Kirchenrecht ist das von Religionsgemeinschaften selbst gesetzte interne Recht. Entgegen dem Wortlaut betrifft das Kirchenrecht keineswegs nur Kirchen, sondern alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Als Konsequenz von Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche ist in Deutschland das Recht der Religionsgemeinschaften, innere Angelegenheiten selbst zu regeln, in der Verfassung, dem Grundgesetz, verankert (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 III WRV). Hat die jeweilige Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts (sog. Körperschaftsstatus), so ist ihr internes Kirchenrecht Öffentliches Recht. Dabei geht das deutsche Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, die Rechtsetzungsbefugnis der Religionsgemeinschaften sei nicht vom Staat abgeleitet oder verliehen, sondern originär.
Nicht zu verwechseln ist das Kirchenrecht mit dem Staatskirchenrecht: Letzteres ist nicht innerkirchliches, sondern staatliches Recht, das sich mit dem Status der Religionsgemeinschaften befasst.
Wesen und Bedeutung
Das westkirchliche Kirchenrecht geht auf scholastische Traditionen (insb. Gratian und auch Thomas von Aquin) zurück. Historisch gesehen hat das römisch-katholische Recht lange Jahre Vorbildwirkung für das staatliche Recht ausgeübt. Zahlreiche Institute (z.B. der Dispens) wurden aus ihm entlehnt, das Studium "beider Rechte" (so die Übersetzung des juristischen Doktortitels: Dr. utr[iusque]. iur[is].) war über Jahrhunderte Selbstverständlichkeit.
Umstritten ist die Rechtsqualität des Kirchenrechts. Die von Johannes Heckel geprägte dualistische Kirchenrechtslehre hält kirchliches und weltliches Recht für wesensverschieden. Die wohl herrschende monistische Kirchenrechtslehre, die insbesondere von Hans Dombois vertreten wurde, sieht dagegen keinen solchen Unterschied, sondern in beiden Fällen verbindliche Normen mit Geltungsanspruch. In der Praxis spielt diese rechtsphilosophische Streitfrage keine Rolle.
Bedeutung für die römisch-katholische Kirche
Das Zweite Vatikanische Konzil geht von der Kirche als Volk Gottes aus und daher vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen unter denen eine fundamentale Gleichheit besteht, indem alle am Dienst der Verkündigung, der Heiligung und der Leitung teilhaben (Communio fidelium). Innerhalb der Christgläubigen werden Träger besonderer Leitungsvollmacht (Papst und Bischöfe)unterschieden, deren Legitimation aus der Sendung des Zwölferkreises mit Petrus an der Spitze folgt (Communio hierarchica). Dieses hierarchische Priestertum unterscheidet sich vom gemeinsamen nicht dem Grade, sondern dem Wesen nach. Damit ist der Irrtum vermieden, es handele sich bei hierarchischen Priestertum um eine besondere Steigerung des gemeinsamen. Es will vielmehr ausgesagt sein, daß den Glauben zu verkündigen tatsächlich etwas anderes ist, als der Glaube selbst. Beide, communio fidelium und communio hierarchica sind aufeinander bezogen und üben die eine Sendung der Kirche aus. Da diese kirchliche communio kein unbestimmtes Gefühl ist, sondern eine organisch und synodal strukturierte Wirklichkeit, die auch eine rechtliche Gestalt verlangt. Insofern ist das Kirchenrecht theologisch notwendig und begründet.Dies schließt eine neuscholastisches, rein juridisch geprägtes pyramidales Kirchenbild von vornherein aus. In dieser Perpektive kann man davon sprechen, daß sich die römisch-katholische Kirche als Institution ganz wesentlich über die Apostolische Sukzession legitimiert, also die Kontinuität bis zu Petrus als erstem Papst und Bischof von Rom: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen" (Mt 16,18). Dies erinnert deutlich an einen juristischen Übertragungstatbestand, etwa die Erteilung einer (Unter-)Vollmacht. Doch zeigt diese Redeweise, daß es sich hier um eine Terminologie handeln würde, die in der Zeit vor dem II. Vatikanischen Konzil wurzelt. Die Kirche kennt nicht nur menschengemachtes, sondern auch unmittelbar bindendes, unabänderliches göttliches Recht (ius divinum).
Bedeutung für die reformatorischen Kirchen
Die reformatorischen Kirchen haben sich mit der Reformation aus der Rechtskontinuität des katholischen Kirchenrechts gelöst. Da sie keine Trennung zwischen Priestern und Laien kennen ("Priestertum aller Gläubigen"), fehlt es auch an jeder Grundlage für eine der Apostolischen Sukzession entsprechende Legitimation.
Aus dieser Situation entstand der Zwang, sich dennoch als (weltweite, alle Christen umfassende) Kirche verstehen zu können. Die Grundlagen legte das Augsburger Bekenntnis (AB) und dessen Art. 7, der "Kirche" als "Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden" versteht. Damit lehnt sich die reformatorische Auffassung an den Gemeindebegriff von Apg 2,42 an: "Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet."
Dem Kirchenrecht kommt neben diesem inhaltlich bestimmten Kirchenbegriff (Bibel - Beisammensein - Brotbrechen - Beten) eine der katholischen Kirche vergleichbare Bedeutung daher nicht zu: "(...) es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, daß überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden" (Art. 7 AB).
Damit stellt sich für die reformatorischen Kirche aber die Frage des Verhältnisses der rechtlich existierenden Kirche zur "geistigen" Kirche. Abhängig vom jeweiligen Kirchenverständnis wurde in der evangelischen Kirche die Existenz von Kirchenrecht sogar vollkommen geleugnet (Rudolph Sohm: "Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch."). Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, Recht könne überhaupt nur vom Staat gesetzt werden. Diese Ansicht gab die kirchlichen Strukturen freilich völlig dem staatlichen Zugriff preis.
Diese Ansicht wurde dann auch in der Erfahrung des Kirchenkampfes des Dritten Reiches dahingehend überwunden, dass die Notwendigkeit vom Staat unabhängiger Kirchenordnungen erkannt wurde (Barmer Theologische Erklärung) - der Kirche als Gemeinschaft konnte es eben doch nicht egal sein, wer ihre rechtlichen Strukturen lenkte (Nr. 3: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt (...) ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugung überlassen."; Nr. 4: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen."). Eine kirchenlegitimierende Bedeutung hat das Kirchenrecht in der evangelischen Kirche aber dadurch nicht erlangt.
Das Kirchenrecht der Ostkirchen
In den Ostkirchen spielt der Rechtsgedanke insgesamt eine wesentlich geringere Rolle als in den westlichen Kirchen. Die stärkeren staatlichen Strukturen in ihren Gebieten machten die Entwicklung einer eigenen Gesetzgebungs- und Rechtsprechungstradition weniger notwendig. Das dortige Kirchenrecht besteht im wesentlichen aus einer kleinen Zahl ausformulierter Regeln und einer großen Zahl Gewohnheiten, die meist sehr flexibel gehandhabt werden, in einigen Ländern und Zeiten flexibel bis zur faktischen Anarchie, zu Lasten von Rechtssicherheit und geordneten Verhältnissen.
Rechtsquellen
Das Recht der römisch-katholischen Kirche (beziehungsweise eigentlich der lateinischen Kirche), das sogenannte kanonische Recht, unterscheidet göttliches (Ius divinum) und rein kirchliches (ius mere ecclesiasticum) Recht.Das Ius divinum gliedert sich wiederum in das Offenbarungsrecht (Ius divinum positvum) und das Naturrecht (Ius divinum naturale). Rechtsquellen des kirchlichen Rechts sind Gesetzgebung und Gewohnheit. Manche Rechtssätze gelten gesamtkirchlich (universal), andere sind nur partikulares Recht. Es gibt ein umfassendes Gesetzbuch, den auf Latein verfassten Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC/1983). Davor galt der Codex Iuris Canonici von 1917 (CIC/1917), auch pio-benediktinischer Codex genannt. Man spricht auch vom altkodikarischen Recht im Gegensatz zum CIC/1983, der kodikarisches Recht genannt wird. Die mit Rom unierten Ostkirchen haben einen eigenen, von der lateinischen (römischen) Kirche abweichenden Kanon den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium.
Das evangelische Kirchenrecht ist demgegenüber mangels einheitlicher Institutionen dezentraler. Die Rechtsetzung beschränkt sich auf die einzelnen Landeskirchen (mit darauf beschränkter Entfaltung von Gewohnheitsrecht). In Deutschland hat die EKD nur in wenigen Gebieten Kompetenzen zur Setzung unmittelbar anwendbaren Rechts. Verstärkt verständigen sich die Landeskirchen in den konfessionellen Bünden (UEK und VELKD) auf gemeinsame Rechtsetzungen, beispielsweise im Pfarrdienstrecht. Die Kirchenverfassungen und darauf gestützten Gesetze und Verordnungen unterscheiden sich dennoch in erheblichem Umfang.
In der orthodoxen Kirche bilden die so genannten Kanones, das heißt, die Beschlüsse der Ökumenischen Konzilien sowie einige Äußerungen der Kirchenväter, den Kernbestand des Kirchlichen Rechts. Orthodoxe Bischöfe dürfen hiervon aber abweichen, wenn die "kluge Haushaltung im Hause Gottes" (Ökonomia) dies im Einzelfall verlangt.
Regelungsbereiche
Das Kirchenrecht regelt zunächst inneren Aufbau und Organisation der Religionsgemeinschaft (Mitgliedschaft, Kirchengemeinden, Leitungsorgane), also ihre Verfassung. Auf dieser Grundlage können kirchliche Gesetze und Verordnungen ergehen, die sich mit den unterschiedlichsten Themen befassen, beispielsweise Liturgie und Gottesdienstablauf ("Agende"), Kasualien ("Lebensordnungen"), Vermögensverwaltung und Steuern, Glocken-, Orgel- und Bauwesen, Dienstrecht und mehr.
Eine Besonderheit des römisch-katholischen Kirchenrechts ist das Eherecht samt kirchlichen Ehegerichten, das die evangelische Kirche nicht kennt. Die meisten evangelischen Kirchen verfügen dagegen über eigene Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit.
Für eine große Zahl von Arbeitnehmern in Diakonie und Caritas ist vor allem das Kirchliche Arbeitsrecht von großer praktischer Relevanz (Dritter Weg).
Literatur
- Axel Freiherr von Campenhausen: Staatskirchenrecht, 3. Aufl. München, 1996
- Matthias Herdegen: Völkerrecht, München 2004
- Richard Puza: Katholisches Kirchenrecht, 2. Auflage, Heidelberg 1993
- Albert Stein: Evangelisches Kirchenrecht, Neuwied-Darmstadt 1985
- Jörg Winter: Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Neuwied, 2001
- Stephan Haering/Heribert Schmitz: Lexikon des Kirchenrechts, Freiburg u. a. 2004
- Riedel-Spangenberger, Ilona, von Campenhausen, Axel Freiherr, Sebott, Reinhold: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, 3 Bde. Paderborn 2000-2004.
Siehe auch: Codex Iuris Canonici, Kanonisches Recht, Mitarbeitervertretung in der Kirche, Arbeitsrecht der Kirchen