Kammgarnwerke AG

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Die Kammgarnwerke AG war ein Unternehmen der Textilindustrie mit Sitz in Eupen. Der Spinnereibetrieb wurde am 19. März 1906 auf Initiative des Unternehmers Robert Wetzlar in der damals zu Preußen gehörenden Stadt aus der Fusion mehrerer Einzelunternehmen gebildet und gehörte seit 1920 in Folge des Versailler Vertrags zu Belgien. Ab 1981 wurde der Betrieb schrittweise eingestellt und 1989 die Gesellschaft endgültig aufgelöst.

Gebäude der ehemaligen Kammgarnwerke AG, jetzt Kabelwerk Eupen

Geschichte

Nachdem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein allmählicher Niedergang der über 200 Jahre lang blühenden Tuchindustrie Eupens anzeigte, in der zu besten Zeiten rund 7.000 der knapp 10.000 Einwohner von Eupen eine Beschäftigung gefunden hatten, bekamen immer mehr Unternehmen wirtschaftliche Probleme. So erging es auch der ersten Kammgarnspinnerei Eupens, der 1890 gegründeten Firma Gülcher & Grand Ry, in der Eupener Unterstadt. Der Betrieb war für damalige Verhältnisse nach neuestem technischem Stand ausgerüstet und von vornherein auf Vergrößerung angelegt worden. Das Unternehmen ging kurz nach der Jahrhundertwende in Liquidation.

Daraufhin beschlossen auf Initiative von Robert Wetzlar, Direktor in der Tuchfabrik Wilhelm Peters & Co., mehrere Tuchfabrikanten aus Aachen und Eupen, die Kammgarnwerke AG als neues schlagkräftigeres Konsortium zu gründen. Damit war die Absicht verbunden, sich unabhängig vom Kartell der deutschen Kammgarnspinnereien zu machen und durch die Errichtung und den Betrieb aber auch durch den Erwerb von Tochterfirmen selber eine marktbeherrschende Stellung aufzubauen. An dieser Neugründung beteiligten sich als Gesellschafter der Tuchfabrikant Wilhelm Peters aus Eupen, die Unternehmer Carl Delius und Josef Königsberger sowie die Unternehmen G. H. & J. Croon und Dechamps & Drouven, alle aus Aachen. Als Finanzier unterstützte die in Aachen ansässige Rheinisch-Westfälische Diskontogesellschaft das Vorhaben. Durch die Übernahme der noch intakten Konkursmasse aus der Firma Gülcher & Grand Ry konnte nun die Neuanlage einer Buntspinnerei mit ca. 23.000 Spindeln sowie die Erweiterung um eine Weißspinnerei in Angriff genommen werden. Zwischen 1906 und 1908 wurden daraufhin neue Fabrikgebäude am linken Ufer der Weser errichtet. Die Gebäude wurden auf dem Gelände der vormaligen Spinnerei Gillhausen & Fremerey errichtet. Für den Neubau des Komplexes, bestehend aus einem wuchtigen viergeschossigen Fabrikgebäude für die Buntgarnspinnerei mit angeschlossenem Maschinen- und Kesselhaus sowie Gebäude für Färberei, Kontor, Labor und Pförtnerhaus, wurde das Architekturbüro Händel & Franke aus Leipzig beauftragt.[1] Der Fabrikkomplex steht beispielhaft für den internationalen Bekanntheitsgrad, den die Eupener Tuchfabrikation zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch ein letztes Mal wiedererlangt hatte. Erster Direktor der neuen Kammgarnwerke AG wurde Theodor Pohl (1862–1932) und den Vorsitz des Aufsichtsrates übernahm Robert Wetzlar. Das Unternehmen erhielt Aufträge aus vielen Ländern Europas und bis 1913 konnte die Belegschaft auf 681 Mitarbeiter aufgestockt werden.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde das Unternehmen durch den Aufmarsch deutscher Truppen gegen das nur 25 km entfernte Lüttich auf belgischer Seite zunächst arg in Mitleidenschaft gezogen, konnte sich aber durch Aufträge von Seiten der Kriegsparteien über Wasser halten. Nach dem Ende des verlorenen Krieges und der Übernahme des Kreises Eupen durch das Land Belgien wurde die Kammgarnwerke AG in eine Gesellschaft belgischen Rechts mit der Bezeichnung „Filature de Laine Peignée S.A.“ umgewandelt. Obwohl ab Oktober 1925 durch neue Zollbestimmungen die Lieferung des Eupener Kammgarns an die Aachener Tuchindustrie eingeschränkt wurde, blieb das Werk dennoch einer der wichtigsten Lieferanten für Aachens Tuchindustrie. Theodor Pohl leitete bis 1928 das Unternehmen und ließ in den Jahren 1927/1928 über eine von ihm eingerichtete Stiftung in unmittelbarer Nachbarschaft zum Werk eine Arbeitersiedlung errichten, die heute als Theodor-Pohl-Siedlung noch existent ist.[2] Sein Nachfolger wurde der Unternehmer Alfred Clémens Hubert von Grand’Ry (1872–1943), der zuvor als Teilhaber der Tuchfabrik Ackens, Grand Ry und Cie. und bereits seit 1906 in leitender Position in den Kammgarnwerken tätig gewesen war. Eine seiner ersten Aktionen, die er mit maßgeblicher Unterstützung der Kammgarnwerke AG durchführen konnte, war die Umsetzung des Baus des Wetzlarbades, eines Freibades, das durch eine Stiftung von Robert Wetzlar bereits im Jahr 1911 zweckgebunden finanziert worden war, aber auf Grund der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten während und nach dem Krieg erst ab 1934 auf Druck der Witwe Mathilde Wetzlar letztendlich verwirklicht werden konnte. Es sollte vor allem den Mitarbeitern des Betriebes als Freizeitvergnügen dienen und einige von ihnen wurden in den Sommermonaten als Bademeister freigestellt.

Die Kammgarnwerke AG gingen in den nächsten Jahren auf Expansionskurs und übernahmen 1932 nach dem Zusammenbruch des Nordwolle-Konzerns dessen Filiale in Langensalza in Thüringen und führten sie als Tochtergesellschaft unter deutscher Geschäftsleitung als Kammgarnwerke Langensalza GmbH weiter. In der Folgezeit stiegen die Umsätze wieder an und das Unternehmen erhielt ab 1936 größere Aufträge zur Wehrmachtsversorgung. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges begann die aufgezwungene schrittweise Verwandlung des Werks in einen reinen Rüstungsbetrieb. Schließlich wurden 1943 im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums alle Spinnereimaschinen demontiert und in einer alten Ziegelei ausgelagert, so dass sich eine Abteilung der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG in den Spinnhallen einquartieren konnten, wobei KZ-Häftlinge als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden.[3] Das nunmehr als KZ Langensalza umfunktionierte Areal wurde damit ein Außenlager des KZs Buchenwald. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgte in den Hallen des Kammgarnwerks, das ca. 200 Häftlingen Unterkunft bot.

Nach dem Krieg wurde versucht, die Spinnmaschinen schnellstmöglich wieder gebrauchsfähig zu machen, um unverzüglich die Produktion wieder aufnehmen zu können. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland in der Sowjetischen Besatzungszone erließ im Jahre 1947 ein Dekret, womit die Rückgabe des seit 1945 unter Zwangsverwaltung der Sowjets stehenden Betriebes an die belgischen Eigentümer unterstützt wurde. Im Jahr 1968 erfolgte durch die Deutsche Demokratische Republik die unrechtmäßige Umwandlung des Werkes in einen Volkseigenen Betrieb, was einer Zwangsenteignung der belgischen Eigentümer gleichkam. Nach Auflösung der DDR wurden daraufhin im Jahr 1992 die belgischen Alteigentümer mit mehreren Millionen DM entschädigt.

Das Eupener Hauptwerk selbst war während der deutschen Besatzung Belgiens vom 31. Dezember 1940 bis Ende 1944 in eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht umgewandelt worden. Im Eupener Kammgarnwerk waren 1940 rund 76.000 Spinn- und Zwirnspindeln in Betrieb, die rohweiße und bunte Garne für Herren- und Damenstoffe für vorwiegend deutsche Abnehmer produzierten.

Nach dem Krieg und dem erneuten Anschluss Eupens an Belgien wurde das Unternehmen wieder in eine belgische Aktiengesellschaft zurückgeführt. Im weiteren Verlauf litten die Kammgarnwerke unter nachlassenden Umsätzen, so dass ab 1956 das benachbarte Kabelwerk schrittweise die Gebäude des Unternehmens für ihre Erweiterungspläne übernahmen. Ab 1981 wurde der Betrieb eingestellt und 1989 die Aktiengesellschaft endgültig aufgelöst.

Literatur

  • Norbert Gilson: Geschichte der Textilindustrie im Raum Verviers, Eupen, Aachen unter besonderer Berücksichtigung der Wolltuchindustrie. Rheinisches Industriemuseum, Euskirchen 1997, S. 20, 21 und weitere (pdf)
  • Leo Kever: Eupener Kammgarnwerke; Vor 100 Jahren wurde Robert Wetzlars Plan verwirklicht. In: Grenz-Echo vom 20. September 2008
  • Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft (Hrsg.): Die Industriegeschichte der Eupener Unterstadt, Eupen Juli 2015 (pdf)

Einzelnachweise

  1. Kammgarnwerke, Buntspinnerei auf ostbelgienkulturerbe.be
  2. Theodor-Pohl-Siedlung. In: Eupen aktuell, 23. September 2013, S. 9
  3. Das Stadtarchiv Bad Langensalza erinnert an auf hainichland.de, 29. Mai 2007

Koordinaten: 50° 37′ 16,6″ N, 6° 1′ 55,2″ O