Abounaddara ist ein anonymes Kollektiv syrischer Dokumentarfilmer, das seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 mit digitalen Videos sowohl gegen das Regime Baschar al-Assads und dessen staatlicher Propaganda als auch gegen extremistische Dschihadisten kämpft. Der Name ist ein Wortspiel. „Abou Naddara“ ist zum einen das Pseudonym des ägyptischen, jüdischen Journalisten und Dramatikers Yaqub Sanu aus dem 19. Jahrhundert und bedeutet sinngemäß übersetzt: Mann mit Brille. Zum anderen bezieht er sich auf den Filmklassiker Der Mann mit der Kamera des sowjetischen Dokumentarfilmpioniers Dsiga Wertow.[1]
Aktivitäten
Die Filmemacher, die sich als politische Dissidenten verstehen, sind Absolventen von Filmhochschulen oder Universitäten. Da es für ihre Dokumentationen im staatlichen Fernsehen und der öffentlich kontrollierten Filmszene in Syrien keinen Platz gab, entschieden sie sich unabhängig zu bleiben und Filme nach eigenen Regeln zu produzieren.[2] 2010 gründeten sie in Damaskus das Kollektiv Abounaddara. Außer seinem Sprecher, Charif Kiwan, sind die Mitglieder anonym. Sie leben und arbeiten an verschiedenen Orten des Landes, in Dörfern und Städten. Ihre Filme beschreiben, was die Berichterstattung in den internationalen Medien auslässt: den Alltag im Land, wie er ist.[3] Den Bildern von Krieg und Zerstörung setzen sie Gesichter der „Revolution“ für eine Demokratisierung Syriens entgegen und geben den namenlosen Opfern eine eigene Stimme. Wöchentlich veröffentlicht Abounaddara kostenlos einen Kurzfilm auf der Videoplattform Vimeo mit englischen oder französischen Untertiteln.[4][5] Von 2011 bis 2017 ist mit über 450 Kurzfilmen ein kontinuierlich größer werdendes Archiv von Mikrogeschichten des Syrienkonflikts entstanden.[6]
Inhalte und Filmsprache
Die meisten der Clips sind Monologe, häufig von Frauen, oder zeigen Bilder vom alltäglichen Überleben mitten im Krieg. Wie die Filmemacher bleiben auch die Menschen vor der Kamera anonym.[2] Jeder der Filme ist unter fünf Minuten lang, einige sind sehr kurz wie filmische Blogs oder Tweets. Das Kollektiv verwendet laut seines Sprechers „eine sehr spezielle kinematographische Sprache, die der Dringlichkeit unserer Situation angepasst ist.“[7] Es nennt seine Filme „cinema of emergency“ (Notfall-Kino). Die Einstellungen sind meist lang und statisch, bleiben in einer Umgebung. Die Filmemacher dokumentieren keine Militanz. Wenn sie einen der Rebellen filmen, dann nicht kriegerisch kämpfend, sondern in seinem Zuhause. Sie fokussieren auf sein Gesicht, seine Augen, seinen Mund. Die Zuschauer erfahren nicht, welche Religion er hat. „Wir wollen die Menschlichkeit zeigen, die allen gemeinsam ist, ob sie für oder gegen das Regime sind“, so Kiwan. Angesichts der Kriegsverbrechen in Syrien könnte dieses neutrale Statement schwer zu akzeptieren sein, kommentierte Laura U. Marks.[8] Manche der Kurzfilme bestehen aus wortlosen Geschichten, die auf Gewalt anspielen, ohne sie zu zeigen: In The Butcher of Aleppo schneidet ein junger Mann in einer Metzgerei Fleisch in Scheiben. In der letzten Einstellung sieht man die Fleischteile im Schaufenster an Haken hängen. In Firewood kauern ein paar Jungen mit einem älteren Mann an einer Mauern. Die Kamera ruht auf ihren Gesichtern, während die Geräusche von Gewehren und Bomben in der Ferne pulsieren. Dann gehen sie die Straße entlang in einen Innenhof, wo einer der Jungen anfängt Holz zu hacken.[6] Dork Zabunyan, Professor für Filmwissenschaften in Paris, schreibt über die Arbeit von Abounaddara: „Es geht um das Recht auf ein Bild, das die Würde jener Menschen respektiert, die im Augenblick gegen unterschiedlichste Formen der Tyrannei kämpfen. Und – letztendlich – darum, die syrische Revolution mit all ihrer Vielfältigkeit und turbulenten Geschichte darzustellen.“[9]
Präsenz und Anerkennung auf Internationalen Festivals
Abounaddara war 2014 auf dem Human Rights Watch International Film Festival in London vertreten. Im selben Jahr gewann das Kollektiv auf dem 30. Sundance Film Festival den Kurzfilmpreis der Großen Jury für Of God and Dogs. Der 12-minütige Film handelt von einem syrischen Soldaten auf der Suche nach Rache an dem Gott, der ihn dazu brachte, einen unschuldigen Mann zu töten.[10]
Werke
- Of God and Dogs, Syrien 2014, Regie und Produktion: Abounaddara Collective, digitales Video (12 Min.)
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Edward Ziter: Political Performance in Syria: From the Six-Day War to the Syrian Uprising, 2015 (Google-Teildigitalisat) (abgerufen am 7. März 2018)
- ↑ a b Catrin Lorch: Geheime Filme aus dem umkämpften Syrien, Süddeutsche Zeitung, 30. Mai 2016
- ↑ ttt-Beitrag über Abounaddara: Alltag in einer kriegsversehrten Heimat ‐ Das syrische Filmkollektiv Abounaddara (3. Juli 2016) (Youtube Video) (abgerufen am 7. März 2018)
- ↑ Abounaddara Film, Zeit Online, 30. April 2016
- ↑ Videos von abou naddara auf Vimeo
- ↑ a b Patricia M. Zimmermann, Helen D. Michel: Open Space New Media Documentary, Routledge, 2017, ISBN 978-1138720978, S. 30-31
- ↑ Ellie Violet Bramley: Behind the scenes with Syria's 'emergency cinema, The Guardian, 26. März 2014
- ↑ Laura U. Marks: Hanan Al-Cinema. Affections for the Moving Image, Leonardo Book, 2015, ISBN 978-0262029308, S. 45
- ↑ Dork Zabunyan: Abounaddara, Auszug aus dem documenta 14: Daybook
- ↑ Of Gods and Dogs Wins 2014 Sundance Short Film Grand Jury Prize, Filmmaker Magazine, 22. Januar 2014