Differential-algebraische Gleichung

gewöhnliche Differentialgleichungen und algebraische Nebenbedingungen
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In einer differential algebraischen Gleichung (auch Algebro-Differentialgleichung oder Deskriptor-System) sind eine gewöhnliche Differentialgleichung und algebraische Nebenbedingungen gekoppelt und werden als eine Gleichung aufgefasst.

Die allgemeinste Form einer differentiell-algebraischen Gleichung ist eine implizite Differentialgleichung in der Form

für eine Funktion mit . Eine Gleichung in dieser impliziten Form ist nur dann (lokal) nach auflösbar, wenn die partielle Ableitung regulär ist. Dies folgt aus dem klassischen Satz über implizite Funktionen. In diesem speziellen Fall kann man die implizite Gleichung umschreiben in die Form

und hat damit wieder eine explizite gewöhnliche Differential-Gleichung.

Eine echte differentiell-algebraische Gleichung liegt nur dann vor, wenn die partielle Ableitung singulär ist. Dann zerfällt die implizite Differentialgleichung intern in eine inhärente Differentialgleichung und eine algebraische Nebenbedingung. Dies entspricht praktisch einer Differentialgleichung, die auf einer Mannigfaltigkeit betrachtet wird. Das praktische Problem bei der impliziten Differentialgleichung ist jedoch, dass diese Mannigfaltigkeit zunächst nicht explizit bekannt ist.


Semi-explizite differentiell-algebraische Gleichung

Ein spezieller Fall für eine differentiell-algebraische Gleichung ist ein System in der Form

 

Differentationsindex

Oftmals kann die Lösung eines Algebro-Differentialgleichungssystems durch (spezielle) Lösungskurven eines gewöhnlichen Differentialgleichungssystems dargestellt werden, obwohl   singulär ist. Eine Schlüsselrolle nimmt hierbei der Differentationsindex des Algebro-Differentialgleichungssystems ein.

Numerische Verfahren zur Lösung von Algebro-Differentialgleichungssystemen können meist nur Systeme integrieren, deren Differentationsindex einen gewissen Maximalwert nicht überschreitet. So darf der Differentationsindex des Systems beim impliziten Euler-Verfahren zum Beispiel nicht größer als eins sein.

Der Differentationsindex eines Algebro-Differentialgleichungssystems

 

ist die Anzahl   der Zeitableitungen, die notwendig sind, um aus dem entstehenden Gleichungssystem

 

durch algebraische Umformungen ein gewöhnliches Differentialgleichungssystem

 

extrahieren zu können.

Beispiele

  • Ein Algebro-Differentialgleichungssystem mit regulärer Matrix  , das also algebraisch nach   umgestellt werden kann, hat den Differentationsindex null.
  • Eine rein algebraische Gleichung
 

mit regulärer Jacobi-Matrix  , die als Algebro-Differentialgleichung mit   interpretiert wird, hat Differentationsindex eins: Nach einmaligem Differenzieren erhält man die Gleichung

 

die nach   auflösbar ist:

 

Diese Tatsache wird manchmal zur Konstruktion von Homotopieverfahren genutzt.

 

Dieses Algebro-Differentialgleichungssystem hat den Differentationsindex drei:
Zweifache Zeitableitung der Zwangsbedingung (dritte Gleichung) nach der Zeit liefert

 

Mit Hilfe der zwei Differentialgleichungen in den Euler-Lagrange-Gleichungen lassen sich die zweiten zeitlichen Ableitungen   und   ersetzen, was

 

liefert. Mit   erhält man daraus die Gleichung   Durch Zeitableitung dieser Gleichung (das ist die dritte Zeitableitung) kommt man dann auf die fehlende Differentialgleichung für  

 

wobei wieder die Differentialgleichungen aus den Euler-Lagrange-Gleichungen genutzt wurden, um   und   zu ersetzen und außerdem berücksichtigt wurde, dass   gilt.

Geometrischer Index

Ein mathematisch klar gefasster und geometrisch gut interpretierbarer Begriff ist der geometrische Index eines Algebro-Differentialgleichungssystems. Allerdings ist für das Verständnis des geometrischen Index ein wenig Differentialgeometrie auf Untermannigfaltigkeiten des   notwendig. Die Grundidee ist, dass man nach dem im Folgenden dargestellten iterativen Verfahren die maximale Zwangsmannigfaltigkeit ermittelt, auf der die Algebro-Differentialgleichung ein Vektorfeld (als Vektorfeld auf einer Mannigfaltigkeit) beschreibt. Der geometrische Index des Algebro-Differentialgleichungssystems ist dann die minimale Anzahl an Iterationsschritten, die bei diesem Verfahren benötigt wird.

Zum Beispiel in [2] wird gezeigt, dass der geometrische Index gleich dem Differentationsindex ist.

Gegeben sei eine autonome Algebro-Differentialgleichung

 

mit hinreichend oft differenzierbarer Funktion  .

Die durch die Gleichung
 
definierte Funktion und die zugehörige Algebro-Differentialgleichung dienen im folgenden Text als mitlaufendes Beispiel.
Das Beispiel ist im Text durch Einrückungen gekennzeichnet.

Im Rahmen des Algorithmus wird der   als Mannigfaltigkeit   mit dem Tangentialbündel   interpretiert. Die Paare   werden auch als Tangentialvektoren des   bezeichnet.

Durch die Funktion   ist die Menge   festgelegt, die jedem Punkt   alle für Lösungen des Algebro-DGL-Systems zulässigen Geschwindigkeitsvektoren   in diesem Punkt zugeordnet.

Es ist möglich, dass für ein Punkt   überhaupt keine Paar  , genau ein solches Paar oder mehrere solcher Paare in   existieren.

Im Beispiel gibt es für alle Punkte  , die nicht in der durch   definierten Ebene liegen, keine Paare  . Also verlaufen in diesem Beispiel außerhalb dieser Ebene keine Lösungen der Algebro-Differentialgleichung.

Die Punkte, durch die eventuell Lösungen gehen können, erfasst man in der Menge

 

(mit der Projektion   auf die erste Komponente, also  ). An dieser Stelle soll davon ausgegangen werden, dass   eine differenzierbare Untermannigfaltigkeit des   darstellt.

Im Beispiel ergibt sich  .

Jeder Tangentialvektor   an eine Lösung   der Algebro-Differentialgleichung muss auch im Tangentialbündel

 

von   liegen (dabei bedeutet  , dass   eine auf einem Intervall   definierte, einmal stetig differenzierbare Kurve ist, die vollständig in   liegt).

Im Beispiel ergibt sich  .

Die Tangentialvektoren an Lösungen der Algebro-Differentialgleichung müssen auch in der Menge   und damit die Lösungen selber in der Menge   liegen.

Im Beispiel ergibt sich
 
Wie man sieht, liegt der durch   vorgegebene Tangentialvektor   (des  ) für Werte   mit   wegen   nicht im Tangentialraum  , kann also nicht zu einer Lösung des Algebro-Differentialgleichungssystems korrespondieren. Damit ergibt sich
 

Diesen Prozess kann man (unter bestimmten Bedingungen) fortsetzen und aus der Zwangsmannigfaltigkeit   die Zwangsmannigfaltigkeit   bilden. Es ist möglich, dass ab einem   jedem Punkt   in   genau ein Tangentialvektor   zugeordnet ist. Dann beschreibt   ein Vektorfeld auf der Mannigfaltigkeit  .

Der geometrische Index der Algebro-Differentialgleichung ist gerade die minimale Zahl   für die   ein Vektorfeld auf der Mannigfaltigkeit   beschreibt.

Im Beispiel ergibt sich
 
und die Menge
 
ordnet jedem Punkt   aus der Menge   (die hier gerade gleich   ist) genau einen Tangentialvektor zu. Bei der Menge   ist das noch nicht der Fall, da bei Tangentialvektoren aus dieser Menge die Komponente   noch nicht eingeschränkt ist.
Der geometrische Index des Algebro-Differentialgleichungssystems in diesem Beispiel ist also gleich zwei.

Ist   eine Mannigfaltigkeit, so kann diese mit Hilfe einer Funktion   in der Form

 

dargestellt werden. Die einschränkenden Gleichungen   in dieser Darstellung werden als Zwangsbedingungen der Algebro-Differentialgleichung bezeichnet.

Im Beispiel:  .

Darüber hinaus kann für   die Mannigfaltigkeit   mit Hilfe einer Funktion   aus der Mannigfaltigkeit   ausgesondert werden:   Die Gleichungen   mit   werden auch als verdeckte Zwangsbedingungen der Algebro-Differentialgleichung bezeichnet (engl.: hidden constraints).

Im Beispiel:  ..

Bemerkungen:

  • Das in diesem Abschnitt nur autonome Algebro-Differentialgleichungen betrachtet werden, erleichtert die geometrische Interpretation und ist nicht wirklich eine Einschränkung, da jede zeitabhängige Algebro-Differentialgleichung

  durch Einführen einer zusätzlichen Variable   und einer zusätzlichen Differentialgleichung   in eine autonome Algebro-Differentialgleichung umgeschrieben werden kann.

  • In diesem Abschnitt wurde vorausgesetzt dass   eine Untermannigfaltigkeit des   ist. Falls dies nicht der Fall ist, ist für die betreffende Algebro-Differentialgleichung der geometrische Index nicht erklärt.
  • Es existieren auch Algebro-Differentialgleichungen bei denen der geometrische Index unendlich ist.

Konsistente Anfangswerte

Gegeben sei wieder eine Algebro-Differentialgleichung

 

mit   hinreichend oft differenzierbar.

Ein Punkt   heißt konsistenter Anfangswert zur Zeit  , falls es eine in einem offenen Intervall   mit   definierte Lösung   der Algebro-Differentialgleichung gibt, für die   gilt.

Bei der Berechnung ist zu beachten, dass von konsistenten Anfangswerten außer den Zwangsbedingungen auch die verdeckten Zwangsbedingungen zu erfüllen sind (siehe Abschnitt Geometrischer Index).

Lineare differentiell-algebraische Gleichung

Sehr häufig treten differentiell-algebraische Gleichungen auf in der Form

 

mit stetigen Matrix-Koeffizienten

 

und einer Funktion

 .

Eine echte differentiell-algebraische Gleichung liegt hier dann vor, wenn die Matrix-Funktion   auf   einen nichttrivialen Kern hat.

Lineare differentiell-algebraische Gleichung mit proper formuliertem Hauptterm

Eine andere Schreibweise für eine lineare differentiell-algebraische Gleichung ist die Form

 

mit stetigen Matrix-Koeffizienten

 

und einer Funktion

 .

In dieser Schreibweise wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei einer differentiell-algebraischen Gleichung nur ein Teil der Variablen   differenziert wird. Tatsächlich wird hier nur die Komponente   differenziert und nicht die gesamte Variable  . Als klassische Lösungen dieser Gleichung werden Funktionen aus dem Raum

 

betrachtet, also dem Raum der stetigen Funktionen  , für die die Komponente   stetig differenzierbar ist.

Die beiden Matrix-Funktionen   und   bilden den Hauptterm der Gleichung und dieser heißt proper formuliert, wenn zwei Eigenschaften erfüllt sind:

1. Es gilt

 .

2. Es existiert eine stetig differenzierbare Projektor-Funktion

 

mit der Eigenschaft

 .

Hier stellt die erste Bedingung sicher, dass sozusagen zwischen den beiden Matrix-Funktionen   und   nichts verloren geht. Im Kern der Matrix   kann nichts aus dem Bild der Matrix   verschwinden. Die Projektor-Funktion   realisiert genau die durch die Matrix-Funktionen   und   gegebene Zerlegung des Raumes   und ist für die Analyse der Gleichung hilfreich.

Ein einfacher Spezialfall für einen proper formulierten Hauptterm ist gegeben durch Matrix-Funktionen   und   mit der Eigenschaft

 .

Für die Projektor-Funktion   kann dann die Einheitsmatrix gewählt werden.

Literatur

  • [1] E. Hairer and G. Wanner: Solving Ordinary Differential Equations II, Stiff and Differential-Algebraic Problems. Second Revised Edition, Springer-Verlag, Berlin, 1996.
  • [2] G. Reißig: Beiträge zur Theorie und Anwendungen impliziter Differentialgleichungen. Dissertation, Dresdner Universitätsverlag, 1998.