Aussage schon in seiner Jugend vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger übernommen. In einem Brief vom 16. September 1919 schrieb er seine Haltung zur „Judenfrage“ nieder:[23]
- Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.
Der Hitlerputsch in München 1923 reagierte ausdrücklich auf den dortigen Versuch der Räterepublik 1918/19. 1924 schrieb Hitler in der Festungshaft seine Autobiographie Mein Kampf: Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen. Sogar den Gasmord deutete er bereits an: eine Idee, die er aus seinen Fronterfahrungen mit chemischen Massenvernichtungsmitteln gewann. Er sah darin eine Art Mission zur Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse" er den angloamerikanischen Kapitalismus und russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte.
Für diese Ziele fand sich jedoch längst vor der Gründung der NSDAP ein aufnahmebereites Umfeld: Große Teile der deutschen Studenten- und Akademikerschaft huldigten ungebrochen dem Antisemitismus der Kaiserzeit. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen faschistischen Nenner.
Nach dem verheerend schlechten Ergebnis der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928, als sie sich mit nur 2,6 Prozent der Stimmen begnügen musste, erging die Weisung an alle Parteigliederungen, in ihrer Propaganda den Antisemitismus zurückzuschrauben, der vor allem in bürgerlichen Kreisen abschreckend wirkte. Stattdessen setzte die Partei in der Endphase der Weimarer Republik vor allem auf außenpolitische Themen wie den Young-Plan und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Sofort nach ihrer Machtergreifung verfolgten die Nationalsozialisten unter ihrem Regime ab Januar 1933 aber ihr altes antisemitisches Programm, die Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen.
Ihre Politik zielte seit der zuerst auf die Ausgrenzung und Vertreibung aller deutschen Juden. In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten ihre Maßnahmen über Geschäftsboykotte, Berufsverbote, Emigrationsdruck, die Nürnberger Rassengesetze, die „Reichskristallnacht“, Zwangsenteignungen („Arisierung“), Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ (Holocaust). Seit 1939 kündete Hitler offen die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an. Im Herbst 1941 begann der Versuch, das europäische Judentum vollständig auszurotten. Allein diese industriell organisierte Vernichtung – im jüdischen Selbstverständnis Shoa („Unheil, Katastrophe“) genannt – forderte um die sechs Millionen Opfer.
Damit war eine rassistische Abwertung „slawischer“ Völker verbunden, die ebenfalls Opfer der deutschen Arbeits- und Vernichtungslager und der Zwangsarbeit wurden, auch wenn sie nicht primäres Objekt der Vernichtungsstrategie waren. Zwar wandten sich die Nationalsozialisten im Mai 1943 per Dekret offiziell vom Begriff „Antisemitismus“ ab. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch dies spielte keine Rolle für die geschaffenen Tatsachen: Der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad und dem Kriegseintritt der USA die Kriegsniederlage feststand.
Das deutsche NS-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.
Andere Länder
Arabische Länder
siehe Hauptartikel Arabischer Antisemitismus
Frankreich
Die Französische Revolution brachte den Juden Frankreichs 1791 erstmals in Europa die sofortige und uneingeschränkte rechtliche Gleichstellung. Dem gingen heftige Debatten in der Nationalversammlung voraus, ob man sie vertreiben oder einbürgern solle. Denn die Erklärung der Menschenrechte von 1789 hatte die Juden noch nicht einbezogen, da sie zunächst nicht als Teil der französischen Nation galten. In der Phase der jakobinischen Terrorherrschaft 1793/94 traten massive judenfeindliche Tendenzen der ländlichen und städtischen Unterschichten zutage.
Dennoch beeinflusste die französische Entwicklung aufs Ganze gesehen die Judenemanzipation in anderen europäischen Staaten, auch wenn diese meist den Weg der allmählichen „bürgerlichen Verbesserung" durch diskriminierende „Erziehung“ bevorzugten und rechtliche Fortschritte für die Juden häufig wieder einschränkten oder zurücknahmen. Da die Judenemazipation eines der bleibenden Ergebnisse der Französische Revolution war, verband sich der Antisemitismus in Frankreich seit dem 19. Jahrhundert mit anti-revolutionären, anti-demokratische und royalistischen Tendenzen.
1858 formulierte Graf Arthur de Gobineau seine Rassenlehre, die den Begriff der Nation, anders als die Revolutionäre von 1789, völkisch definierte und dem dem Rassismus erstmals eine pseudowissenschaftliche Basis gab. In Frankreich fanden Gobineaus Theorien jedoch viel weniger Resonanz als in Deutschland. Sie wurden nur von wenigen Intellektuellen wie Ernest Renan (1823-1892) und Edouard Drumont (1844-1917) aufgegriffen, deren Werke wiederum auf deutsche Antisemiten zurückwirkten. So verfasste Drumont 1880 »La France juive«, das viele Auflagen erlebte und als Grundlagenwerk des modernen Antisemitismus in Frankreich gilt.
1894 zeigte die Dreyfus-Affäre, wie stark der Antisemitismus im französischen Militär und in der Justiz verankert war: Reaktionäre Offiziere und Richter, unterstützt von Monarchisten und strenggläubigen Katholiken verurteilten den Hauptmann Alfred Dreyfus, Elsässer und Jude, aufgrund gefälschter Papiere als Landesverräter. Als die Fälschung bekannt wurde, verweigerte man ihm jahrelang die Rehabilitation. Journalisten wie Emile Zola, die sich öffentlich für Dreyfus einsetzten, wurden gerichtlich verfolgt. Die Dreyfus-Affäre ließ Theodor Herzl zu dem Schluss kommen, dass die Assimilation der Juden in Europa gescheitert und jüdisches Leben auf Dauer nur in einem eigenen jüdischen Staat möglich sei. Sein Buch Der Judenstaat (1896) begründete den politischen Zionismus.
Nach der 1905 schließlich erfolgten Rehabilitation Dreyfus' trat der Antisemitismus in Frankreich, weil gesellschaftlich und politisch diskreditiert, weitgehend zurück. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es unter dem Einfluss von Charles Maurras nochmals zu einem kurzen Aufflackern antisemitischer Stimmungen.
Während der deutschen Besatzung von 1940 bis 1944 setzten sich unter dem Vichy-Regime erneut alte antidemokratische und antisemitische Tendenzen durch. Die Kollaborationsregierung beteiligte sich aktiv an der Inhaftierung und Deportation von Juden in die deutschen Vernichtungslager. Die Bevölkerung war gespalten: Viele Franzosen halfen, Juden zu verstecken, in den unbesetzten Teil Frankreichs zu schleusen und nahmen an der Résistance teil, während andere sie denunzierten und auslieferten. Die Propaganda französischer Antisemiten erhielt Auftrieb: In Bordeaux initiierte der „Inspektor für Judenfragen", Maurice Papon, 1942 die Wanderausstellung Der Jude und Frankreich, die viel Anklang fand. Die Zeitung La Petite Gironde schrieb:
- Der Volksmund sagt, bei einem Verbrechen müsse man stets nach der Frau suchen, die dahinter steckt. Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden suchen müssen, der dahinter steckt.
Großbritannien
Im britischen Königreich vollzog sich die Judenemanzipation fast ohne öffentliche Debatte. Seit 1850 waren Juden nur noch vom Eintritt in das Parlament ausgeschlossen; diese letzte Rechtsschranke wurde 1856 aufgehoben. Erst im Zuge der starken Einwanderung von fast 200.000 Ostjuden aus Polen und Russland um 1900 kam es zu Konflikten. Die Zuwanderer waren durch Sprache, Tracht und Sitten deutlich unterscheidbar und trafen meist völlig mittellos in England ein. Aus Furcht vor billigen „Lohndrückern“ streikten 1903 die Bergarbeiter von Süd-Wales gegen ihre aus Polen stammenden Kollegen und verlangten einen Einreisestopp für verarmte Ausländer.
Diese Anti-Alien-Bill wurde 1905 gegen Proteste der englischen Liberalen erlassen. Ein späterer Zusatz nahm allerdings aus religiösen und politischen Gründen Verfolgte davon wieder aus, so dass aus Russland und Rumänien vertriebene Juden weiterhin fast ungehindert einreisen konnten. Sie wurden relativ reibungslos integriert.
Im 1. Weltkrieg entstanden auch in Großbritannien kleine Gruppen von Antisemiten, die aus nationalistischen Gründen vor allem deutsche Juden ablehnten, ohne damit größere Wirkungen zu erzielen. Bernhard Shaw stellte 1925 fest, es gäbe in seinem Land zwar antijüdische Vorurteile, aber diese seien nicht von Vorurteilen gegen Schotten, Iren, Walliser und alle Fremden verschieden. So wie man die Habsucht der Juden verhöhne, spotte man auch über den Geiz der Schotten. Von einem Antisemitismus könne für England keine Rede sein. Trotz der enormen Zuwanderung von Juden, sozialen Konflikten und gleichzeitiger heftiger antisemitischer Propaganda auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland, bewahrte sich Großbritannien also seine Liberalität und öffnete Juden alle sozialen Aufstiegschancen.
Ein Grund dafür lagen im hier traditionell starken aufgeklärten Philosemitismus, etwa von Dichtern wie Matthew Arnold und der Schauspielerin Mary Ann Evans, bekannt unter dem Pseudonym George Eliot. Ihr Aufsatz Die Juden und ihre Gegner, der leidenschaftlich und intelligent für die Verständigung und Aussöhnung mit dem lange geknechteten Judentum plädierte, fand 1880 viel Zustimmung. Ein weiterer Grund lag im theologischen Interesse der englischen Christen an der heilsgeschichtlichen Rolle Israels. Dies führte 1850 zur Bildung einer „Israel-Bewegung“ (British Israel Movement), die auch kirchenoffizielle Theologen des Anglikanismus und Methodismus beeinflusste.
Doch 1930 entstand auch in England eine faschistische Strömung, die sich in der British Union of Fascists organisierte. Sie konnte aber keine entscheidende politische Macht erringen.
Italien
In Italien gab es bis 1936 keine „Judenfrage“: Die etwa 70.000 jüdischen Italiener wurden nicht diskriminiert. Benito Mussolini fand seit 1921 unter ihnen Gegner, aber auch opferbereite Mitstreiter, z.B. Enrico Rocca, den Gründer des römischen Faschismus. Er setzte den Begriff „Rasse“ mit der Nation gleich, unterschied also Juden und Italiener nicht. Politisch suchte er den Dialog mit Vertretern zionistischer Organisationen, um internationale Anerkennung zu gewinnen und den britischen Einfluss im Mittelmeerraum zurückzudrängen. Er gab sich als Philosemit und verspottete Hitlers Rassetheorien, so dass NSDAP-Ideologen wie Alfred Rosenberg ihn zeitweise als „Judenknecht“, der selber von polnischen Juden abstamme, denunzierten.
Dies änderte sich seit 1936 mit dem Abessinienkrieg und der „Achse Rom-Berlin“. Nun machte Mussolini Zugeständnisse an die nationalsozialistische Ideologie. Ein „Rassenmanifest“ seiner Partei sprach 1938 von einer „reinen italienischen Rasse“, die „arischen Ursprungs“ sein sollte. Im Herbst jenes Jahres verboten Gesetze, die den Nürnberger Rassegesetzen glichen, Personen mit einem jüdischen Elternteil die Ehe mit „Ariern“, Bekleidung öffentlicher Ämter und Beschäftigung „arischer“ Angestellter. Weitere Gesetze verboten ihnen den Besitz von Radiogeräten, den Besuch von Bibliotheken und Schulen zusammen mit Nichtjuden.
Damit war keine weitere Verfolgung intendiert: Bis 1943 lebten jüdische Italiener noch relativ sicher in ihrer Heimat. Erst die nach Mussolinis Sturz von Deutschen eingesetzte Marionettenregierung ließ Juden in besonderen Konzentrationslagern internieren und ihr Eigentum beschlagnahmen. Die deutschen Besatzer bereiteten Maßnahmen zur „Endlösung" vor und trieben die Juden italienischer Großstädte in Ghettos, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren. Die italienische Bevölkerung lehnte dies überwiegend ab, da Juden nicht als Fremde galten. Trotz schwerster Strafandrohungen versteckten viele ihre jüdischen Nachbarn und verhalfen ihnen zur Flucht, besonders nach der „Räumung" des römischen Judenghettos innerhalb nur eines Tages am 17. Oktober 1943.
Niederlande
In den Niederlanden erhielten Juden schon 1796 die vollen bürgerlichen Rechte und konnten sich danach frei entfalten und integrieren. Sie stiegen z.B. früh in hohe Staatsämter auf, waren Richter, Universitätsprofessoren usw.
Ab 1924 entstand hier eine rechtsautoritäre Strömung mit teilweise faschistischen Positionen, die Nationale Unie. 1931 gründeten Cornelis van Geelkerken (1901-1976) und Anton Adriaan Mussert (1894-1946) in Utrecht die neue Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die sich mit ihrem Führerprinzip an Mussolini anlehnte und wie dieser keinen ausgeprägten Antisemitismus vertrat. Auch Farbige und Juden konnten zunächst dort Mitglieder werden. Ihr Ziel, ein „groß-niederländisches" Reich, wurde bis 1936 von etwa acht Prozent Niederländern unterstützt. Innerhalb der Partei wuchs jedoch eine völkische Fraktion mit starker Sympathie für Hitler und den Antisemitismus. Mit Rücksicht auf sie verkündete Parteiführer Mussert 1937 die vollständige Übernahme der nationalsozialistischen Rasseideologie; ab 1938 schloss die NSB jüdische Mitglieder aus. Hohe Parteifunktionäre begrüßten den Anschluss Österreichs an das „Großdeutsche Reich" und pflegten enge Kontakte zu den Nationalsozialisten in Berlin.
Doch diese deutschfreundliche Haltung wurde nicht belohnt: Es folgten Wahlverluste und Parteiaustritte. Nach Kriegsbeginn versuchte Mussert die NSB daher zunächst auf „Neutralität" zu verpflichten. Dennoch inhaftierten die niederländischen Behörden 10.000 NSB-Mitglieder als mutmaßliche Kollaborateure beim Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940. Nach der Flucht der Königin ins Exil erklärte Mussert seine Partei zur einzigen Vertretung der Niederländer gegenüber den Deutschen und erklärte Hitler, er wolle sein Land - um Belgien und Wallonien zu einem Großniederlande erweitert - in den „Bund germanischer Völker" eingliedern.
Trotz anderer Zielsetzung ließ Hitler ihn an der Macht. Am 12.Dezember 1941 schwor Mussert einen „Führereid" auf Hitler und durfte daraufhin das KZ Dachau besuchen. Ab 1942 ließ die formell regierende NSB-Führung die Deportation von 102.000 niederländischen Juden - neben 400.000 niederländischen Zwangsarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft - ohne Widerspruch zu. Bis zu 40.000 Niederländer dienten in niederländischen Untergruppen der Waffen-SS unter deutscher Führung und halfen mit beim Niederschlagen des Widerstands und beim Ausliefern von Juden. Dafür wurde Mussert am 12. Dezember 1945 als Landesverräter in Den Haag zum Tod verurteilt und am 7. Mai 1946 erschossen.
Österreich
Mit dem Toleranzpatent Josephs II. begann 1782 die Emanzipation der traditionell ghettoisierten, damals etwa 1,5 Millionen Juden Österreichs. Sie wurden zu allen Schulen und Hochschulen zugelassen und erhielten weitgehende Gewerbefreiheit. Einwanderung blieb ihnen aber ebenso verboten wie der Erwerb von Haus- und Grundbesitz und die Einfuhr jüdischer Schriften. Seit 1787 mussten sie deutsche, oft zudem diskriminierende Namen annehmen: z.B. Burda – „Fraß“ – oder Blumentritt – „der, der unschuldige, minderjährige Mädchen verführt“. 1788 wurde die Militärpflicht auf sie ausgedehnt.
Unter Kaiser Franz I. schränkten zahlreiche Sondergesetze diese Gleichstellungsansätze wieder ein. Jüdische Ausländer mussten z.B. täglich 30 Kreuzer zahlen und ihre Aufenthaltsberechtigung alle 14 Tage erneuern. Jüdische Hebammen durften nur im Notfall Christinnen entbinden. Die Hofkanzlei ignorierte 1815 eine Bittschrift der Wiener Juden, die Toleranz gesetzlich zu verankern.
Für monarchistische Beamte wie Friedrich von Gentz, den Berater Fürst Metternichs, waren Juden „geborene Repräsentanten des Atheismus, Jakobinismus, der Aufklärerei“. Das hinderte ihn nicht, etwa beim Wiener Kongress gern in den Salons von angesehenen Wiener Juden wie Fanny von Arnstein einzukehren.
Dennoch wurden die städtischen Juden Österreichs bis 1848 anders als in anderen Staaten des Deutschen Bundes ohne Pogrome sozialökonomisch integriert. Da sich die Angleichung der jüdischen Rechte an die der anderen Bürger schneller in der Stadt auswirkten, kanm es zu einem Zuzug aus Gallizien nach Wien. So stieg der Anteil der Juden von 1857 von 6.000 auf mehr als 146.000 im Jahr 1900 (ca. 12% der Bevölkerung). Vor den Kriegen gegen Napoleon traten katholische Romantiker wie Friedrich Schlegel, Franz von Baader und Klemens Maria Hofbauer für ihre passiven Bürgerrechte ein, setzten aber auch antijudaistische Vorurteile fort. Der Staatsphilosoph Adam Müller verlangte 1823 in einem Gutachten das Heiratsverbot zwischen Juden und Christen und die Rücknahme erreichter Gleichstellung. Er setzte erstmals Judentum und Kapitalismus gleich.
In der Märzrevolution 1848 engagierten sich Akademiker, darunter viele gebildete Juden, meist für den Liberalismus. In den Armenvierteln Wiens dagegen wurde der Ruf laut: Schlagt die Juden tot!, begleitet von einzelnen Gewalttaten. Trotz solcher Aktionen brachte die Pillersdorfsche Verfassung den Juden endlich die ersehnten vollen Bürgerrechte und Religionsfreiheit. Dies nahm die Restauration zum Teil wieder zurück: 1851 mussten jüdische Beamte ihre Staatstreue beeiden, 1853 wurde Juden Grunderwerb erneut verboten, 1855 auch das Notariat und Lehrerberufe. Eigene Zeitungen blieben ihnen erlaubt, so dass sie im Verlagswesen häufiger führende Positionen errangen.
Daraufhin entstand eine antisemitische katholische Gegenpresse, die nun dauerhaft gegen das „demokratische Judengesindel“ hetzte und es mit Liberalismus, Kapitalismus und Kommunismus gleichsetzte. Führend darin war der Artillerieoffizier Quirin Endlich, der „Judenfresser von Wien“. Auch Eduard von Tellering, Journalist für die „Neue Rheinische Zeitung“ von Karl Marx, griff Juden in seiner Schrift Freiheit und Juden als „Wucherer“ (Vertreter des Kapitals) und „Freigeister“ (Vertreter der Demokratie) an, griff aber auch auf die alte Ritualmord-Legende zurück.
Flugblätter behaupteten schon 1848, Juden hätten aus Christensärgen Barrikaden gebaut und auf offener Straße Christenkinder geschlachtet, die Guillotine verlangt und Kreuze verhöhnt. Weiter hieß es:
- Wenn das Christusvolk kein Christentum und kein Geld mehr hat…, dann ihr Juden, lasst Euch eiserne Schädel machen, mit den beinernen werdet ihr die Geschichte nicht überleben.
Der Herausgeber der 1848 gegründeten „Wiener Kirchenzeitung“, Kaplan Sebastian Brunner, dichtete gegen aufgeklärte Philosophen in seinem bekannten Nebeljungenlied:
- Wir haben keinen Judengott mehr,
- Und hassen den Gott der Christen,
- Wir sind die keckste Rotte der Welt,
- Wir jüdischen Pantheisten.
Er versuchte, den „historischen Nachweis der Ritualmordlegende“ zu führen, erneuerte auch das Klischee vom Gottesmord, aufgrund dessen das Judentum verflucht sei, und folgerte:
- Solange die Juden Juden bleiben, nicht bloß der Abstammung, sondern auch dem Glauben nach, ist ihre Emanzipation überhaupt unmöglich….Diese werde die Gesellschaft entchristlichen, so dass dann das Judentum herrsche. Dies werde Volkes Stimme nicht hinnehmen.
Der folgende öffentliche Disput mit Ignaz Kurandas Ostdeutscher Post erregte internationales Aufsehen. Brunner unterlag vor Gericht in mehreren Zensur- und Beleidigungsklagen, was seinen Judenhass noch verschärfte. 1886 verfasste er ein Wanzen-Epos, in dem er Juden als „Ungeziefer“ und „Parasiten“, Antisemitismus als „Wanzenpulver“ bezeichnete. Er hetzte auch gegen Heinrich Heine und Ludwig Börne.
Albert Wiesinger folgte ihm 1867 als Redakteur. In dem Jahr wurde Österreich ein Verfassungsstaat: Seither nannte er die Regierung nur noch „Judenclique“ und führte eine ständige Sparte „Ghettogeschichten“ in die Wiener Kirchenzeitung ein, bis sie 1874 eingestellt wurde. Dem standen aber auch zahlreiche polemische Artikel liberaler Zeitungen, die von Juden geführt wurden, mit „Klostergeschichten“ und Priesterbeschimpfungen gegenüber.
Ab 1875 entstand in Österreich parallel zum Deutschen Kaiserreich eine „christlich-soziale“ bzw. „völkische“ Bewegung: Hauptvertreter war der Konvertit Karl Freiherr von Vogelsang, Redakteur der Wiener konservativen Zeitung Vaterland. Er sah das Land „mit Juden überschwemmt“,
- …weil der liberale Umschwung, mit dem man uns beglückt, durch und durch von jüdischem Geiste durchdrungen ist…uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er incarniert, unsere ganze Lebensanschauung, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen…
- Mit Sondergesetzen gegen Juden sei nichts gewonnen. Die Gesellschaft müsse sich wieder dem Christentum und der Ständegesellschaft zuwenden, dann werde sie die Juden „absorbieren“ und so die „Judenüberfluthung“ beenden.
Er distanzierte sich 1881 von plumper „Judenhetze“, wie sie damals im Berliner Antisemitismusstreit hervortrat. Aber auch er griff die „goldene Internationale“ des „Finanzjudentums“ an und polemisierte gegen die angebliche Weltherrschaft des Hauses Rothschild, gegen arme „Hausierjuden“ und russische „schachernde und wuchernde Talmudjuden“. Wie Vogelsang sahen Prinz Aloys von Liechtenstein und der Moraltheologe Franz Martin Schindler Antisemitismus als natürliche Reaktion auf den Kapitalismus dort, wo Juden angeblich sozial privilegiert seien.
Offen rassistisch hetzte seit 1877 das Monatsblatt Österreichischer Volksfreund unter Carl von Zerboni: Talmudjuden wollten die regierende Race des Erdballs werden (Nr.1), Gegenwehr gegen die Verjudung sei nötig (Nr.5). Ab Nr. 9 stand über jeder Ausgabe in Großbuchstaben: Kauft nur bei Christen! Ab 1882 wurde das Blatt Presseorgan der aus verschiedenen antisemitischen Handwerkervereinen hervorgehenden „Österreichischen Reformpartei“ unter dem Rechtsanwalt Robert Pattai. Er sah „Manchester-Liberalismus“ und Judenemanzipation als identische Vorgänge und strebte dagegen einen gesunden Staatssozialismus“ an:
- Sollte es aber nicht gelingen, der Judenfrage durch diese notwendigen Reformen die Wurzel abzuschneiden und das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen, dann müssten eben die vielbegehrten Ausnahmegesetze gegen das Judentum notwendig werden.
Dies unterstützte Ludwig Psenner, seit 1884 neuer Herausgeber des „Volksfreunds“, den er bis 1897 führte. Er suchte wie Vogelsang in der Rückbesinnung auf „christliche Werte“ das Heilmittel gegen die „Verjudung“ der Kultur und Gesellschaft. Doch 1886 zerbrach die Reformpartei daran, dass ein radikaler Flügel unter Georg Ritter von Schönerer den großdeutschen „Pangermanismus“ zum Programm erheben wollte.
Daraufhin gründeten Psenner, Ernst Schneider und Adam Latschka einen Verein, aus dem 1887 die „Christlich-Soziale Partei“ (CSP) hervorging. Bei der Gründungsversammlung übertrafen sich die Redner, u.a. der Ungar Franz Komlossy und der Wiener Reichtagsabgeordnete Karl Lueger, gegenseitig in antisemitischen Hetzreden, die etwa 1.000 Anwesende mit stürmischem Beifall bedachten.
Für Regionalwahlen bildete die CSP sofort eine antiliberale Koalition mit deutschnationalen und antisemitischen Gruppen, die „Vereinigten Christen“. Der Antisemitismus war das Bindeglied, auf das alle Beteiligten sich einigen konnten. Das Programm forderte einen Einwanderungsstop für Juden, ihren Ausschluss aus Staatsdienst, Justiz- und Arztberufen, Einzelhandel und gemeinsamem Schulunterricht mit Nichtjuden. Im Deutschen Volksblatt wurde das Ziel umrissen:
- Radical antisemitisch, streng national und entschieden christlich-social rühren wir alle Tage die Werbetrommel für die große Armee der Judenfeinde…, um deren Vereinigung in einer einzigen großen Volkspartei zu erreichen.
1888 bei einer Kundgebung für Papst Leo XIII. errang Karl Lueger die Führungsrolle. Er forderte 1890 im Reichstag, die „Hauptursachen des christlichen Antisemitismus“ zu beseitigen:
- die „judenliberale Presse“,
- das „erdrückende Großkapital“, das in jüdischer Hand sei,
- die „Unterdrückung der Christen durch die Juden“;
- das „Martyrium der Deutschen“ unter den jüdischen „Raubtieren in Menschengestalt“.
So fand auch sein Parteifreund Ernst Schneider 1893, Österreich leide an einem contagiösen Geschwür, an dem die Völker und der österreichische Staat leider zugrunde gehen werden, wenn dieses Geschwür nicht beseitigt wird…: Es sind die Juden. Er forderte später in Niederösterreich als Ergänzung für ein Gesetz über die Tötung von Raubvögeln analoge Prämien für die Erschießung von Juden.
Die Einigung der Antisemiten misslang erneut: Die konservativen Katholiken wollten eher die Habsburger Monarchie retten, während die deutschnationalen „Demokraten“ ein antiklerikales großdeutsches Reich anstrebten. Dabei behauptete sich der „gemäßigte“ christlich-soziale Flügel: Schindler verfasste 1895 das Parteiprogramm der CSP, das die Ausbeutung angriff, „sie komme woher sie immer wolle“. Rassistischer Judenhass wurde abgelehnt; man wolle nicht das Judentum als Religion, aber den „Talmudismus“ und die mit dem Liberalismus gleichgesetzten „Reformjuden“ bekämpfen.
Der Papst segnete dies mit der Auflage ab, antisemitische Ausfälle zu unterlassen. Daraufhin musste Kaiser Franz Joseph Karl Lueger 1897 schließlich als Bürgermeister von Wien bestätigen. Mit Lueger war keine eindeutige Abgrenzung der CSP vom Rassen-Antisemitismus möglich.
Dies galt aber auch für Theologen wie August Rohling, dessen in 17 Auflagen verbreitetes Pamphlet Der Talmudjude (1871) den Antisemiten jahrzehntelang religiöse Argumente lieferte. Er wollte mit teilweise gefälschten Auszügen beweisen, dass der Talmud erlaube,
- …alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, heimlich und meuchlings; – das darf, ja soll, wenn er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe.
Darauf beriefen sich Antisemiten in politischen Versammlungen, u.a. der Wiener Handwerker Franz Holubek 1882:
- Wisst Ihr, was in diesem Buch steht? Die Wahrheit! Und wisst Ihr, wie Ihr in diesem Buch bezeichnet seid? Als eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln!
Dies löste Tumulte aus. Holubek wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, doch freigesprochen, nachdem sein Verteidiger Robert Pattai vor Gericht aus Rohlings Buch zitierte. Als Rohling als Prozessgutachter zudem den Ritualmord als für Juden „außerordentlich heilige Handlung“ darstellte, warf ihm der junge Rabbiner und Reichsratsabgeordnete Joseph Samuel Bloch öffentlich Bereitschaft zum Meineid vor. Rohling zeigte ihn an; um das Verfahren zu ermöglichen, hob der Reichsrat Blochs Immunität auf. Sein Verteidiger, Dr. Josef Kopp, erreichte in zähen Verhandlungen die Zulassung von zwei ausländischen Gutachten zum Talmud. Darauf zog Rohling seine Klage vor Beginn der Hauptverhandlung zurück. Er musste die Prozesskosten tragen und verlor seine Professur für Bibelstudium.
Gleichwohl blieben seine Thesen und die Ritualmord-Legende unter Österreichs Katholiken lebendig. Der Pfarrer Joseph Deckert verglich 1893 in einem Predigtzyklus Türkennot und Judenherrschaft und verteilte gratis Broschüren, die den Ritualmord an Simon von Trient anhand von „Akten“ des Jahres 1475 zu beweisen angaben. Er beauftragte den Konvertiten Paulus Mayer für ein Monatsgehalt von 100 Gulden, ihm eine Schrift zu liefern, die den Ritualmord nach kabbalistischen und talmudischen Lehren „belegen“ sollte. Nach einer Vorabveröffentlichung zeigte Bloch Deckert, Mayer und den Herausgeber des Vaterlands an: Im Prozess wurden alle drei zu Haft bzw. Geldbußen verurteilt.
Dies hinderte Deckert nicht, seine Hetze mit antisemitischen Konferenzreden und Schmähschriften (1894–98) fortzusetzen. Darin hieß es z.B.:
- Darum, die Augen auf, mein christliches Volk, erkenne den ältesten und gefährlichsten Feind Deiner Religion; …wehre Dich Deines Glaubens; Du wirst dadurch auch Deine irdische Wohlfahrt sichern. Amen.
Deckert wurde 1896 vom Wiener Ordinariat verwarnt und erklärte daraufhin, Bloch habe ihn „in den Antisemitismus hineingehetzt“. Doch er hatte sich schon 1895 mit Karl Lueger solidarisiert:
- Nicht gegen die Religion der Juden ist der Antisemitismus gerichtet, obwohl der Talmud die Grundlage und das Grundübel des Judenthums bildet…sondern gegen die Rasse, insofern sie sich allen Nichtjuden, besonders aber den christlichen Ariern feindlich erwiesen hat und noch erweist. Darum hat der Rassenantisemitismus Berechtigung…
Als Bürgermeister Wiens war Lueger allzu radikale Hetze unangenehm. Antisemitismus sei ein sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen, wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn nicht mehr brauchen, denn das ist ein Pöbelsport! Diesen trieb er vor 1914 vor allem gegen die „rote Judenschutztruppe“ der aufstrebenden Sozialdemokratie weiter.
Nach 1918 verschärfte die Christlich-Soziale Partei ihren Kurs gegen die Republik und den Zuzug von polnischen Juden aus Galizien. Einzelfälle von Schiebern und Spekulanten führten im Oktober 1919 zu einer „Massenkundgebung christlicher Wiener“, bei denen Landtagsabgeordnete die Ausweisung aller Juden aus Österreich verlangten. Das neue Parteiprogramm forderte 1926 die Pflege deutscher Art und die Bekämpfung der Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet. Parteichef Ignaz Seipel erklärte, dies sei kein Kurswechsel, sondern immer Tradition der Partei gewesen.
Der Publizist Joseph Eberle gab seit 1918 für die katholische Intelligenz die Zeitschrift Das Neue Reich heraus, die in der „Judenfrage“ bewusst auf mittelalterliche Lösungen setzte. Ihm „roch“ die parlamentarische Demokratie „zu sehr nach polnischen Ghettos“. Er schlug z.B. eine von Richard Kralik verfasste „Volkshymne“ mit dem Text vor:
- Gott erhalte, Gott beschütze vor den Juden unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze, Christen, haltet festen Stand! Lasst uns unser Väter Erbe schirmen vor dem ärgsten Feind, dass nicht unser Volk verderbe, bleibt in Treue fest vereint!
Weitere radikale Antisemiten und Gegner der „Judenrepublik“ waren vor 1933 der Ethnologe Wilhelm Schmidt und der Sozialreformer Anton Orel. Der österreichische Klerikalfaschismus zog die Linien vom Mittelalter zur Gegenwartspolitik: Die katholische Presse in Salzburg hob 1920 z.B. das Verdienst der Kirche hervor, jahrhundertelang die jüdische Gefahr durch Sondergesetze abgewehrt zu haben. Bischof Dr. Sigismund Waitz warnte 1925 im Neuen Reich vor der „Weltgefahr“ des habgierigen, wucherischen, ungläubigen Judentums, dessen Macht „unheimlich“ gestiegen sei.
Ihm widersprach der Benediktiner Alois Mager, der erstmals den Antisemitismus überhaupt als halt- und rechtlos, ja unchristlich erklärte. In der Folgezeit rückte das Blatt von politischer Judenausgrenzung ab und warnte vor dem Ansteigen des Nationalsozialismus. Doch es bekämpfte den katholischen Antisemitismus weiterhin kaum: 1933 erschien in Graz ein weiteres Hetzpamphlet über die Protokolle der Weisen von Zion: Pfarrer Arbogast Reiterers Das Judentum und die Schatten des Antichrist.
Nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verharmloste Österreichs Presse die beginnende Judenverfolgung in Deutschland: Nach dem Judenboykott des 1. April 1933 zitierte man Hermann Görings Erklärung, die NS-Regierung werde niemals dulden, dass ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen werden sollte, weil er Jude sei. Der Philosophieprofessor Hans Eibl betonte die geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus. Die Ausgrenzung von Juden wie Max Reinhardt aus dem Kulturleben Berlins wurde ebenso begrüßt wie die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Der Ethnologe Oswald Menghin bejahte in seinem Buch Geist und Blut den Zionismus aus „rassischen“ Gründen, da die Integration der Juden den „deutschen Volkscharakter“ verändern würde.
Wer den Maßnahmen der Nazis öffentlich widersprach, betonte meist im selben Atemzug, Assimilation und Bekehrung der Juden seien unbedingt nötig, um die von ihnen ausgehende „Gefahr“ zu vermeiden. Zugleich wurde oft die Rückkehr zum christlichen Ständestaat propagiert, in dem die Juden ghettoisiert waren. Selbst die Reichskristallnacht deuteten führende Katholiken Österreichs wie Eberle als Reaktion auf jüdische Schuld früherer Jahrhunderte. Nur wenige wie der Philosoph Dietrich von Hildebrandt bezogen deutlich und leidenschaftlich gegen die Nürnberger Gesetze Stellung.
Polen
In den Jahren um 1848 hatten sich die Juden Kongresspolens erneut als glühende Patrioten gezeigt und für Polens Befreiung gekämpft, von der sie sich auch ihre Gleichstellung erhofften. 1862 kam es in Warschau nach gemeinsamen Aufständen gegen die russische Herrschaft zu Verbrüderungen von Christen und Juden, die ihre Gefallenen gemeinsam bestatteten. Der Marquis Aleksander Wielopolski verbesserte daraufhin ihre Rechtslage: Sie durften Immobilien erwerben, wurden als Zeugen vor Gericht zugelassen und mussten keine Sondersteuern mehr zahlen.
Doch nach dem Scheitern des polnischen Aufstands 1864 war den Juden Polens die Perspektive der Emanzipation verstellt, während das Wohlstandsgefälle weiter bestand. Nun gewann allmählich eine Ablehnung der Juden an Boden, da diese die Assimilation offenbar verweigerten und sich aufgrund ihrer religiösen Gebräuche beharrlich absonderten.
Auf die russischen Pogrome von 1881 reagierte das polnische Bürgertum überwiegend empört und schloss ähnliche Gewaltakte für Polen aus. Doch schon am 25. Dezember jenes Jahres kam es in Warschau zu einer tagelangen Plünderung des Judenviertels, nachdem bei einer Massenpanik in einer katholischen Kirche 28 Menschen zu Tode kamen und ein Gerücht Juden dafür verantwortlich machte. Nun schrieb die Warschauer Prawda:
- Das polnische Volk hasst die Juden aus religiösen und Rassengefühlen.
Dieser Hass traf vermehrt Juden, die damals ohne Kenntnis polnischer Kultur aus Russland flohen und die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zu den ebenfalls unterdrückten Polen verschärften. Das löste auch bei liberalen Intellektuellen häufige Sorgen vor „Überfremdung“ aus.
Mit Jan Jelenski begann ab 1877 auch in Polen eine antisemitische Publikation. 1887 gründete sich im Schweizer Exil die Liga Narodowa (nationale Liga) als Geheimbund gegen die russische Fremdherrschaft. Daraus ging 1897 die Partei Demokracja Narodawa (nationale Demokratie) hervor. Sie suchte bald sozialen und ökonomischen Fortschritt durch Kompromisse mit den Russen auf Kosten der polnischen Juden und Deutschen zu erreichen. Ihr führender Ideologe, Roman Dmowski, schrieb 1903:
- Ein nationaler Organismus darf nur das aufsaugen, was er sich zu eigen machen und in eine Vermehrung des Wachstums und der Stärke des Gesamtkörpers umsetzen kann. Ein solches Element sind die Juden nicht…die Aufsaugung einer größeren Menge dieses Elements [würde] uns verderben (), durch Elemente des Zerfalls jene jungen schöpferischen Keimzellen ersetzen (), auf welchen wir unsere Zukunft bauen.
Die nationale Intoleranz sei Folge des Duldens der Juden, da diese unfähig zur Integration seien. Diese Motive des völkischen Antisemitismus griffen nun in Polen wie in Deutschland 20 Jahre zuvor um sich.
Bei den polnischen Bauern waren neben nationalen alte religiöse Motive für neuen Judenhass wirksam. Besonders in Posen und Galizien stachelte sie meist der katholische Klerus, die Dorfpriester, gegen die Juden auf. Man denunzierte sie nach ersten Streikwellen und der Russischen Revolution von 1905 als heimliche Drahtzieher des sozialrevolutionären Umsturzes. 1911 schrieb z.B. die Lemberger Gazeta Niedzielna (Wochenzeitung):
- Das sollt ihr nicht erleben, ihr Herren Juden. [die Revolution und rechtliche Gleichstellung] Nur eines werden wir euch erleichtern, … dass ihr so schnell wie möglich euch aus unserem Lande begebt. Wer mit uns bleiben will, der nehme unseren Glauben an und werde Pole…
So bildeten Katholizismus und Nationalismus auf dem Land weithin eine antijudaistische, antidemokratische und antisozialistische Einheit.
Auf jüdischer Seite verstärkte dies die Bindung an eigene Tradition und Religion, Hinwendung zum Zionismus und zum proletarischen Sozialismus. Viele Juden lehnten bis 1914 ein unabhängiges Polen ab, weil dieser Nationalstaat ihnen nur größeren Assimilationsdruck versprach. Als Polen 1918 unabhängig wurde, änderte sich dies rasch: Die Zionisten bildeten einen „Nationalrat“, der als Partei für den Sejm (das polnische Parlament) kandidierte und dort die Gleichberechtigung aller Juden Polens – etwa 2 Millionen – forderte. Diese wurde 1930 realisiert.
Doch seit dem Krieg mit der jungen Sowjetunion 1920 wuchs in Polen der offene Antisemitismus. Polens Bischöfe veröffentlichten einen Hilferuf an die Katholiken in aller Welt, in dem sie das Judentum mit dem Bolschewismus gleichsetzten:
- Das wahre Ziel des Bolschewismus ist die Welteroberung. Die Rasse, welche die Führung des Bolschewismus in ihren Händen hat, hat schon in der Vergangenheit die Welt mittels des Goldes und der Banken unterworfen, und jetzt, getrieben durch die immerwährende imperialistische Gier, die in ihren Adern pocht, zielt sie schon auf die endgültige Unterwerfung der Nationen unter das Joch ihrer Herrschaft…Bolschewismus ist in Wahrheit die Verkörperung und Fleischwerdung des Antichrist auf Erden.
Der antisemitische Priester und Parlamentarier Kazimierz Lutoslawski denunzierte die Juden als Werkzeuge der Russifizierung und Germanisierung und lastete ihnen die Demoralisierung des Volkes, seiner Arbeitskraft, Entchristlichung der Kultur, kurz: die „Vergiftung der Volksseele“ Polens an.
Auf dem Hintergrund dieser verbreiteten, vom katholischen Klerus und nationalkonservativen Parteien gestützten und propagierten antisemitischen Stereotypen wurden Juden von Polen während der deutschen Besetzung dann kaum verteidigt und z.B. 1941 in Jedwabne von der Dorfbevölkerung ermordet. Obwohl die Vernichtungslager der Deutschen in Polen durchaus bekannt waren, richtete sich der polnische Widerstand selten dagegen. Bereits im Herbst 1946 kam es in Polen erneut zu Pogromen an Juden, die den Holocaust überlebt hatten.
Russland, Ukraine, Sowjetunion
Im Russischen Reich gab es anfangs kaum Judengemeinden. Dennoch übernahm die orthodoxe Staatskirche neben antikatholischer Polemik den traditionellen Antijudaismus der Patristik, etwa von Johannes Chrysostomos. Die Ikonenmalererei enthielt auch antijüdische Motive. Im Zuge der russischen Ausdehnung nach Westen wurden die Juden Polens oft als Katholikenfreunde betrachtet und grausam verfolgt, so durch Iwan IV. 1563 in Polozk.
Der ukrainische Aufstand von 1648 unter Führung des Kosaken-Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj richtete sich zwar gegen die Herrschaft des polnischen Adels in den ukrainischen Gebieten Polen-Litauens, doch ein großer Teil seiner Opfer waren Juden, die oft in einer prekären Vermittlerposition zwischen polnischen Magnaten und ukrainischen Bauern standen. Jüdische Opfer werden auf eine Zahl zwischen 10.000 und 200.000 geschätzt. Während der Aufstand in der ukrainischen Geschichtsschreibung als Akt des nationalen Heldentums gilt, sieht die jüdische Geschichtsschreibung darin den ersten Vorläufer der großen neuzeitlichen Judenmorde.
Durch die Türkenkriege und drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert gelangten zahlreiche Judengemeinden in den eroberten Gebieten unter russische Herrschaft. Bereits 1790 verbot Katharina II. Juden nach anfänglicher Toleranz den Kaufmannsberuf und erlegte ihnen doppelte Steuern auf, um die Moskauer Kaufleute vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Gleichwohl mussten sich die leibeigenen Bauern häufig beim jüdischen Kleinbürgertum verschulden, um die hohen Auflagen ihrer Grundherren auszugleichen. Auf dieser Basis kam es schon 1825, dann erneut 1841 und 1871 in Odessa zu Ausschreitungen gegen die Juden der Region. Die auf dem Land verbreitete Judenverachtung spiegelt sich auch in der damaligen Literatur, etwa in Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers (1852).
Zar Nikolaus I. verfolgte eine harte antijüdische Politik: 1835 begrenzte er den Hauptwohnsitz der Juden im Russischen Reich auf den sogenannten Ansiedlungsrayon (Tscherta osedlosti), dieser umfasste 15 Gouvernements des Kernreichs und zehn weitere im Königreich Polen. Die orthodoxe Staatskirche begrüßte diese Ghettoisierung als Chance zur konzentrierteren Judenmission; der konservative russische Adel und das Großbürgertum sahen darin eine willkommene Abwehr des parlamentarischen „Virus“ aus Westeuropa.
Die 1861 erfolgte „Bauernbefreiung“ von Alexander II. gestattete ehemals leibeigenen Bauern den Landerwerb, was Gebildeten und Begüterten – darunter relativ vielen Juden – eher zugute kam. Dies vergrößerte den Judenhass der einfachen Bevölkerung noch. Ihre Vorurteile vertrat auch Dostojewski in seinem einflussreichen Tagebuch eines Schriftstellers 1877:
- Da kam nun der Befreier und befreite das autochthone Volk – und was nun: Wer stürzte sich als Erster darauf als ein Opfer, wer benutzte vorzugsweise seine Laster, wer umwand es mit seinem ewigwährenden goldenen Gewerbe, wer ersetzte sogleich, wo er nur konnte und gelegen kam, die abgeschafften Gutsherren? Mit dem Unterschied, dass die Gutsherren, wenn sie die Leute auch stark ausgebeutet hatten, dennoch bestrebt waren, ihre Bauern nicht zugrunde zu richten, meinetwegen um ihrer selbst willen, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen; aber den Hebräer kümmert die Erschöpfung der russischen Kraft nicht, er nahm das Seine und ging…
Erst unter Alexander II. durften einige reiche russische Juden außerhalb der Ghettos wohnen und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken. Seine Ermordung am 1. März 1881 aber löste eine Pogromwelle aus: Staatlich lancierte Gerüchte lasteten den Mord und die schlechte Versorgungslage der jüdischen Minderheit an, um den Unzufriedenen ein Ventil für das Ausbleiben einer vom Zaren versprochenen Landreform zu öffnen. In den Folgemonaten verwüsteten und plünderten arbeitslose verarmte Bauern, die sich dabei auf einen angeblichen Zaren-Befehl beriefen, über 100 jüdische Gemeinden vor allem in der Ukraine. Die Behörden blieben untätig, und die christliche Stadtbevölkerung duldete die Übergriffe. Nur wenige orthodoxe Kleriker versuchten, die Bauern von den Exzessen abzubringen.
Zar Alexander III. verordnete dann am 3. Mai 1882 Knebelgesetze, die die Juden an freier Berufswahl und Gewerbefreiheit hinderten und vielfach in noch größere Armut stürzten. Sie lösten die erste Alijah (Einwanderungswelle) von Juden nach Palästina aus. In dieser Zeit begannen einige Intellektuelle gegen die judenfeindlichen Staatsmaßnahmen zu protestieren, darunter Odessas Erzbischof Nikanor. Auch der „russische Lessing“, der Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow (Das Judentum und die christliche Frage 1884) setzte sich neben der Wiedervereinigung von orthodoxer und katholischer Kirche für nachhaltige gegenseitige Achtung von Juden und Christen ein. Er fand u.a. die rückhaltlose Zustimmung von Leo Tolstoj.
Andererseits griff die judenfeindliche Hetze gerade in der Priesterschaft um sich. Bildungsrückstand und traditionelle Verbindung von staatlicher Despotie und Kirche trugen dazu bei. So fand die Ritualmord-Anklage im 19. Jahrhundert gerade in Russland prominente Fürsprecher und Popularität. Seit 1881 kam die Gleichsetzung des Judentum mit revolutionären Umtrieben hinzu, die wegen der Bildung einer jüdischen sozialistischen Partei und dem relativ hohen Anteil von Juden in der russischen Sozialdemokratie plausibel wirkte. Die Gegenrevolutionäre vereinten sich in Gruppen wie dem Bund des russischen Volkes oder dem Erzengel-Michael-Bund, die unter orthodoxen Priestern viel Zulauf hatten.
Die zweite große Pogromwelle von 1903 wurde wahrscheinlich von solchen Gruppen organisiert. Sie begann am Osterfest des Jahres in Kischinew und griff rasch auf Gomel, dann Hunderte weiterer Orte über. Der gesetzlich vorgeschriebene Eingriff des Militärs unterblieb, und die Regierung stellte die Pogrome als angeblich „spontane Racheakte“ der christlichen Bevölkerung an jüdischen Revolutionären hin. Das wiederholte sich während der ersten russischen Revolution 1905. Danach wurden die antijüdischen Gesetze noch verschärft und blieben bis zur Februarrevolution 1917 in Kraft. So war der russische Antisemitismus, gestützt auf den ländlichen Antijudaismus, eine kaum verhohlene halboffizielle Maßnahme zur Verhinderung der Sozialrevolution. In diesen Jahrzehnten erfolgte die zweite und dritte Alijah von Juden nach Palästina.
Die Februarrevolution unter Alexander Kerenski brachte allen Minderheiten, auch den Juden, 1917 die rechtliche Gleichstellung. 140 antijüdische Gesetze wurden aufgehoben. Doch nach der Oktoberrevolution kam es im Verlauf des Russischen Bürgerkriegs zu den bislang schwersten Pogromwellen in den von den „Weißen“ Konterrevolutionären besetzten Gebieten. Sie kosteten vor allem in der Ukraine etwa 60.000 Juden das Leben.
Danach waren Christen wie Juden der gleichen antireligiösen Staatspropaganda und Unterdrückung ausgesetzt. Die vorherige Gleichsetzung von Judentum und Kommunismus im orthodoxen Klerus sorgte mit dafür, dass die KPdSU die Synagogen nicht bevorzugte und ihre Lehrer wie die der Kirche für fortgesetzten Religionsunterricht mit Zwangsarbeit oder in Schauprozessen mit dem Tod bestrafte.
Stalin aktivierte den orthodoxen Antijudaismus seit 1936 gegen alle abweichenden Meinungen und Gruppen in der KPdSU, besonders gegen vermeintliche oder tatsächliche Trotzkisten. Zwar lockerte er seit 1940 einige der antireligiösen Gesetze, um den traditionellen christlichen russischen Patriotismus gegen den Überfall Hitlerdeutschlands zu mobilisieren. Davon waren die Judengemeinden jedoch ausgenommen, obwohl ihre Angehörigen die Heimat nicht minder aufopferungsbereit verteidigten. Russische Juden wurden den Nazis teilweise ausgeliefert; die Rote Armee unternahm anfangs nichts gegen die Ghettoisierung der polnischen Juden.
Neu veröffentlichtes Archivmaterial u.a. des Zentralkommitees der KPdSU datiert den staatlich organisierten Antisemitismus auf 1938 (Kostyrtschenko 2005). Damals fragten führende Parteiorgane nach der angeblichen „Verunreinigung“ der Kader (Angestellten) im Volkskommissariat für Gesundheit: Die Hälfte der Familiennamen auf dieser Liste waren „jüdisch“. Von 1942 bis 1944 häuften sich innerparteiliche antisemitische Dokumente.
In den Kriegsjahren ließ Stalin die Wirkungen des latenten Antisemitismus im Staatsapparat aus innen- wie außenpolitischen Gründen möglichst bremsen. Doch mit Beginn des Kalten Krieges mussten die Juden wieder für ihn die Rolle des inneren Feindes übernehmen. Die bisher veröffentlichten, noch unübersetzten russischen Dokumente, fast alle „geheim“ gestempelt, lassen die Abfolge dieser Politik erkennen:
- gewaltsame Auflösung des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“,
- Repressionen gegen die Führer des Jüdischen Autonomen Gebiets,
- Vernichtung der jiddischen Kultur,
- eine Kampagne gegen „heimatlosen Kosmopolitismus“,
- „Säuberungen“ in den Kadern von Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesundheitswesen.
Hier zeigt sich, dass der stalinistische Antisemitismus weniger offen propagiert wurde als bei den Nationalsozialisten. Er wurde politisch dosiert und tarnte sich durch die Ideologie des „Internationalismus“, also Juden als weltweiter Feind betrachtet (insbes. der Dritten Welt), obwohl zuallererst die russischen Juden gemeint waren. Säuberungsbefehle wurden fast immer mündlich angeordnet und weitergegeben. Dazu reichten Tarnworte aus, da fast alle Parteikader (außer den jüdischen) ohnehin antisemitisch eingestellt waren und wussten, worum es ging.
Als Stalin todkrank war, erreichte der staatliche Antisemitismus in der „Affäre der Kreml-Ärzte“ einen Höhepunkt. Stalins Tod 1953 beendete mögliche Pläne zu größeren Judenverfolgungen. Erst unter seinen Nachfolgern kam es wieder zu einem teilweise staatlich verordneten Austausch zwischen und einer Annäherung von Christen und Juden Russlands.
Schweiz
Die Ablehnung von Juden war in der Schweiz lange sehr stark. 1848 erhielten nur die Schweizer Christen die vollen Staatsbürgerrechte. Bis etwa 1850 weigerten sich die meisten Kantone der Schweiz, Juden die Ansiedlung zu gestatten. Erst 1866 brachte eine Volksabstimmung ihnen die vollen bürgerlichen Rechte und erlaubte ihnen auch die freie Religionsausübung.
1874 beseitigte die Revision der Bundesverfassung die letzten antijüdischen Bestimmungen und ermöglichte so die volle Integration der jüdischen Minderheit. Jedoch blieb auch danach eine antisemitische Grundströmung erhalten: Diese führte 1892 zum Verbot des Schächtens und zu einer verstärkten Publikation von antisemitischen Schriften.
In der französischen Schweiz war die Haltung der Bevölkerung mehrheitlich tolerant gegenüber Juden. In Genf setzte sich die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz seit der Französischen Revolution zuerst durch. Hinzu kam hier die Tradition des Calvinismus, die das Alte Testament betonte und damit eine gemeinsame Basis mit dem Judentum hatte. Gerade Schweizer Theologen wie Leonhard Ragaz erteilten dem in den Nachbarstaaten wachsenden Antisemitismus nach dem 1. Weltkrieg eine klare Absage und strebten die Versöhnung beider Religionen an.
Skandinavien
In Dänemark erhielten die Juden 1849 die bürgerliche Gleichberechtigung und wurden ohne Störungen integriert.
In Schweden wurden antijüdische Sondergesetze langsamer abgebaut: 1870 blieben den Juden aber nur noch der Reichsrat und Ministerämter verwehrt.
In Norwegen wurde Juden der Zuzug bis 1851 ganz verboten. Ein antisemitischer Rassenhass war jedoch in keinem der drei Staaten feststellbar.
Erst unter dem Einfluss des Berliner Antisemitismusstreits kam es auch in Skandinavien unvermutet zu antijüdischen Reaktionen gegen die Judenemanzipation: So polemisierte der norwegische Theologe F.C. Heuch 1879 gegen den jüdischen Literaturhistoriker Georg Brandes, der in Anlehnung an Gotthold Ephraim Lessing einen humanistischen Fortschrittsglauben vertrat. Heuch sah das „glaubenslose Reformjudentum“ als gefährlichen Feind des Christentums, das auf dessen Ausrottung hinarbeite.
Ähnlich warnte auch der Kopenhagener Pastor Fredrik Nielsen 1880 vor dem „modernen Judentum“, das von Lessing, Moses Mendelssohn und Abraham Geiger inspiriertes Anti-Christentum sei. Beide hatten jedoch kaum eine nachhaltige Wirkung auf das Geistesleben ihrer Länder.
USA
Die Puritaner hatten als Calvinisten das Alte Testament großgeschrieben. Die Sehnsucht nach freier Religionsausübung war ein Hauptmotiv für ihre Auswanderung in die damals noch britischen Kolonien. Die in der Bill of Rights 1776 verankerte religiöse Toleranz ließ die USA zum idealen Ziel vieler in Europa bedrängter und religiös verfolgter Gruppen, auch der Juden werden.
Bis 1850 lebten nur etwa 60.000 Juden in den USA. Seit den russischen Pogromen von 1881 kamen jährlich 6.000 russische Juden dazu. Bis 1910 stieg die Zahl der amerikanischen Juden so auf insgesamt zwei Millionen. Um 1930 lebten schon über vier Millionen Juden in den USA. Dieser enorme Zuzug führte zu regionalen Spannungen, die 1921 zu einer gesetzlichen Begrenzung der jüdischen Zuwanderung vor allem aus Südosteuropa durch ein Quotensystem führten.
Seit 1879 beeinflussten deutsche und französische antisemitische Schriften die Öffentlichkeit in den USA etwas. Der deutsche Lehrer und Antisemit Hermann Ahlwardt versuchte seit 1896, auch in den USA nach deutschem Vorbild eine antisemitische Partei zu gründen, scheiterte jedoch.
Freikirchen hatten in den USA ein traditionelles Interesse an der Judenmission. Um 1900 wurde diese von über 30 Konfessionen und Verbänden gepflegt. Aber schon 1890 kam es zu einer nationalen Konferenz von Juden und Christen, die einander besser kennen lernen wollten, zusammen Vorträge hörten und beteten. Die Abschlusserklärung proklamierte, dass jede ungerechte Behandlung von Juden und ihr Ausschluss zu sozialen Vorteilen „unamerikanisch“ und „unchristlich“ seien.
Erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstand auch in den USA eine antisemitische Strömung. Dafür war seit 1920 vor allem die Kampagne von Henry Ford verantwortlich. Gegen seine öffentlichen Anklagen in der Zeitung Dearborn Independent erhoben sich jedoch sofort anhaltende Proteste von vielen Seiten, darunter dem Verband der Churches of Christ in America. In Großannoncen veröffentlichten u.a. 119 angesehene Bürger ihre Abscheu vor Fords antisemitischen Hetzparolen:
- Antisemitismus ist fast unabänderlich verbunden mit Gesetzlosigkeit, Brutalität und Ungerechtigkeit. Er ist ebenso unausweichlich verflochten mit anderen dunklen Gewalten, vornehmlich jenen, die korrupt, reaktionär und voll Unterdrückung sind. Wir glauben, der Kampf gegen diese Pest sollte nicht den Männern und Frauen jüdischen Glaubens überlassen bleiben…
1927 widerrief Ford angesichts des breiten innenpolitischen Widerstands seine antisemitische Erklärung und brach die Kampagne ab.
Eine gewisse Nachwirkung zeigte sich an manchen Hochschulen: So führte zum Beispiel die Yale University 1925 ein diskriminierendes Aufnahmesystem ein, das Kinder von nichtjüdischen Absolventen bevorzugte, um so den Anteil jüdischer Studierender zu begrenzen.
In den 1930er Jahren waren Radiosendungen des antisemitischen katholischen Priesters Charles Coughlin sehr beliebt. In den Südstaaten ist unter den weißen Protestanten die Ablehnung „jüdischer Yankees“ der „Wallstreet“ – also der städtischen Hochfinanz der Nordstaaten – zum Teil bis heute verwurzelt.
Japan und China
Nach Japan waren seit 1854 einige wenige Juden ausgewandert, die sich kaum von anderen westlichen Einwanderern unterschieden und auch nicht anders wahrgenommen wurden. Antisemitismus war unter Japanern unbekannt, bis westliche Bildungsliteratur – vor allem das Neue Testament und Shakespeare – ins Japanische übersetzt wurden. Nach Lenins Oktoberrevolution 1917 veröffentlichten die mit den Japanern gegen die Bolschewisten verbündeten weißrussischen Truppen erstmals antisemitische Propaganda in Japan, wonach die Revolution eine Verschwörung von Juden gewesen sei. 1919 wurden die Protokolle der Weisen von Zion ins Japanische übersetzt.
Die politische Annäherung des von der Weltwirtschaftskrise ebenso gebeutelten Japans an Deutschland begann 1930. Damit einher ging der Import von nationalsozialistischer Propaganda, darunter Hitlers Mein Kampf.[24]
Als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und um die USA zu Investitionen in Japan zu bringen, erwog die japanische Regierung seit 1930, Zehntausende jüdische Flüchtlinge aus Europa in der Mandschurei anzusiedeln und anzuwerben (Fugu Plan). Man glaubte, Juden könnten Japans Wohlstand mehren und seine internationalen Handelsbeziehungen – besonders zu den USA, die man unter der Kontrolle amerikanischer Juden wähnte - verbessern. Der Plan war also nicht judenfreundlich, sondern aus dem aus Europa übernommenen Glauben an eine jüdische Weltherrschaft motiviert.
Nach dem Anschluss Österreichs gewann der Plan konkrete Gestalt; doch nach dem Pakt Japans mit Deutschland und Italien 1941 blieb die Umsetzung aus (siehe dazu: en:Fugu Plan). Die Regierung schürte den großjapanischen Nationalismus, ohne jedoch die in Japan lebenden Juden zu verfolgen. Erst aufgrund einer deutschen Intervention wurden in Kobe Juden verhaftet.
In China wurde ein jüdisches Ghetto in Shanghai eingerichtet (Hongkou-Ghetto).
Quellen
- ↑ Jewish Encyclopedia, Artikel Anti-Semitism
- ↑ Strauss/Kampe, Die Juden in Staat und Wirtschaft der Voremanzipationszeit, in: Antisemitismus S. 77-82
- ↑ Ursula Hohmann: Nicht immer waren Deutsche Philosophen Juden wohl gesonnen
- ↑ Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation S. 212
- ↑ Winfried Seibert: Antisemitismus in Rheinhessen
- ↑ Andrea Djuren, Nicole Hummel: Entwicklungslinien des Antisemitismus bis zum Ende des Kaiserreiches (pdf)
- ↑ Antisemitismus bei J.G. Fichte
- ↑ Ursula Hohmann, a.a.O.
- ↑ Diether Huhn, Von Schleiermacher zu Hegel
- ↑ zitiert nach Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe S. 612-623
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 111-135
- ↑ nach Weltgeschichte im Aufriss Band 2, Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 114
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 198 und 202
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 246-261
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 208f
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 196
- ↑ Frankfurter Rundschau: Kaiser Titus' Dummheit
- ↑ Wilhelm Mommsen, Deutsche Parteiprogramme S. 84, zitiert nach Neuer Antisemitismus? S. 19
- ↑ Frankfurter Rundschau: Kaiser Titus' Dummheit
- ↑ Julius H. Schoeps, Wie antisemitisch waren die Sozialisten? in: Über Juden und Deutsche S. 110-115
- ↑ Erb/Bergmann, a.a.O. S. 195
- ↑ Guido Knopp, Holokaust S. 23
- ↑ David: Antisemitismus ohne Juden
Literatur
Begriff
- Thomas Nipperdey, Reinhard Rürup: Antisemitismus. In: Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Klett, Stuttgart 1972
- Gustav Weil: Semitische Völker. – in: Carl von Rotteck / Carl T. Welcker (Hrsg.): Das Staats-Lexikon. Keip, Frankfurt am Main 1990 (Reprint der Ausgabe Altona 1845), ISBN 3-8051-0054-X
- Ferdinand Hitzig: Semitische Völker und semitisches Recht. In: Deutsches Staatswörterbuch Hrsg. Johann Caspar Bluntschli, Karl Brater. Keip, Frankfurt am Main 1983 (Reprint der Ausgabe Stuttgart 1865)
- Georg Christoph Berger Waldenegg: Antisemitismus: 'Eine gefährliche Vokabel'? 2003, ISBN 3-205-77096-X
Vorgeschichte
- Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass: Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. Luchterhand, München 2000, ISBN 3-630-62028-0
- Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung: Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. – Schwalbach/Taunus : Wochenschau-Verl., 1999. – ISBN 3-87920-485-3
- Nicoline Hortzitz: Früh-Antisemitismus in Deutschland (1789-1871/72). Niemeyer Max Verlag GmbH, Tübingen 1988, ISBN 3484310839
- Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450-1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Universitätsverlag Winter, 2005, ISBN 3825313654
- Ismar Elbogen, Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Europäische Verlagsanstalt (eva), 1993, ISBN 3434462074
Geschichte
- Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hrsg.): Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungswahn des Antisemitismus. – Freiburg: ça ira, 2001. – ISBN 3-924627-69-x [1]
- Alex Bein: Die Judenfrage. Band 1: Biographie eines Weltproblems. Band 2: Anmerkungen, Exkurse, Register. DVA, Stuttgart 1980, ISBN 3-421-01963-0
- Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47987-1
- Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung: Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-596-26634-3
- Detlev Claussen (Hrsg.): Vom Judenhaß zum Antisemitismus : Materialien einer verleugneten Geschichte. Luchterhand, Darmstadt 1988, ISBN 3-630-61677-1
- Klemens Felden: Die Übernahme des antisemitischen Stereotyps als soziale Norm durch die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands (1875-1900). Dissertation, Heidelberg 1963
- Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Wissenschaftliche Buch-Gesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-80016-8
- Gerhard Hanloser: Krise und Antisemitismus: Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute. Unrast, Münster 2003, ISBN 3-89771-423-X
- Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700 - 1933, München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1989, ISBN 3-372-00379-9
- Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. Fink, München 2003, ISBN 3-8252-2408-2
- Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Vs Verlag, 2002, ISBN 3810036919
- Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus VI.: Emanzipation und Rassenwahn. Athenaeum Verlag, Bodenheim 1991, ISBN 3610004169
- derselbe: Geschichte des Antisemitismus VII.: Zwischen Assimilation und jüdischer Weltverschwörung. Jüdischer Verlag 1988, ISBN 3633540296
- Herbert A. Strauss, Norbert Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1988, ISBN 359333464X (interdisziplinäre Aufsatzsammlung mit Epochenquerschnitten)
- Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen: Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit bis Hitler. Klostermann, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03222-5
Deutsches Kaiserreich
- Norbert Kampe: Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich: Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, ISBN 3-525-35738-9
- Stefan Lehr: Antisemitismus – Religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Christian Kaiser Verlag, München 1974, ISBN 3-459-00894-6
- Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-458-32798-3
- Peter G. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-36954-9
- Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers: Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Picus-Verlag, Wien 1997, ISBN 3-85452-415-3
- Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997
Zeit des Nationalsozialismus
- Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus – ein theoretischer Versuch. (S. 242–254) In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-24398-X
- Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. 2. Auflage, Bonn 1992, ISBN 3-8012-5015-6
Andere Länder
- Michael Selzer (Hrsg.): „Kike!“: A documentary history of anti-semitism in America. World Publications, New York City 1972, ISBN 0-529-04471-4
- Steven A. Carr: Hollywood and anti-semitism: A cultural history up to World War II. University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-57118-9
- G. W. Kostyrtschenko (Hrsg.): Gosudarstwennyi antisemitism w SSSR. Ot natschala do kulminatsii 1938-1953. Moskau: Verlag Materik, 2005, 592 Seiten (Dokumentensammlung über staatlichen Antisemitismus in der UdSSR, bisher nur in russischer Sprache)
- Karl Heinrich Rengsdorf (Hrsg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen. 2 Bände, DTV (Klett-Cotta) TB Nr. 4478, München 1988, ISBN 3129067205 (Bd. 1), ISBN 3129067302 (Bd. 2)
- Bruce Pauley: Vom Vorurteil zur Vernichtung. Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Kremayr und Scheriau, 1993, ISBN 3218005671
Antisemitismus-Theorien
- Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code: 10 Essays. Beck, München 2000, ISBN 3-406-42149-0
- Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus. In: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-50519-4
- Wolfgang Benz, Angelika Königseder (Hrsg.): Judenfeindschaft als Paradigma: Studien zur Vorurteilsforschung. Metropol Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-936411-09-3
- Jean Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Rowohlt, Reinbek 1994, ISBN 3-499-13149-8
- Ulrich Enderwitz: Antisemitismus und Volksstaat: Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung. Ça ira Verlag, Freiburg im Breisgau 1998, ISBN 3-924627-28-2
- Friedrich Engels: Über den Antisemitismus. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Dietz, Berlin 1982 (= MEW 22)
- Abraham Léon: Die jüdische Frage: Eine marxistische Darstellung. Arbeiterpresse-Verlag, Essen 1995, ISBN 3-88634-064-3
Siehe auch
- Judenfeindlichkeit (Überblicksartikel)
- Antike Judenfeindschaft
- Antijudaismus im Neuen Testament
- Antijudaismus im Mittelalter
- Antijudaismus in der Neuzeit
- Bäder-Antisemitismus
- Antisemitismus nach 1945
- Arabischer Antisemitismus
- Antisemitismusforschung
- Vordenker des Nationalsozialismus
- Rassentheorien
Weblinks
Biografien und Werke von Antisemiten
- Biografien von Antisemiten des 19. Jahrhunderts
- Werke von Antisemiten um 1900
- [2] ausführliche wiss. Bibliographie: AS in Deutschland 1848 bis 1914 (in Arbeit: -bis 1933)
Geschichte
- Jacob Katz: Frühantisemitismus in Deutschland
- Baustein.dgb: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen. Antisemitische Bilder und ihre Geschichte
- Shoa.de: Vom religiösen Antijudaismus bis zur Endlösung
- Ursula Hohmann: Über judenfeindliche Tendenzen der Aufklärung
- Ludger Heid: „Was der Jude glaubt, ist einerlei…“ Der Rassenantisemitismus in Deutschland (1800-1933)
- Deutsches Historisches Museum: Antisemitismus im Kaiserreich
- Kulturkritik.net: Antisemitismus
- IDGR: Antisemitismus
- Hagalil: Weiterführende Artikel
- Holocaust-Referenz: Antisemitismus
- Shoa.de: Das antisemitische Stereotyp
- Jüdisches Leben in Deutschland von 1914 – 2005. Ein Onlineangebot der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschen Historischen Museums.
- Andrea Djuren, Nicole Hummel: Entwicklungslinien des Antisemitismus bis zum Ende des Kaiserreiches (pdf)
Ländersituationen
- Antisemitismus in Österreich
- Anti-Defamation League: Antisemitismus und Rassismus in den USA
- Japan und die Juden 1933-45
- ZDF-Sendung zu Juden in Asien
- Juden in Arabien 1933-45