Goldener Schnitt
Der Goldene Schnitt ('proportio divina' oder 'sectio aurea'), das irrationale Zahlenverhältnis
- ,
zeichnet sich durch eine Fülle interessanter mathematischer Eigenschaften aus und gilt seit der Antike als ideale Proportion für Geometrie, Architektur und Kunst - beispielsweise für die ästhetische Unterteilung eines Körpers oder einer Buchseite. Der kleinere Teil verhält sich zum größeren wie der größere Teil zum Ganzen.
Die auf Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci (13. Jahrhundert) zurückgehende unendliche Zahlenfolge 1,1,2,3,5,8,13,21, ... steht ebenfalls in einem engen Zusammenhang zum Goldenen Schnitt. Die nächste Zahl in dieser Folge von Fibonacci-Zahlen wird jeweils aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen gebildet. Je höher die Zahlen nun sind, umso näher kommt das Verhältnis einer Zahl zu ihrer vorhergehenden an den Wert 1,618. Diese Proportion ist der Goldene Schnitt.
Definition
Eine Strecke mit den Endpunkten A und B wird durch einen dritten Punkt P in zwei Teilstrecken geteilt. Dann teilt P die Strecke AB im Goldenen Schnitt, falls gilt: AP / PB = AB / AP, das heißt die größere Teilstrecke geteilt durch die kleinere ergibt die gleiche Zahl (ca. 1,618) wie die ganze Strecke geteilt durch die größere.
Konstruktion mit Zirkel und Lineal
Die Abbildung zeigt die heute übliche Konstruktion des Goldenen Schnittes mit Zirkel und Lineal:
- Die Grundseite (1) soll im Verhältnis des Goldenen Schnittes geteilt werden.
- (2): Senkrecht dazu wird die Hälfte der Grundseite abgetragen. Eine Diagonale wird gezeichnet.
- (3): Die Länge der Senkrechten wird auf der Diagonalen abgetragen.
- (4): Der Rest der Diagonalen wird auf der Grundseite abgetragen.
Eine andere Vorgehensweise geht auf Euklid zurück. Er geht von einem Rechtwinkligen Dreieck ABC mit der Hypothenuse AC und den Katheten AB und BC = 1/2 AB aus.
Die Strecke BC wird über B hinaus verlängert.
Ein Kreis mit dem Mittelpunkt C und dem Radius CA schneidet die verlängerte Stecke CB im Punkt D.
Ein Kreis mit dem Mittelpunkt B und dem Radius BD schneidet die Strecke AB im Punkt E, der diese Strecke im Goldenen Schnitt teilt.
Es sei noch eine dritte Art über einen Kreis im Dreieck im Quadrat angegeben:
In ein Quadrat wird ein gleichseitiges Dreieck so eingezeichnet, dass die Grundseite des Dreiecks mit einer Quadratseite zusammenfällt und die Spitze des Dreiecks die gegenüberliegende Quadratseite in der Mitte teilt.
Der Kreis, für den die drei Seiten des Dreiecks Tangenten sind, teilt die Höhe des Dreiecks im Goldenen Schnitt.
weitere Möglichkeiten:
Interdisziplinäres
In Architektur und Kunst (zum Beispiel der Kupferstich Melancolia I (1514) von Albrecht Dürer) wurde in der Vergangenheit vielfach darauf geachtet, bei Einteilungen die Teilverhältnisse des Goldenen Schnittes zu wahren, da die Ergebnisse dann visuell oder akustisch als besonders harmonisch empfunden werden.
Architektur
Der Architekt und Maler Le Corbusier (1887-1965) verwendete in seinen Entwürfen bewusst möglichst oft den Goldenen Schnitt. Für seine Anwendung mathematischer Ordnungsprinzipien erhielt er 1933 von der Universität Zürich den Titel doctor honoris causa der Mathematischen Wissenschaften.
Ab 1940 entwickelte er den Modulor, ein einheitliches Maßsystem basierend auf den menschlichen Maßen und dem Goldenen Schnitt.
Buchkunst
Siehe auch: Satzspiegel
Esoterik
Der Goldene Schnitt spielt eine besondere Rolle im Pentagramm: Wegen der Symmetrien sind die Strecken AP, AP', A'B und B'B gleich lang. Außerdem sind die Strecken PB, P'P und P'B' gleich lang. Wegen des Strahlensatzes muss gelten
- AP / P'P = AB / B'B .
Die bereits gezeigten Beziehungen P'P=PB und B'B=AP führen unmittelbar auf die oben stehende Definitionsgleichung des Goldenen Schnittes.
Zoologie
Seit der Renaissance ist die Ansicht weit verbreitet, der Goldene Schnitt sei in vielfacher Weise in den Proportionen des menschlichen Körpers realisiert. So wurde angenommen, der Nabel teile die Körpergröße im Verhältnis des Goldenen Schnitts und der untere Abschnitt werde durch das Knie wiederum so geteilt. Ferner scheinen die Verhältnisse benachbarter Teile der Gliedmaßen wie beispielweise bei Ober- und Unterarm sowie bei den Fingerknochen ungefähr in diesem Verhältnis zu stehen. Eine genaue Überprüfung ergibt jedoch Streuungen um den Goldenen Schnitt im 20-Prozent-Bereich. Ferner fehlt dieser These bis heute eine wissenschaftliche Grundlage. Es dominiert daher weitgehend die Ansicht, dass diese Beobachtungen lediglich die Folge gezielter Selektion von benachbarten Paaren aus einer Menge von beliebigen Größen sind.
Botanik
Das spektakulärste Beispiel für die Realisierung des Goldene Schnitts in der Natur findet sich bei der Anordnung von Blättern (Phyllotaxis) und in Blütenständen mancher Pflanzen. Bei diesen Pflanzen teilt der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern den Vollkreis von 360° im Verhältnis des Goldenen Schnittes, wenn man die beiden Blattwurzeln durch eine Parallelverschiebung eines der Blätter entlang der Pflanzenachse zur Deckung bringt. Es handelt sich um den Goldenen Winkel von etwa 137,5°.
Beispiele sind die Sonnenblume, Blattkohlarten, Kiefernnadel an jungen Ästen, Zapfen, Agaven, viele Palmen- und Yuccaarten und die Blütenblätter der Rose, um nur einige zu nennen.
Ursache ist das Bestreben dieser Pflanzen, ihre Blätter auf ausreichenden Abstand zu halten. Dazu produziert sie an jeder Blattwurzel einen Wachstumshemmer, der im Planzenstamm vor allem nach oben diffundiert, in geringerem Umfang aber auch in seitlicher Richtung. Dabei bildet sich in allen Richtungen bestimmte Konzentrationsgefälle aus. Das nächste Blatt entwickelt sich an einer Stelle des Umfangs, wo die Konzentration minimal ist. Dabei stellt sich ein bestimmter Winkel zum Vorgänger ein. Würde dieser Winkel den Vollkreis im Verhältnis einer rationalen Zahl m/n teilen, dann würde dieses Blatt genau in die gleiche Richtung wachsen wie dasjenige n Blätter zuvor. Der Beitrag dieses Blattes zur Konzentration des Wachstumshemmers ist aber an dieser Stelle gerade maximal. Daher stellt sich ein Winkel mit einem Verhältnis ein, das alle rationalen Zahlen meidet. Die Zahl, die in diesem Sinne die irrationalste aller Zahlen ist, ist nun aber gerade der Goldene Schnitt (siehe unten). Der Nutzen für die Pflanze könnte darin bestehen, dass auf diese Weise von oben einfallendes Sonnenlicht optimal genutzt wird.
Bei vielen Pflanze dieser Art bilden sich in diesem Zusammenhang so genannte Fibonacci-Spiralen aus. So bilden die Schuppen eines Fichtenzapfens 5 Spiralen in die eine Richtung und 8 in die andere. Bei einer Ananas mittlerer Größe sind 8 und 13 Spiralen zu sehen. Spiralen dieser Art sind besonders gut zu erkennen, wenn der Blattabstand im Vergleich zum Umfang des Planzenstammes besonders klein ist. Sie werden nicht von aufeinanderfolgenden Blättern gebildet, sondern von solchen im Abstand n, wobei n eine Fibonacci-Zahl ist. Solche Blätter befinden sich in enger Nachbarschaft, denn das n-fache des Goldenen Winkels Ψ ist ungefähr ein Vielfaches von 360°:
Da jedes der Blätter zwischen diesen beiden zu einer anderen Spirale gehört, sind n Spiralen zu sehen. Ist m/n größer als φ so ist das Verhältnis der beiden nächsten Fibonacci-Zahlen kleiner und umgekehrt. Daher sind in beide Richtungen Spiralen zu aufeinanderfolgenden Fibonaccizahlen zu sehen. Der Drehsinn der beiden Spiralentypen ist dem Zufall überlassen.
Besonders beeindruckend sind Fibonacci-Spiralen in flachen Blütenständen wie bei Sonnenblumen, Gänseblümchen und Disteln. Pflanzenarchitektonisch entsprechen den einzelnen Samen Blätter, wobei jedes einzelne einem eigenen Kreis um den Mittelpunkt des Blütenstandes zugeordnet werden kann, so als hätte man einen Pflanzenstamm mit seinen Blättern wie ein Teleskop zusammengeschoben. Wachtumstechnisch aufeinanderfolgende Samen liegen daher räumlich weit auseinander, während direkte Nachbarn wieder einen Abstand entsprechend einer Fibonacci-Zahl haben. Am Rand größerer Sonnenblumen zählt man 55 und 89 Spiralen, gelegentlich sogar 89 und 144. Die Abweichung vom mathematischen Goldenen Winkel, die in diesem Fall nicht überschritten wird, beträgt weniger als 0,01 Prozent.
Aufgrund seiner Präsenz im Pentagramm lässt sich der Goldene Schnitt natürlich auch über radiärsymmetrische fünfzählige Blüten konstruieren wie beispielsweise bei der Glockenblume, der Akelei und der (wilden) Heckenrose. Darüber hinaus stehen im Efeublatt die Blattachsen a und b (siehe Abbildung) ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnittes.
Mathematische Eigenschaften
In der mathematischen Literatur bezeichnet man den goldenen Schnitt mit einer Verhältniszahl φ oder τ. Um diese Zahl algebraisch zu definieren, zerlegt man sie in zwei Summanden, φ = 1 + ρ, und fordert, dass sich der kleinere Teil (ρ) zum größeren Teil (1) verhält wie der größere Teil (1) zum Ganzen (φ). Als Gleichung geschrieben heißt das: ρ : 1 = 1 : φ. Man kann nun ρ durch φ ausdrücken, indem man die vorausgesetzte Zerlegung φ = 1 + ρ verwendet. Man erhält die quadratische Gleichung
- φ2-φ-1 = 0
und daraus die Lösung
- φ = ( 1+√5)/2 = 1,61803398874989484820458683436564...
Die andere Lösung der quadratischen Gleichung erfüllt nicht die Voraussetzung φ>1; sie liefert stattdessen die Zahl
- ρ = (-1+√5)/2 = 0,61803398874989484820458683436564...,
die voraussetzungsgemäß zugleich Komplement und Kehrwert von φ ist,
- ρ = φ-1 = 1/φ.
Kurioserweise kann man (1+√5)/2 allein mit der Ziffer 5 beschreiben:
- φ = 5^.5 *.5 +.5
(sofern man, wie bei Taschenrechnern üblich, die Nullen vor dem Dezimalpunkt weglässt).
Der goldene Schnitt ist ein Irrationale Zahl. Es läßt sich sogar beweisen, daß er die irrationalste aller Zahlen ist: Es kommt darauf an, wie gut man eine irrationale Zahl durch rationale annähern kann. Das ist für die Zahl am schwierigsten, denn ihre bestmögliche Approximation ist gerade die durch die Quotienten der Fibonacci-Folge, und die konvergiert langsamer als die rationale Approximation für jede andere irrationale Zahl.
Der goldene Schnitt ist Beispiel für die Inkommensurabilität von Zahlen.
Aus φ=1+1/φ = 1+1/(1+1/φ) ... erhält man durch Iteration die Kettenbruchdarstellung
Aus φ2 = 1 + φ lässt sich außerdem folgende Kettenwurzel herleiten:
Das Quadrat φ2 = φ + 1 und jede höhere ganzzahlige Potenz von φ lassen sich als Summe aus einem Vielfachen von φ und einem Vielfachen von 1 darstellen. Auf dieser Eigenschaft beruht die fundamentale Bedeutung des goldenen Schnitts für quasiperiodische Gitter (siehe Quasikristall).
Aus der quadratischen Gleichung x2-x-1 = 0 folgt unmittelbar, dass deren Lösungen φ und ρ Eigenwerte der Matrix
sind. Diese Matrix kann verwandt werden, um aus einem Paar von Fibonacci-Zahlen das nächstfolgende zu berechnen. Daraus folgt unmittelbar, dass das Verhältnis aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen gegen den goldenen Schnitt konvergiert.
In der Trigonometrie gilt unter anderem:
- sin(π/10) = (φ-1)/2 (π/10 ist die Hälfte des Winkels in der Spitze des Pentagramms.)
- sin(3π/10) = φ/2 (3π/10 ist die Hälfte des stumpfen Außenwinkels des Pentagramms.)
Der goldenene Schnitt φ spielt für das Fünfeck eine ähnliche Rolle wie die Kreiszahl π für den Kreis.
Der goldene Schnitt ist in den gruppentheoretischen Charakteren der Symmetriegruppen des Dodekaeders und des Ikosaeders enthalten (Ikosaedergruppe).
Der goldene Schnitt lässt sich auch mit Hilfe der Eulerschen Zahl und der hyperbolischen Arcussinus-Funktion ausdrücken: .
Goldener Winkel
Auch der Goldene Winkel von 137,5 Grad fußt auf dem goldenen Schnitt und kommt sehr häufig in der Natur vor. Gesucht sei beim Kreis der Winkel mit folgender Eigenschaft: Sei b das zugehörige Kreisbogenstück und U der Kreisumfang. Wenn das Verhältnis "kürzeres Kreisbogenstück" zu "restlichem Kreisbogen" gleich dem Verhältnis "restlicher Kreisbogen" zu "Kreisumfang" ist, dann nennt man den Winkel Goldener Winkel:
Auflösung nach der Bogenlänge b ergibt die quadratische Gleichung
- b2 - 3UB + U2 = 0
Eine Lösung dieser Gleichung lautet
- b = U/2 · (3 - √5) = πr (3 - √5) mit U = 2πr
Die Länge des "anderen" Bogens auf der Kreislinie ergibt sich aus
- U - b = πr (√5 - 1)
Aus der Bogenlänge errechnet sich der zugehörige Winkel mit
- α = 180°·b / (πr) = 180°·(3 - √5) ≈ 137,5°
Das Verhältnis der Längen der beiden Bogen ergibt wieder den goldenen Schnitt, wie man leicht nachrechnet:
- (U-b)/b = 0,5 (√5 - 1) = 1,61803
Historisches
Bereits Euklid (325 - 270 v. Chr.) erkannte das Streckenverhältnis, das wir heute als Goldener Schnitt bezeichnen im Rahmen seiner Untersuchungen über Platonische Körper. Später beschäftigte sich der Mönch Luca Pacioli di Borgo San Sepolcro (1445 - 1514) mit Euklids Arbeiten. Er nannte diese ästhetisch perfekte Streckenteilung Göttliche Teilung.
Der Begriff Goldener Schnitt wurde erstmals 1835 von Martin Ohm (1792-1872; Bruder von Georg Simon Ohm) benutzt, und zwar in einem Band seines Werkes "Die reine Elementar-Mathematik, weniger abstrakt, sondern mehr anschaulich". Im 19. Jahrhundert glaubten dann viele Wissenschaftler, der Goldene Schnitt sei ein göttliches Naturgesetz. Sie untersuchten daraufhin den Körperbau des Menschen - der "Krone der Schöpfung". Viele Zeichnungen sollen zeigen, dass der menschliche Körper durchaus nach dem Goldenen Schnitt gebaut ist. Adolf Zeising schreibt 1854 in seinem Buch "Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers": Der Goldene Schnitt ist als ästhetisches Gesetz in betreff des Baues des menschlichen Körpers nachgewiesen, insofern bei dessen Länge vom Scheitel bis zur Sohle der Einteilungspunkt nach dem Goldenen Schnitt in die Gegend der Rippengrenze falle.
In der Folge entdecken viele in alten Kunstwerken und Malereien den Goldenen Schnitt, den der Künstler absichtlich oder einfach intuitiv verwendet habe. Beispielsweise wird man fündig an der Cheops-Pyramide, an der Vorderfront des Parthenon-Tempels, an Statuen von griechischen Bildhauern usw.
siehe auch: Goldenes Rechteck, Goldene Spirale
Literatur
- Hans Walser: Der Goldene Schnitt, Teubner (ISBN 3-8154-2511-5) oder vdf (ISBN 3-7281-2336-6).
- P. H. Richter, H.-J. Scholz: Der Goldene Schnitt in der Natur, in "Ordnung aus dem Chaos", Hrsg. B.-O. Küppers, Serie Piper (ISBN 3-492-10743-5), S. 175-214 (1987)