Die Eurythmie (auch Eurhythmie, gr. Gleichmaß von Bewegung oder schöne Bewegung) ist eine expressive interpretierende Bühnentanzkunst, die Anfang des 20. Jahrhunderts (etwa 1908 - 1925) in Deutschland und der Schweiz im Umkreis des Philosophen und Esoterikers Rudolf Steiner entstand. Äußerlich ähnelt die Eurythmie entfernt dem klassischen Ballett, sie wird aber im allgemeinen weniger artistisch und körperbetont inszeniert. Eurythmie wird als eigenständige Darstellende Kunst aber auch als Komponente von Bühneninszenierungen betrieben. Kombiniert mit medizinischem Fachwissen lässt sich die Eurythmie auch heiltherapeutisch anwenden. An Waldorfschulen ist Eurythmie ein reguläres Pflichtfach.
Ziel und Inhalt der Eurythmie
Die Eurythmie soll geistige Inhalte durch Körperbewegungen, Gesten, Sinn-, Laut-, Satz-, Ton- und Motivgebärden darstellen. Dazu werden Texte und Musik mit Hilfe einer breiten Palette an interpretatorischen Grundregeln und Stilmethoden in Bewegungen und Choreographien umgesetzt. Die Möglichkeit der Interpretation von Sprache und Lauten unterscheidet Eurythmie dabei von vielen anderen rhythmischen Darstellungsformen. Ein großer Teil der Eurythmie besteht aus der Spracheurythmie (auch Lauteurythmie genannt). In der Interpretation von musikalischen Werken ist das Grundgerüst des Takts oft nur ein Teilaspekt der Eurythmie. Hinzu kommen Tonart, Stilrichtung und emotionaler und geistiger Gestus des Musikstückes. Im Gegensatz zum klassischen Ballet oder auch moderneren Tanzformen verwendet die Eurythmie weniger Posen oder abstrakte Bewegungsabläufe, sondern betont in ihrer Interpretation von Sprache und Musik den Raum im Umfeld des Tänzers bzw. den Raum zwischen den Tänzern einer Gruppe. Lange Gewänder und Schleier und eine sich variierende farbige Bühnenbeleuchtung sind deshalb in der Eurythmie ein elementares und oft verwendetes Kunstmittel.
In Eurythmie-Aufführungen werden dramatische, epische und lyrische, aber auch humoristische Werke der Sprach- und Musikdichtung aller Epochen als „beseelte sichtbare Sprache“ und „sichtbarer Gesang“ zur Darstellung gebracht, sowohl in großen choreographischen Gruppeninszenierungen wie in solistischer Form. Lange, ungemusterte farbige Gewänder und Schleier - bei Männern und Frauen gleichermaßen - und eine wechselnde farbige Bühnenbeleuchtung sind das auffälligste visuelle Merkmal einer klassischen Eurythmie-Inszenierung. Stilisierte Requisiten und Bühnenbilder finden je nach Stil des interpretierten Werkes auch in Erscheingung treten.
Eine bekannte Büheninszenierung in der Eurythmie Verwendung findet ist die jährliche Aufführung der ungekürzten Fassung von Goethes „Faust“ am anthroposophischen Goetheanum.
Die Eurythmie ist das einzige für Waldorfschulen spezifische Unterrichtsfach, das an keiner anderen Schule angeboten wird. Sie wird im allgemeinen als Pflichtfach durchgehend vom Waldorfkindergarten bis zur 12. Klasse unterrichtet.
Eurythmie wird an verschiedenen Instituten in mehrjährigen Berufsausbildungen und Hochschulstudiengängen in Vollzeit gelehrt; für pädagogische Eurythmie und Heileurythmie gibt es ergänzende Berufsausbildungen. Von professionellen Eurythmisten werden, zusätzlich zu den eurythmischen Fähigkeiten, im allgemeinen fundierte Kenntnisse in Poetik und Lyrik, Sprachschulung (auch Sprachgestaltung genannt), Anatomie, Musiktheorie, Farbenlehre, Plane Geometrie, Choreografie, Bühnenbeleuchtung und der philosophisch-esotherischen Lehre der Anthroposophie erwartet. Für Eurythmielehrer und Heileurythmisten kommen hierzu noch pädagogische und medizinische Kenntnisse. Als Gesundheitstherapie („Heileurythmie“) wird die Heileurythmie von deutschen Krankenkassen als Bewegungstherapie anerkannt.
Entwicklung der Eurythmie
Die Begründung der Eurythmie datiert auf das frühe 20. Jahrhundert. Die ersten Indizien für eine Beschäftigung mit Bewegungskunst gehen auf das Jahr 1908 zurück, in dem Steiner vom 18. bis 31. Mai zwölf Vorträge über das Johannes-Evangelium hielt. Nach dem ersten Vortrag über den Anfang des Johannes-Evangeliums soll Steiner mit der Frage auf die russische Malerin und Schriftstellerin Margarita Woloschin zugetreten sein, ob sie das tanzen könnte. Das berichtet diese jedenfalls in in ihrer Autobiografie „Die grüne Schlange“. Ihre Antwort habe gelautet: „Ich glaube, man kann alles tanzen, was man fühlt“, worauf Steiner gesagt haben soll: „Aber auf das Gefühl kommt es doch heute an.“ Hier verdichtet sich das erstemal Steiners Idee zu einer anthroposophischen Tanz und Bewegungskunst, die in den nächsten Jahren zur Ausgestaltung der Eurythmie führen sollte.
Die erste eurythmische Aufgabe bekam, der Überlieferung nach, Eleonore Clara Maria Lory Maier-Smits mitte Dezember 1911 in Berlin, als ihre Mutter Clara Smits mit Steiner ein Gespräch führte, indem er nach den Berufsabsichten ihrer Tochter fragte. Sie solle Alliterationen schreiten, dabei einen kräftigen, etwas stampfenden Schritt auf die alliterierenden Taktteile und eine gefällige Armbewegung bei den Taktteilen ohne Konsonant machen. Nicht nur vorwärts, sondern auch ebenso energisch rückwärts schreitend. Lory Maier-Smits wurde die erste Eurythmistin und Eurythmielehrerin.
Der Name Eurythmie wurde von Marie von Sievers vorgeschlagen. Dies geschah in der letzten Stunde des ersten Eurythmiekurses, der vom 16. bis 27. September 1912 in Bottmingen für Lory Smits gehalten wurde. Tanzgeschichtlich kann die Entstehung von Eurythmie im Zusammenhang mit der Revolutionierung von Tanztheater und des Körperbewussteins zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen werden.
Eurythmie ist aus der Sicht ihres Erfinders die Kunst, in Sprache und Musik wirksame Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen durch menschliche Bewegung sichtbar zu machen. Hierzu werden verschiedenen Gestaltungsmittel, wie Gesten, Farben und Raumformen (Choreographie), eingesetzt. Dabei wird die Bewegung aus dem Bewußtsein der Beziehung von eigenem Leib zu dem ihn umgebenden Raum und der Zeit heraus gestaltet. Die eurythmische Gestaltung eines Musikstückes oder einer Dichtung soll deren künstlerische Gestalt und die sie hervorbringenden Bildekräfte sichtbar werden lassen.
Der Ursprung der Gesten und Bewegungen liegt nach Meinung von Eurythmisten in den räumlichen und zeitlichen Kraftfeldern, die die menschliche Gestalt hervorbringt und in denen sich der Mensch bewegt. Die der Sprache oder Musik innewohnenden und in ihr wirkenden Zusammenhänge versucht der Eurythmist mit Gesten und Bewegungen durch synchrone Gestaltung im Raum sichtbar zu machen.
Bewegung im Bühnenraum und Körpersprache
Choreographie / Form
Jede eurythmische Aufführung verwendet eine Choreographie, die in der Eurythmie oft als „Form“ bezeichnet wird. Eine Form besteht meistens aus einer oder mehreren zusammenhängenden, kommentierten Zeichnungen, die den Weg des Eurythmisten auf der Bühne nachzeichnet. Die Form bestimmt, welche Gänge im Raum der Eurythmist zu welchem Zeitpunkt im Vortrag des künstlerischen Interpretation macht. Kommentare wie Taktangaben bei der Musikeurythmie oder Textzeilen bei der Spracheurythmie verdeutlichen den Bezug der Form zum interpretierten Kunstwerk. Auf vielen Formen finden sich oft auch Kostümangaben, Vorgaben zu Requisiten, Schleiern und Gewandfarbe und zur Farbe der im Verlauf der Interpretation wechselnden Bühnenbeleuchtung. Else Klink, eine bekannte Eurythmistin und Eurythmiechoreografin, ergänzte ihre Formen oft mit den Namen der Ensemblemitglieder die sie für die jeweilige Rolle oder Position vorgesehen hatte.
Bei der Entwicklung der Form stehen das Kunstwerk und seine Interpretation im Mittelpunkt. Es wird versucht, die innere Dynamik des Kunstwerks durch Bewegungen im Raum abzubilden. So ist es im Bereich der Toneurythmie beispielsweise möglich, höhere oder lauterer Töne durch Gang nach vorne und tiefere oder leisere Töne durch Gang nach hinten zu betonen. Änderungen im Rhythmus der Musik werden durch schnellere oder langsamere Schritte dargestellt. Zumeist besteht die Gesamtdarstellung eines Kunstwerks aus mehreren Formen, in denen sich auch Wiederholungen und Variationen des Kunstwerks widerspiegeln. Auch können verschiedene Eurythmisten oder Gruppen zur gleichen Zeit unterschiedliche Formen laufen. Die verschiedenen Stimmen eines Musikstückes werden z.B. häufig von unterschiedlichen Gruppen dargestellt. Im Bereich der Lauteurythmie ist eine Strophen- oder Versweise Variation der einzelnen Gruppen und Formen häufig anzutreffen.
In der Eurythmie gibt es verschiedene Methoden der Choreographie, die jeweils entsprechend der Stilrichtung der Musik oder Sprache verwendung finden. Zusätzlich gibt es Grundformen die sowohl auf Sprache als auch auf Musik eingesetzt werden, Auftaktformen die als Einleitung und Ausklang einer künstlerischen Interpretation verwendet werden und zusätzliche Formen denen eine philosophisch/esotherische Bedeutung zugrunde liegt.
Der Informationsgehalt einer Eurythmischen Choreografie
Da die ausgeprägte Formalisierung der Stilmethoden in der Eurythmie sich auch in kleineren Nuancen einer eurythmischen Form dokumentieren lassen, ist mitunter auch direkt an der Formzeichnung die vorgesehene stilistische Tendenz einer Interpretation erkennbar. Zum Beispiel richtet sich in der Eurythmie die sog. 'Apollinische Art' eine Choreographie zu gestalten, also eine 'Apollinische Form', streng nach der Grammatik der Sprache, so das oft schon an der Formzeichnung zu einem Gedicht oder Sinnspruch die gewünschten Betonungen und Sprech- bzw. Atempausen direkt an der choreografischen Form ablesen lassen.
Choreographische Grundformen
- Die fünf Kreisverwandlungen
- Sternformen (Siebenstern, Fünfstern, etc.)
- Die Verschiebungen im Kreis
- Die harmonische Acht
Choreographische Methoden in der Spracheurythmie
- Apollinische Methode
- Die oft so genannten "Apollinischen Formen" richten sich streng nach der Grammatik und dem Sinnzusammenhang der Sprache. Für jede Art von Satzkomponente, Wortart sind jeweils bestimmte Bewegungen vorgegeben. So werden in der apollinischen Methode z.B. Satzkomponenten die etwas 'geistig-wesenhaftes' Bezeichnen in der Choreografie mit einem zum Publikum geöffneten Bogen gelaufen. Die apollinischen Formen finden oft bei der Interpretation von Sinnsprüchen und philosophischen Texten verwendung. Da die Natur der Apollinischen Formen in einer starken Formalisierung liegen, lassen sich diese Choreographien begrenzt nach Regeln konstruieren.
- Dionysische Methode
- Beziehungs Formen (personalpronomale Formen; ich, du, er, sie es, etc.)
- Seelenkräfte (Denken, Fühlen, Wollen)
- Seelenregungen (Angst, Schreck, Wut, Trauer, Hoffnung, etc.)
Choreographische Methoden in der Musikeurythmie
- Intervalformen
- Akkordformen
- Choreografische Tonhöhe
Zusätzliche Choreografische Formen
- Planetenformen
- Das Tiaoait
Gebärden, Gesten und Stellungen
Neben der Form gelten die Gebärden als zweite Grundlage der eurythmischen Darstellung. Die elementarsten Gebärden sind Bewegungen des eigenen Körpers in den sechs Raumrichtungen, also Aufrichten, Zusammenziehen und Beugen des Körpers. Diese Bewegungen werden überlagert von Bewegungen der Arme. Für diese gibt es eine Reihe von Hauptgebärden für Töne, Intervalle und Laute, die jedoch in ihrer Größe und Ausrichtung im Raum, in ihrer Reihenfolge und in der Verknüpfung untereinander vielfältig variiert werden können, sodass sich zusammen mit der Form eine Vielzahl von Bewegungskombinationen denken lässt, die dem Künstler Freiraum zur Interpretation gewährt. Neben den Gebärden, Gesten und Stellungen die bei der Spracheurythmie und Musikeurythmie verwendung finden gibt es übergeordnete Bewegungen die Seelenstimmungen ausdrücken oder dem Ausdruck eines geistigen Aspekts dienen.
Gebärden, Gesten und Stellungen in der Spracheurythmie
- Lautgebärden
- Satzgebärden
- Apollinische Sinngesten
- Apollinische Sinngesten richten sich wie die Apollinischen Formen nach der Grammatik und dem Sinnzusammenhang der Sprache und finden im gleichen Zusammenhang Verwendung. Bindewörter, z.B., werden mit einem Kopfnicken ausgedrückt.
Gebärden in der Musikeurythmie
- Akkordgebärden
- Tongebärden
- Intervalgebärden
- Tonhöhengebärden
- Taktgebärden
- Dur/Moll Gebärde
Zusätzliche Gebärden, Gesten und Stellungen
- Tierkreisgebärden
- Planetenstellungen
- Seelengesten
- Farbstellungen und Farbgebärden
Heileurythmie
Im Rahmen der anthroposophisch erweiterten Medizin findet Heileurythmie bei akuten, chronischen oder degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, des Herz-Kreislaufsystems, des Stoffwechselsystems und des Bewegungsapparates Anwendung. Weitere Anwendungsgebiete sind kindliche Entwicklungsstörungen und Behinderungen sowie Psychosomatik und Psychiatrie.
Dabei wird eine Erkrankung als Störung der leiblichen, seelischen und geistig-individuellen Bereiche des Menschen betrachtet. Gezielte Bewegungsübungen sollen diese Bereiche wieder in ein harmonisches Gleichgewicht bringen. Dabei sollen die heileurythmischen Bewegungen die Empfindungen des Patienten von außen nach innen beeinflussen und schulen, entgegengesetzt dem Vorgang von menschlichen Gemütsäußerungen sich von innen nach außen in Mimik und Gestik äußern. Hintergrund ist eine ganzheitliche anthroposophische Betrachtung des Menschen, derzufolge körperliche Erkrankungen meist seelische Ursachen haben und eine seelische Störung organisch bedingt sein können.
Siehe auch: Heileurythmie
Siehe auch
Literatur
- Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Froböse (Hrsg.): Die Entstehung und Entwickelung der Eurythmie. Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz 1998, ISBN 3-7274-2775-2
- Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Froböse (Hrsg.): Eurythmie - Die neue Bewegungskunst der Gegenwart. Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz 1991, ISBN 3-7274-6420-8
- Magdalene Siegloch: Eurythmie. Eine Einführung. Freies Geistesleben, Stuttgart 1997 ISBN 3-7725-1237-2
- Rüdiger Grimm (Hrsg.) u. a.: Heilende Kräfte in der Bewegung. Die Anwendung der Heileurythmie in der Heilpädagogik. Freies Geistesleben, Stuttgart1997, ISBN 3-7725-1589-4
- Michael Brater (Hrsg.) u. a.: Betriebseurythmie. Freies Geistesleben, Stuttgart 2002, ISBN 3-7725-1109-0
- Arfst Wagner u. a.: Eurythmie. Aufbruch oder Ende einer jungen Kunst? Flensburger Hefte, Flensburg 2001, ISBN 3-935679-01-7