Unter Kinderlosigkeit versteht man den freiwilligen oder unfreiwilligen Verzicht auf Kinder in der Lebensplanung. Der unfreiwillige Verzicht wird auch als unerfüllter Kinderwunsch bezeichnet.
Situation in Deutschland
Statistische Situation
Im Gegensatz zu der weithin als normal empfundenen Familie mit zwei Kindern liegt die Geburtenrate in Deutschland derzeit bei durchschnittlich 1,36 Kindern pro Frau; für den Fortbestand der Bevölkerungsgröße wären hingegen 2,1 Kinder pro Frau erforderlich. Dadurch zählt Deutschlands Geburtenrate zu den niedrigsten der Welt. Hieraus ergeben sich demographische Probleme: die Gesellschaft überaltert zunehmend, dadurch steigen die Kosten für Sozialausgaben und Krankenkassenbeiträge, während Nachwuchskräfte in der Wirtschaft zunehmend fehlen.
Besonders betroffen von Kinderlosigkeit scheinen gut Ausgebildete zu sein. Eine Zahl, die häufig genannt wird, ist ein Anteil von 43% der westdeutschen Akademikerinnen, die kinderlos bleiben (Stand 2005). Dieser Prozentsatz wird allerdings von anderer Seite als frei erfundene und bewusst gestreute Dramatisierung bezeichnet; tatsächlich gebe es keine verlässlichen Daten und Erhebungen, denn die Frage nach der Zahl der Kinder wurde aus der Erhebung im Rahmen des Mikrozensus herausgenommen. „Obwohl es der Mikrozensus so weismachen will: Akademikerinnen sind mitnichten schuld am deutschen Babyschwund.“ (B. Schwentker in der „Zeit“ vom 6. 10. 2005). Andere Schätzungen nennen 25% Kinderlosigkeit.
Weniger betroffen von Kinderlosigkeit sind ostdeutsche Frauen (22%) und Ausländerinnen (21%).
Ein Gutachten der Familienkommission der Bundesregierung weist 2005 darauf hin, dass die geringe Geburtenrate in Deutschland nicht allein durch hohe Kinderlosigkeit erklärt werden kann. Auch in den USA oder in Finnland, beides Länder mit hoher Geburtenrate, gibt es gut 20 Prozent kinderlose Frauen. In Deutschland fehlen jedoch die Mehrkindfamilien. In den USA haben doppelt so viele Familien drei Kinder als in Deutschland.
Ursachen
Wandel in Lebensplanung und Familienverständnis
Zunehmende Individualisierungstendenzen sowie flexiblere Erwerbstätigkeit, berufliche Karrieren oder konsumorientierte Lebensstile lösen seit den 1960er-Jahren zunehmend tradierte Familienvorstellungen ab. Hierbei könnte die häufig durch Werbung und Medien vermittelte Leitvorstellung von Erfolg und Karriere eine Rolle spielen.
Auch der spätere Berufseinstieg und fehlende Befassung mit Familienplanung spielen eine Rolle. Der Begriff "Familienplanung" wurde lange Zeit fast synonym mit dem Begriff "Empfängnisverhütung" gleichgesetzt. Die überwältigende Akzeptanz der Anti-Baby-Pille seit ihrem Erscheinen in den 1960er-Jahren zeigt, dass von weiten Teilen der Bevölkerung erwünscht war, die Kinderzahlen zu reduzieren.
Hielt früher auch aus ökonomischer Notwendigkeit eine Ehe das Leben lang, so hat die Bedeutung der Ehe stark abgenommen. Der Wechsel des Lebenspartners ist zur Realität geworden. Frauen können sich nicht mehr auf eine lebenslange finanzielle Absicherung verlassen, wenn sie als Hausfrau ihren Lebensschwerpunkt auf die Kindererziehung setzen. Sie sind mit der Möglichkeit einer Scheidung im Hinterkopf häufig dazu gewillt, für ihren Lebensunterhalt eine eigene Versorgungsgrundlage zu schaffen.
Schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Lange Ausbildungszeiten und zu geringe Akzeptanz berufstätiger Mütter durch Betriebe in Deutschland verhindern häufig eine frühe Mutterschaft. Heute sind insbesondere akademisch gebildete Bevölkerungsgruppen freiwillig kinderlos.
Die zunehmend geforderte Mobilität und Bereitschaft zum Wohnortwechsel führt häufig zum Getrenntleben oder erschwert die Partnersuche.
Als weiterer Grund für Kinderlosigkeit wird die unzureichende Kinderbetreuung in Deutschland, insbesondere in den alten Bundesländern, angesehen. Es ist oftmals nicht möglich, einen ganztägigen Betreuungsplatz für Kinder zu finden, so dass eine Vollzeitberufstätigkeit beider Elternteile, wie sie beispielsweise in Dänemark allgemein üblich ist, für diese nicht oder nur schwerlich realisierbar ist. Dies führt ebenfalls zu einem Einkommensverlust, der Familien im Vergleich zu Singles finanziell schlechter stellt.
Dazu kommt die zum Teil berechtigte Angst, nach einer Familiengründung nicht mehr in den Beruf zurück zu finden.
Finanzielle Belastung und sozialer Status
Von einigen Seiten wird als ein weiterer Grund angegeben, dass die finanziellen Belastungen durch Kinder in Deutschland einseitig auf Familien und Mütter mit Kindern abgewälzt würden und Kinder ein privates Luxusvergnügen seien. In der Tat ist unbestritten, dass Kinder hohe Kosten verursachen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer Entscheidung angemahnt, dass Familien mit Kindern in Deutschland durch Sozialleistungen im Verhältnis zu Kinderlosen überproportional belastet werden, ohne dass ihr Beitrag für den zukünftigen Erhalt des Sozialsystems ("Generationenvertrag") angemessen bei der Beitragserhebung berücksichtigt wird. Zur Abhilfe hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, Familien mit Kindern weiter zu entlasten. Ob dies in hinreichendem Maße geschehen ist, ist umstritten, da eine Förderung einerseits mit hohen Kosten verbunden ist und die Mittel hierfür daher sehr schwer aufzubringen sind und da andererseits die Meinungen über die Art der Förderung sehr weit auseinandergehen.
Da die Kosten für ein Kind besonders in einem Industrieland wie Deutschland hoch sind, wäre zu erwarten, dass die Zahl der Kinder mit dem Einkommen der Eltern steigt. Jedoch ist das Gegenteil der Fall: Menschen mit hohem Einkommen haben weniger Kinder. Man spricht hier vom demo-ökonomischen Paradoxon. Setzt man den in Deutschland seit 1961 bestehenden individuellen Sozialhilfeanspruch jedes Menschen als unveränderbar Voraus, so löst sich das Paradoxon. Menschen mit Einkommen unterhalb oder knapp oberhalb der Sozialhilfeniveau haben so gut wie keine Kosten oder gewinnen sogar noch. Besserverdienende hingegen müssen die Kosten aus eigenen, ansonsten frei verfügbaren Mitteln aufbringen und haben darüber hinaus noch Opportunitätskosten, also Einkommen, das während der Kinderbetreuung nicht verdient wird. Bei den Kosten für die Kinderbetreuung müssen auch die zusätzlichen, enormen Kosten einer statistisch wahrscheinlichen Scheidung mitberücksichtigt werden, da aufgrund der Entwicklung der Ehe von einem geschützten Vertrag hin zur Kenntnisnahme einer bestehenden Lebensgemeinschaft niemand mehr durch eigenes Verhalten den Fortbestand seiner Ehe garantieren kann.
Eine weitere Tatsache ist, dass insbesondere hoch qualifizierte Frauen selten einen geeigneten Partner finden, da sie Partner mit vergleichbarem Bildungsniveau bevorzugen, während Akademiker eher geringer qualifizierte Frauen in ihrer Partnerwahl berücksichtigen (siehe auch Partnerwahl). Etwa 25% der Akademikerinnen sind kinderlos, der Anteil kinderloser Akademiker ist noch höher.
Pessimismus
Indessen dürfte auch ein allgemeines Misstrauen der Menschen in die Zukunft dazu beitragen, dass die individuellen Chancen, Kindern einen Weg in ein angemessenes Leben gewährleisten zu können, immer pessimistischer beurteilt werden. Bezog sich der Satz "In diese Welt will ich keine Kinder setzen" in den 1980er-Jahren vor allem auf die damals globalen Ängste vor atomarer Bedrohung und Umweltzerstörung, so ist heute Unlust an einer einseitig auf individuellen Wohlstand ausgerichteten Gesellschaft hinzugekommen. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und das Misstrauen in das dahinter stehende Wirtschaftssystem ist ein weiterer Faktor in einer negativen Beurteilung der Zukunftsperspektiven für sich und eventuellen eigenen Nachwuchs, hinzu kommt die Furcht vor einer zunehmenden individuellen Existzenzgefährdung im Rahmen der Globalisierung. Dieser These widerspricht vermutlich, dass gerade arme Familien in Deutschland eher mehr Kinder haben und in weit ärmeren Volkswirtschaften weit mehr Kinder pro Frau geboren werden.
Vor diesem Hintergrund erlebt dieser Pessimismus derzeit in Deutschland seinen Höhepunkt. Eine Umfrage ergab 2005, dass die Deutschen im Mittel die pessimistischsten Menschen weltweit sind.
Sozialprestige kinderreicher Familien
Familien, die zwei oder drei Kinder erfolgreich großgezogen haben, haben in Deutschland kaum ein höheres Ansehen als kinderlose Paare mit dem selben Beruf. Neben dem linken Ansatz mehr Kindergeld = mehr Kinder gibt es die bürgerliche These, dass Kindergeld erst der allerletzte Aspekt der Förderungspakete für Familien sein darf, weil die postulierte Wirkung sonst nicht oder nur temporär greife. In Westdeutschland gelten Mütter, die ihre Kinder in Krippen und Kindergärten betreuen lassen, teilweise noch als schlechtere Mütter, obwohl die Erziehungswissenschaft sich dem entgegenstellt. Außerdem ist in Westdeutschland das Angebot an Unterbringungsmöglichkeiten dieser Einrichtungen knapp. Das zweite Kind wird im Osten oft geboren aus der Erfahrung heraus, dass diese Betreuung beim ersten so gut geklappt hat.
Trivia
Das Wort Kinderlose war im Juli 2004 eines der Worte der Woche - ausgelöst durch durch die Steuerreformen in Deutschland und in Österreich sowie die Diskussion über Familien- und Rentenpolitik.
Biologische Ursachen
Oft führen medizinische Ursachen zu Kinderlosigkeit. Ursachen dafür sind zum Beispiel Unfruchtbarkeit bei Mann oder Frau, Unverträglichkeit von Erbanlagen (bestimmte Blutgruppenunverträglichkeiten), Unfälle, frühere chirurgische Eingriffe oder Behandlungen mit Medikamenten, die zur Abstoßung des Embryos führen (z.B. bestimmte Bluttransfussionen), Überlastung, Erwartungsangst und andere.
Ursache für Kinderlosigkeit kann auch ein zu später Beginn des Kinderwunsches sein. So geraten viele Paare in letztlich ungewollte Kinderlosigkeit, weil sie eigentlich gewollte Kinder immer wieder auf einen späteren Zeitpunkt aufschieben. Später gelingt ihnen dann durch das Fortschreiten der biologischen Uhr die Zeugung eines Kindes nicht mehr.
Zusätzlich können dazu Faktoren in der Lebensumwelt und Ernährung auftreten (chemische oder andere Belastungen, Hormonbelastungen)
Siehe auch
Literatur
- Carl, Christine: Leben ohne Kinder. Wenn Frauen keine Mütter sein wollen, Reinbek: Rowohlt 2002, ISBN 3-499-61384-0
- Mersch, Peter: Land ohne Kinder - Wege aus der demographischen Krise Norderstedt: BoD Mai 2006, ISBN 3-8334-4922-5
- Gaschke, Susanne: Die Emanzipationsfalle - Erfolgreich, einsam, kinderlos C. Bertelsmann 2005, ISBN 3-570-00821-5
- Kofler, Birgit: Kinderlos, na und? Kein Baby an Bord Orac 2006, ISBN 3-7015-0484-9
- Baier, Stephan: Kinderlos - Europa in der demographischen Falle MM 2004, ISBN 3-928272-16-0
Weblinks
- Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
- Zentrum für Reproduktionsmedizin Essen. Eines der ältesten Zentren in der BRD
- http://www.single-generation.de/
- Studie zur Kinderlosigkeit
- Karikatur: Kinderlosigkeit und Sozialprestige
- Verweigerung des demografischen Auftrags (Telepolis)
- Von der Schöpfung zur Erschöpfung - Über schlappe Spermien und andere Formen der Schöpfungsunlust Telepolis