Ritual
Vorlage:Mehrfacheintrag Als Ritual wird die Gesamtheit der Riten (s.Ritus)-eines Kultes- bezeichnet. Allerdings kann mit "Ritual" auch ein einzelner Ritus gemeint sein. Umgangssprachlich meint Ritual ein gleich bleibendes, sich wiederholendes Verhalten oder Vorgehen.
Allgemeiner ausgedrückt ist ein Ritual eine kulturell gebundene menschliche Handlung, die durch strukturierte Mittel die Wandlung eines Lebensbereiches in, über den Alltag hinaus reichenden, Zusammenhängen bewirkt.
Rituale sind ein menschheitliches Phänomen. Sie ermöglichen durch den Umgang mit Grundfragen der Existenz das menschliche Miteinander. Dazu zählen Sicherheit, Ordnung ebenso wie die Sterblichkeit. Sie vermögen die Welt einfacher und handhabbarer zu machen und erleichtern Entscheidungen. Manchmal verkehren sich ihre Wirkungen aber auch ins Negative, dann setzt Ritualkritik ein.
Rituale dienen zumal der Rhythmisierung sozialer Abläufe (vgl. Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus). So gibt es
- Zyklische Rituale, die dem tageszeitlichen, wöchentlichen, monatlichen oder jährlichen Kalender folgen, (z.B. die Sonnenwendfeier);
- Lebenszyklische Rituale, z.B. Initiationsrituale (bei Geburt, Mannbarkeit etc.).
- ereignisbezogene Rituale, die z.B. bei bestimmten Krisen Anwendung finden (z.B. der Tod, eine Hungersnot etc.);
- Interaktionsrituale, die in Interaktionssetting zum Tragen kommen, wie z.B. das Grußritual, Rituale des Körperabstandes oder das Ritual des Rauchens.;
Zur Technologie des Rituals
Das Ritual weist nach Wallace die Aspekte der Technologie, Therapie und Antitherapie, der Ideologie bzw. sozialen Kontrolle, der Salvation und der Revitalisierung auf.
- Das Ritual als Technologie
bezieht sich auf den Umgang mit der Umwelt. So werden durch Weissagungen Hinweise von höchster Instanz erwartet, die zur Entscheidungsfindung beitragen. Das Intensivierungsritual erstreckt sich auf Jagd-, Vieh-, Acker-, und Wetterzauber. Das Schutzritual soll Unglück und Katastrophen abwenden. - Das Ritual als Therapie bzw. Antitherapie
bezieht sich auf die Kontrolle des menschlichen Gesundheitsbereichs. Dabei meint Antitherapie Hexerei: übernatürliche Krankheitsursachen werden gefunden, Personen wird die Fähigkeit zugesprochen, andere negativ beeinflussen zu können. Der Hexenglaube fördert in einer Gesellschaft die soziale Kontrolle: Man vermeidet Anstößigkeit, um nicht verhext zu werden. Man sucht auf der anderen Seite die Unauffälligkeit, um nicht als Hexe verdächtigt zu werden. Antitherapeutische Rituale der Hexen erhöhen Stress und Krankheitsrisiko, therapeutische Rituale verringern dieselben. - Das Ritual als Ideologie
bezieht sich auf Verhalten, Gefühle, Werte und Moralvorstellungen der Gesellschaft. Dies kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden: Übergangsriten beziehen sich auf die Rollenveränderung einer Person oder Gruppe im sozialen oder territorialen Bereich. - Das Ritual als soziale Intensivierung
betont die Identität einer Gruppe, es befriedet sie. Es ist wiederholbar wie die Kommunion oder der Gruß. Ebenso stabilisiert das Tabu das Miteinander. Rebellionsrituale bieten durch ritualisierte soziale Umkehrung eine "Ventilsitte" (Richard Thurnwald) und stabilisieren somit die bestehende Gesellschaft (vgl. die Saturnalien, den Karneval). Soziologisch gesehen sind Rituale geeignet, Widersprüchliches zu vereinen, wofür typisch ist, dass die Teilnehmer ihm kundig folgen können und wollen, obwohl sie die darin integrierten sozialen Konflikte im Einzelnen gar nicht nachvollziehen müssen; dem kundigen Feldforscher (etwa dem Ethnologen) sind jedoch die Signale des anders als rituell nicht zu Vereinbarenden erkennbar - z. B. verneigen sich (wie in Japan) beim Gruß die Grüßenden voreinander, davon ist der Kaiser nicht ausgenommen, aber der niedriger Stehende verbeugt sich tiefer. Lars Clausen: Das Ritual zeigt, was es verbirgt. - Das Ritual als Salvation ("Heilung")
bietet die Chance, Abweichungen wie Psychosen etc. zu integrieren und zu akzeptieren, da auf diesem Wege neue Schamanen geschaffen werden, welche durch den Kontakt zum Übernatürlichen hohe Bedeutung erlangen. - Das Ritual als Revitalisierung
Bestimmte Gruppen, die gesellschaftliche oder ethnische Unterdrückung und damit das Schwinden ihrer Normen erfahren (religiöse) Erweckungsbewegungen, die mittels Lösungsritualen ein besseres Leben bieten.
Religiöse Rituale
Rituale sind häufig im Bereich der Religion verankert (siehe Ritus). Rituale fördern den Zusammenhalt religiöser Gruppen. So ergab die Auswertung von Daten über 83 US-amerikanischen Religionsgemeinschaften aus dem 19. Jahrhundert, dass Religionsgemeinschaften umso langlebiger sind je mehr Rituale, Einschränkungen und Anforderungen in ihr praktiziert werden. Für weltliche Gemeinschaften läßt sich ein solcher Zusammenhang nicht feststellen. (Quelle: Gehirn & Geist Nr. 1-2/2005)
In Einzelwissenschaften
Der Begriff "Ritual" findet sich als wissenschaftlicher auch in der Ethnologie und Soziologie, ferner in der Psychotherapie und Pädagogik.
Zur Ethnologie und Soziologie
Ethnologisch sind beobachtbare Rituale ein vielfacher Einstieg in die Erforschung von Stammeskulturen.
Doch finden sich, wie es die Soziologie erschlossen hat, Rituale in allen Gesellschaften. Sie sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie erneuern sich und treten in veränderter Gestalt in die gewandelte gesellschaftliche Wirklichkeit. So treten bestimmte Rituale sowohl in den Bereichen Religion, Sport, im Starkult oder in der Werbung auf.
In der Jugendkultur oder dem Bereich Esoterik ist ein bemerkenswertes Aufleben von Ritualen zu verzeichnen.
Zur Psychotherapie und Pädagogik
Im Bereich von Therapie spielt Ritualisierung eine wichtige Rolle. Ordnungen sollen wiederhergestellt werden, wo sie nicht mehr als soziale Struktur vorhanden sind. Die Struktur- und Bedeutung gebende Kraft von Ritualen für den sozialen Zusammenhang in Gruppen sollen auch im therapeutischen Raum nutzbar gemacht werden. Auf symbolische Weise wird der Kern der Gesamtproblematik herausgearbeitet. Im Modus der Spieltherapie werden die beteiligten familiären Rollen aufgestellt; Veränderungen werden durch eine symbolische Handlung unterstützt (z.B. mit einer Versöhnungsgeste).
Auch in der Schulpädagogik und insbesondere in der Grundschule werden zunehmend Rituale bewusst zur Strukturierung von Unterricht und zur Schaffung eines lebendigen Schullebens eingeführt.
Siehe auch
Literatur
- Belliger, Andres/Krieger, David J.: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag (3) 2006
- M. Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1981.
- Damon Rigor, Athara Nokei, Pfade in die Anderswelten, ISBN 3-89094-390-X
- Daniel B. Lee: "Ritual and the Social Meaning and Meaninglessness of Religion", in: Soziale Welt, 2005 (LVI), H. 1, S. 5-16
- Roy A. Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology. Cambridge: University Press
- Thomas Macho, Das zeremonelle Tier. Rituale, Reste, Zeiten zwischen den Zeiten, Graz 2004 ISBN 3-222-13161-9
- Wulf, Christoph/Althans, Birgit/Audehm, Kathrin e.a.: Das Soziale als Ritual. Opladen: Leske + Budrich, 2001
- Wulf, Christoph/Althans, Birgit/Audehm, Kathrin e.a.: Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004