Wenn man über Homosexualität im Neuen Testament spricht, ist zuerst der Begriff Homosexualität zu problematisieren. Denn der heutige Begriff der Homosexualität und das damit verbundene Konzept von Homosexuellen als einer besonderen Gruppe von Menschen existierten zur Zeit der Abfassung der Bibel nicht. Diese Denkweisen entstanden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Zärtlichkeit und innige Liebe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts werden in der Bibel mehrfach positiv dargestellt (siehe den Abschnitt über das Johannes-Evangelium). Sie werden aber als solche nicht mit sexuellen Handlungen in Verbindung gebracht. Dies verwundert kaum, da das mosaische Gesetz (das eine Reihe uns heute sehr befremdlich erscheinender Vorschriften enthält) den Analverkehr zwischen Männern unter Androhung der Todesstrafe verbot (3. Buch Mose 19,20). Es ist allerdings kein Fall in der jüdischen Geschichte bekannt, in der diese Strafe auch angewandt worden wäre.
Für die ersten Christen war das mosaische Ritualgesetz nicht mehr relevant, das Alte Testament wurde jedoch von ihnen als die Heilige Schrift gesehen, allerdings von Jesus Christus her ausgelegt. Heute sehen viele die Überwindung des Gesetzes durch den Glauben und die Liebe als zentrale Botschaft des Neuen Testaments und fragen von daher, ob dessen Autoren den Beischlaf zwischen Männern samt und sonders als Sünde begriffen haben. Manche progressiven Ausleger versuchen dies anhand mehrerer Textstellen zu verdeutlichen, ernten damit aber nicht selten Widerspruch. Allerdings dürfte unbestritten sein, dass selbst Paulus, der sich als einziger wirklich zu dem Thema geäußert hat, seine ablehnende Haltung nicht mehr aus dem mosaischen Gesetz herleitete.
Paulus
Paulus betrachtet im Römerbrief den mannmännlichen Beischlaf als ein Kennzeichen der Heiden. So wie sie in der Götzenanbetung die Geschöpfe mit dem Schöpfer vertauscht hätten, habe dieser sie zur Strafe der schändlichen "Vertauschung" ihrer Leidenschaften ausgeliefert:
- "Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung." (Röm 1,26-27).
Bemerkenswert ist, dass der gleichgeschlechtliche Verkehr als Folge, nicht als Ursache von Gottverlassenheit dargestellt wird. Ob sich der Vers auch auf lesbische Sexualität bezieht, ist umstritten, da bei der Rede vom natürlichen Verkehr der Frauen die Präzisierung "mit Männern" fehlt. Viele weisen darauf hin, dass männliche und weibliche "Homosexualität" in der Antike nur sehr selten analogisiert wurden und dass das Alte Testament sich zu lesbischen Handlungen überhaupt nicht äußert.
Vielfach hängt die Entscheidung dieser Frage davon ab, welches Weltbild man Paulus unterstellt. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Positionen. Konservative Ausleger sehen seine ablehnende Haltung gegenüber homosexuellen Akten in der alttestamentarischen Konstruktion einer Geschlechterpolarität zwischen Mann und Frau begründet. Beide seien durch die "natürliche Schöpfungsordnung" geschlechtlich aufeinander verwiesen. Würden dagegen Männer mit Männern und Frauen mit Frauen verkehren, vergingen sie sich am Willen Gottes. (Ob die Tora die Geschlechter wirklich so polar konstruiert, wird allerdings auch angezweifelt. Vgl. hierzu Intersexualität: kulturelle Aspekte.)
Progressive Ausleger führen Paulus' restriktive Haltung zur menschlichen Sexualität dagegen eher auf den griechischen Platonismus zurück. Diese Auffassung stützt sich vor allem auf die Tatsache, dass er an dieser Stelle den Begriff "widernatürlich" [gr. para physin, wörtl. über die Natur hinaus] verwendet. Dieser Begriff lässt sich erstmals in Platons Werk Nomoi belegen und wurde später von dem jüdisch-hellenistischen Denker Philo von Alexandria aufgegriffen, der auf die späten Schriften des Neuen Testaments großen Einfluss ausgeübt hat. So lehnt Philo jeden sexuellen Verkehr, der nicht der Fortpflanzung dient, als "widernatürlich" ab. Der mannmännliche Beischlaf ist für ihn dabei nur ein Beispiel. Ein anderes sind sämtliche Formen des nicht-koitalen Verkehrs zwischen Mann und Frau, die empfängnisverhütende Wirkung haben. Daher vertreten progressive Ausleger die Ansicht, dass Paulus mit seiner Positionierung gegen den "widernatürlichen Verkehr" von Frauen sämtliche sexuelle Praktiken gemeint haben könnte, die nicht der Zeugung von Nachkommen dienen. Diese lustfeindliche Haltung steht in einem deutlichen Gegensatz zur jüdischen Tradition, die den sexuellen Verkehr auch um seiner selbst willen heiligt (vgl. das Hohelied Salomos).
Neben dem Römerbrief gibt es auch zwei weitere Stellen, an denen Paulus den mannmännlichen Beischlaf verurteilt. So heißt es im ersten Korintherbrief (und ähnlich im ersten Brief an Timotheus, 1.Tim 1, 9-10):
- "Wißt ihr denn nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben." (1.Kor 6,9).
Die Begriffe, die Paulus im griechischen Original benutzt, sind arsenokoitai und malakoi. Bei ersterem handelt es sich um ein Kunstwort, das im damaligen Sprachgebrauch nicht existierte. Es bedeutet wörtlich ungefähr "Mannbeischläfer". Malakos dagegen bedeutet eigentlich nur "weich", wird aber im Altgriechischen häufig gebraucht, um einen Mann zu bezeichnen, der an passivem Analverkehr Gefallen findet. Die Übersetzung der katholischen Einheitsausgabe, welche von "Lustknaben" und "Knabenschändern" spricht, leitet daher in die Irre, weil sie nahelegt, Paulus hätte an dieser Stelle altersbezogene Formulierungen gebraucht.
Dies sind die einzigen Belegstellen des Neuen Testaments, die sich gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr aussprechen.
Einige progressive Ausleger, die zwischen Paulus und Jesus einen starken Gegensatz postulieren, führen dagegen eine Reihe von Versen aus den vier Evangelien an, um diese Haltung als eine Folge von Paulus' radikaler Leibfeindschaft darzustellen.
Matthäus
Beispielsweise wird folgende, von den meisten Exegeten als neutral angesehene Stelle aus der Bergpredigt als Verurteilung von Homophobie ausgelegt:
- "[...] wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein." (Mt 5,22).
Nach dieser These könnte es sich dabei um eine Fehlübersetzung handeln. Wo "Dummkopf" übersetzt wurde, steht im Original "raca". Die katholische Einheitsübersetzung führt diesen Begriff auf das aramäische Wort reyqah zurück, das "hohl" (bzw. "Hohlkopf") bedeutet. Aus phonetischen Gründen liegt jedoch das Wort rakha näher. Es ist das hebräische Äquivalent zu malakos (weich, effeminiert) und kann auch in einem sexuellen Kontext gebraucht werden. Wo die katholische Einheitsausgabe hingegen "Narr" übersetzt, steht im Original "moros". Moros kann sicher vieles bedeuten, u.a. auch "dumm" (vgl. Oxymoron). Manche weisen jedoch darauf hin, dass es sich ebenso auf einen (homo)sexuellen Aggressor bezieht. Diese Bedeutung läge nicht nur deshalb nahe, weil sie die heftige Reaktion von Jesus auf dieses Schimpfwort besser erklären würde, sondern auch weil moros mit rakha zusammen so auf einmal ein logisches Wortpaar ergibt, welches ähnlich wie das von Paulus die aktive und passive Rolle während des mannmännlichen Beischlafs bezeichnet hätte. Diese Stelle wird daher von wenigen sehr progressiven Auslegern als eine Verurteilung von antihomosexueller Denunziation gelesen.
Zu dieser äußerst umstrittenen Auslegung würde auch passen, dass Jesus den "Knaben" [gr. pais] eines römischen Hauptmanns heilte, der gelähmt und mit großen Schmerzen zu Hause lag: "Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knabe gesund." (Mt 8,8). Die katholische Einheitsübersetzung gibt pais mit "Diener" wieder, obwohl das Wort wie auch die ganze Geschichte auf eine sehr emotionale Beziehung zwischen den beiden hinweist. Einige stellen sie daher in den für damalige Zeiten nicht gerade fern liegenden Kontext der Päderastie, deren Name sich ebenfalls von pais ableitet. Falls diese Interpretation zuträfe, hätte Christus keinen Anstoß an der so genannten Knabenliebe genommen. Denn er zitiert den Hauptmann, den er für seine Glaubensfestigkeit lobt, sogar als Beispiel dafür, dass dereinst auch viele Nichtjuden "mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen" würden (Mt 8,11).
Häufig wird auch folgender Vers in einen Zusammenhang mit Homosexualität gebracht:
- "Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht um des Himmelreiches willen." (Mt 19,12).
Ob sich die erste Kategorie nun wirklich auf "geborene Homosexuelle" bezieht, wie manche behaupten, lässt sich dem Text nicht entnehmen. Dennoch nimmt Christus damit eine deutliche Einschränkung des mosaischen Ehegebots vor, welches lautet:
- "Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und sie werden ein Fleisch." (Gen 2,24).
Diesen Satz will Jesus ausdrücklich nicht als eine für alle gültige Aussage gelten lassen, denn eine Reihe von Personen seien nicht für eine dauerhafte Bindung an das andere Geschlecht geschaffen worden. Ihnen rät er von der Ehe ab.
Johannes
Das Johannes-Evangelium diente bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit als Verweisstelle, mit der zwei Personen des gleichen Geschlechts ihre Liebe füreinander begründen konnten. Dort heißt es:
- "Nach diesen Worten war Jesus im Innersten erschüttert und bekräftigte: Amen, amen, das sage ich euch: Einer von euch wird mich verraten. Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wußten, wen er meinte. Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es?" (Joh 13,21-25)
Dieser Jünger wird im Johannes-Evangelium stets nur als "der, den Jesus liebte" angesprochen. Nach traditioneller Sicht handelt es sich um den Evangelisten Johannes selbst. Im Mittelalter betrachtete man Jesus und Johannes (genau wie die biblischen Gestalten David und Jonathan) als "geschworene Brüder". Die christlichen Mystiker sahen in dieser Liebe die spirituelle Vereinigung zwischen Mensch und Gott verwirklicht.
In der frühen Neuzeit wurde vielfach auf Jesus und Johannes Bezug genommen, um intime Freundschaften zwischen Männern vor dem Verdacht der "Sodomie" zu schützen. So antwortete beispielsweise König Jakob I. im Jahr 1617 auf die Vorwürfe des englischen Parlaments, das seine Liebe zu George Villiers zu attackieren versuchte:
- "Ihr könnt sicher sein, dass ich den Herzog von Buckhingham mehr als jeden anderen liebe und mehr als euch, die ihr hier versammelt seid. Ich wünsche für mich selbst zu sprechen und nicht, dass dies für einen Mangel gehalten wird, denn Jesus Christus hat dasselbe getan und daher kann ich nicht beschuldigt werden. Christus hatte seinen Sohn Johannes, und ich habe meinen George."
Auch heute wird das Johannes-Evangelium wieder herangezogen, um die gleichgeschlechtliche Liebe gegen religiöse Angriffe zu verteidigen. So hat der methodistische Theologe Theodore Jennings ein Buch verfasst, in dem er unter Verweis auf weitere Stellen aus den Evangelien behauptet, dass der Mann, den Jesus liebte, dessen "schwuler Freund" gewesen sei. Diese Betrachtungsweise ist jedoch ahistorisch. In früheren Zeiten war Zärtlichkeit und die innige Liebe zwischen zwei Freunden etwas völlig Selbstverständliches. Es ist daher nicht möglich, zwischen "normalen" und "schwulen" Freundschaften zu unterscheiden. Ob zwei Freunde nun Sex miteinander hatten (wie etwa der Kirchenvater Augustinus in seiner Jugend) oder nicht, lässt sich nach außen kaum sagen. Es dürfte auch keine Rolle gespielt haben. Das retrospektive Outing von Jesus und Johannes als "schwul" ist daher als Anachronismus zu bezeichnen.
Heutige Einordnung
Heute ist Homosexualität im Christentum und innerhalb von vielen Konfessionen ein sehr kontroverses Thema. Die Haltung der einzelnen Richtungen, Theologen und Christen ist dabei in vielen Fällen, unabhängig von der Konfession, durch ihre Sicht der Bibel geprägt. Eine traditionelle Bibelauslegung sieht praktizierte Homosexualität als Widerspruch zur biblischen Aussage, eine liberale Auslegung sieht keinen Widerspruch zwischen Bibel und praktizierter Homosexualität. In der Bibel selbst allerdings spielt diese Frage bestenfalls eine Nebenrolle. Für die ersten Christen war es offensichtlich kein bedeutendes Thema, ähnlich wie andere heute heftig diskutierte Themen, z.B. die Abtreibung.
Diejenigen, die "Homosexualität" heute verurteilen, können sich im Rahmen des Neuen Testaments allein auf Paulus berufen. Dessen Aussagen zum sexuellen Verkehr zwischen Männern lassen sich jedoch nicht von seiner gesamten Haltung zur menschlichen Sexualität trennen. So lebte er selbst aus Überzeugung zölibatär, die sexuelle Vereinigung gehörte für ihn, wenn schon, ausschließlich in die Ehe (1Ko 7,1-8), alles andere war Unzucht. Die sexuelle Vereinigung von Männern (und Frauen - oder nach einigen Auslegern Empfängnisverhütung von Frauen) war für ihn, wie z.B. auch Geiz, Neid, Lieblosigkeit oder Treulosigkeit eine Folge der Abkehr von Gott (Rö 1, 26-32).
Dieser Gesamtkontext von Paulus' Aussagen wird in den einschlägigen Diskussionen häufig nicht zur Kenntnis genommen, da sie seine Haltung zum männlichen Beischlaf relativiert. Eine solche selektive Lektüre zeugt so meinen manche Kritiker eher von dem Versuch, die Bibel für eine nachträgliche Begründung der eigenen Homophobie heranzuziehen, als dass ihre Aussagen wirklich ernstgenommen würden.
Eine dritte Position nehmen dagegen Religionskritiker ein. Sie halten die ganze Debatte für antiaufklärerisch. Die Beteiligten bedienten sich nicht ihres eigenen Verstandes, sondern eines zweitausend Jahre alten Textes, um gleichgeschlechtlichen Sex moralisch einzuordnen. Kritisiert wird, dass Fundamentalisten ihre Interpretation der Bibel zum Maßstab für die Gesellschaft als ganzer erheben wollten. In zahlreichen Ländern sei der christliche Einfluss nicht nur für antihomosexuelle Gesetze, sondern auch für gewalttätige Übergriffe auf Lesben und Schwule verantwortlich. Das Ziel müsse es daher sein, sich für eine Ausgrenzung der Religion aus der öffentlichen Debatte einzusetzen und die Interpretation der Bibel den Altertumswissenschaften zu überlassen.
Siehe auch: Homosexualität und Religion, Wahlbruderschaft, Sodomiterverfolgung, Kontextuelle Exegese
Literaturverweise
- John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. 1981. ISBN 0226067114.
- Daniel A. Helminiak: What the Bible Really Says About Homosexuality. 2000. ISBN 188636009X.
- Theodore W. Jennings: The Man Jesus Loved: Homoerotic Narratives from the New Testament. 2003. ISBN 082981535X.
- Holger Tiedemann: Die Erfahrung des Fleisches: Paulus und die Last der Lust. 1998. ISBN 3-87173-162-5.
Weblinks
- Biblische Weisungen zur Homosexualität? Katholisches Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Schrift
- EKD: Die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität Evangelischer Vermittlungsversuch, 1996
- Homosexuality & the Bible Untersuchung sämtlicher Bibelstellen aus einer fortschrittlichen Sicht
- Bibel und Homosexualität Evangelikale Entgegnung auf progressive Ansichten
- Unerfreuliche Bibelstellen zusammengetragen vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten