Kladistik

Methode der biologischen Systematik innerhalb der Evolutionsbiologie
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Die Kladistik oder auch phylogenetische Systematik ist eine Methode innerhalb der Evolutionsbiologie. Sie wurde von dem deutschen Zoologen Willi Hennig in den 1950ern umrissen und in seinem Lehrbuch "Phylogenetic Systematics" 1966 beschrieben.

Die phylogenetische Systematik zielt darauf ab, ein System der Organismen zu erstellen, welches ausschließlich auf phylogenetischer Verwandtschaft basiert. Gruppen innerhalb eines solchen Systems müssen monophyletisch sein. Eine monophyletische Gruppe enthält alle Nachfahren einer Stammart sowie die Stammart selbst, jedoch keine Arten die nicht Nachfahre dieser Stammart sind. Die Merkmalsausstattung der Stammart entspricht dem während der Analyse zu rekonstruierenden Grundplan. Grundlage für die Erstellung monophyletischer Gruppen sind gemeinsame abgeleitete Merkmale, so genannte Synapomorphien. Der Grundplan repräsentiert die Gesamtheit der nicht abgeleiteten Merkmale (Plesiomorphien) der Gruppen. Im Gegensatz zum idealistischen Bauplan, welcher die Gesamtheit aller Merkmale einer Gruppe in sich vereint, entspricht also der Grundplan einer Art, die real existiert haben könnte.

Das Ergebnis einer kladistischen Analyse ist eine Verwandschaftshypothese, die als "Kladogram" (Hennig: "Argumentationsschema der phylogenetischen Systematik") dargestellt wird. Anders als ein Stammbaum hat das Kladogram nur terminale Taxa. Es impliziert damit also nicht die Entwicklung einer rezenten Form aus einer anderen. Die Knotenpunkte eines Kladograms entsprechen der Stammart der beiden aus ihnen hervorgehenden Schwestergruppen, von denen sie sich durch die Autapomorphien der jeweiligen Schwestergruppen unterscheiden.

Die Kladistik widerspricht einem so genannten "Fortschrittsvorurteil", das eine Entwicklung "von den Wirbellosen zu den Menschen" festzustellen meint. Sie basiert ausschließlich auf phylogenetischer Verwandtschaft, ohne auf (offensichtliche oder auch vermeintliche) Ähnlichkeiten Rücksicht zu nehmen.

Kladogramme

Die Darstellung der Verwandtschaftsverhältnisse erfolgt in so genannten Kladogrammen. Diese unterscheiden sich von evolutionären Stammbäumen in den folgenden Punkten

  • Bei einer Verzweigung gibt es immer nur zwei Äste (dichotome Verzweigung).
  • Die Verzweigungen werden nicht gewichtet, man hat also kein Maß für die Änderung, um es in einem Kladogramm darzustellen. (In evolutionären Stammbäumen kann man ein solches Maß in unterschiedlichen Steckenlänge für Abzweigungen darstellen, siehe auch Divergenz).
  • Es gibt keine absolute Zeitachse.

Jeder Ast ist durch ein abgeleitetes Merkmal begründet. Was dieses Merkmal jeweils sein soll, ist Gegenstand der Forschung. So kann man z.B. Säugetiere von Nicht-Säugetieren anhand des Merkmals Haare trennen.

Nicht-Säugetier  Säugetiere 
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            \  Haare
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Beispiel eines Kladograms

Weitere exklusive abgeleitete Merkmale der Säugetiere (Synapomorphien der Säugetiere), sind nebst den Haaren übrigens das Vorhandensein von

Die Tatsache, dass sie Warmblüter sind, stellt keine dagegen keine Apomorphie der Säugetiere dar, da sie diese Eigenschaft mit den Vögeln (Aves) teilen.

Merkmale des Grundplanes koennen innerhalb der Gruppe wieder verloren gehen. Dies ist dann eine Autapomorphie des betroffenen Taxons. Ein Beispiel hierfür ist der sekundäre Verlust der Flügel bei vielen Fluginsekten (Pterygota).

Mensch, Gorilla und Schimpanse Darwin nahm an, dass zwischen den unten aufgeführten Arten die näheste Verwandtschaft zwischen Gorilla und Schimpansen bestünde und der Mensch eine Sonderstellung habe. Stephen Jay Gould sieht Indizien dafür, dass Menschen und Schimpansen sich am nächsten stehen und sich die Gorillas in der Entwicklungsgeschichte früher abgespaltet haben.

andere 
Menschenaffen Gorilla Menschen Schimpansen  
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            Kladogramm nach Mark Abraham

Biologische Systematik

Die biologische Systematik versteht sich heute als eine Wissenschaft, die Lebewesen anhand ihrer Abstammung klassifiziert. Daher ist die Kladistik eine ihrer Arbeitsmethoden.

Bei der Erstellung eines Kladogramms werden Eigenschaften der betrachteten Lebewesen verglichen. Es werden oft, aber nicht ausschließlich, morphologische Merkmale, Charakteristika des Stoffwechsels und genetische Informationen benutzt.

Danach werden eine Vielzahl von Kladogrammen erstellt. Dasjenige Kladogramm mit der geringsten Anzahl von notwendigen Veränderungen innerhalb des angenommenen Evolutionsverlaufes gilt als das wahrscheinlichste. Oft ist es bei der Angabe eines Kladogramms von Interesse, andere Kladogramme, die mit einer sehr ähnlichen Anzahl von Veränderungen konstruiert sind, ebenfalls zu betrachten.

Die Bioinformatik bedient sich für die Rekonstruktion von Kladogrammen diverser Standard-Softwarepackages, die multiple Sequenzalignments und die Variabilität einzelner Reste auswerten, wie z.B. Phylip.

Die traditionelle Namensgebung in der Biologie kann die baumartige Struktur der evolutionären Entwicklung nicht fassen. Daher wird eine phylogenetische Namensgebung, Phylocode genannt, diskutiert.

Verwandschaftsverhältnisse

Die Schwestergruppen von Kladogrammen (hier z.B. Menschen und Schimpansen) entsprechen nicht immer den bisher gebräuchlichen Einteilungseinheiten (Taxa) der biologischen Klassifikation. Man bezeichnet Taxa nach ihrer tatsächlichen Verwandtschaft als:

  • monophyletisch - die Gruppe hat eine gemeinsame Stammform und umfasst auch alle Untergruppen, die sich von dieser Stammform herleiten sowie die Stammform selbst, jedoch keine anderen Gruppen
  • paraphyletisch - die Gruppe (das Taxon) hat zwar eine gemeinsame Stammform, enthält aber nicht alle Gruppen eines Monophylums - Beispiel: Die Reptilien sind paraphyletisch da die Krokodile näher mit den Vögeln (welche klassischerweise nicht zu den Reptilien gezählt werden) verwandt sind als mit anderen Taxa der "Reptilien". Die Reptilien wären hingegen monophyletisch, wenn die Voegel in die Gruppe mit eingegliedert würden.
  • polyphyletisch - die Gruppe hat keine gemeinsame Stammform - Beispiel: Die "Würmer" im alten Sinn umfassen verwandtschaftlich völlig unterschiedliche Gruppen.

Die Systematik ist eine historische Wissenschaft, da man die Phylogenese der Organismen ohne Zeitmaschine nicht beobachten, sondern nur rekonstruieren kann. Daher werden alle Verwandtschaftshypothesen immer Hypothesen bleiben. Die phylogenetische Systematik versucht widerspruchsfreie Hypothesen aufzustellen und Verwandtschaftshypothesen welche miteinander in Konflikt stehen aufzulösen. Die Methodik der phylogenetischen Systematik gibt dem Wissenschaftler ein Instrumentarium an die Hand, das ihm erlaubt seine Argumentation reproduzierbar darzulegen.

Siehe auch: Teleologie, Frankfurter Organismus -und Evolutionstheorie