Der Untergeher

Roman von Thomas Bernhard
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 2. August 2017 um 14:26 Uhr durch Coyote III (Diskussion | Beiträge) (Handlung: Zeitebenen, etwas üa und erg.). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Untergeher ist ein Roman des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard aus dem Jahr 1983. Erzählt wird der berufliche und private Werdegang dreier angehender Konzertpianisten, von denen einer Glenn Gould ist, und deren lebenslange Auseinandersetzung mit dem Anspruch höchster Perfektion.

Handlung

Die zentralen Personen des Romans sind drei Klaviervirtuosen: Glenn Gould, Wertheimer („Der Untergeher“) und der Ich-Erzähler. Der Roman beginnt mit dem Eintreten des Ich-Erzählers in ein Gasthaus in dem oberösterreichischen Ort Wankham. Er kommt von der Beerdigung Wertheimers in Chur und ist zu diesem Zeitpunkt der einzige Überlebende der drei Protagonisten. Er reflektiert deren gemeinsamen (und parallelen) Lebensweg und die Gründe für den Suizid des Freundes. Dies geschieht auf drei Zeitebenen: die Vorgeschichte, der Augenblick der Erinnerung an diese Vorgeschichte (beim Betreten des Wankhamer Gasthauses) sowie der Zeitpunkt der Niederschrift der Erinnerung an die Vorgeschichte.

Gould, Wertheimer und der Ich-Erzähler hatten sich 1953 kennengelernt, als sie gleichzeitig bei „Horowitz“ am Mozarteum in Salzburg studierten. Alle drei strebten „nur das Höchste“ in der Kunst an und stellen ihr Leben lang größte Ansprüche an sich selbst. Als sie die Genialität Goulds beim Einüben und beim Vortrag der Goldberg-Variationen sowie der Kunst der Fuge erkannten, gaben Wertheimer und der Erzähler das Klavierspiel umstandslos auf. Sie sahen ein, diese Stufe der Perfektion nie erreichen zu können.

Wertheimer, dem Gould den Spitznamen Der Untergeher gibt, geht in den folgenden 28 Jahren dem Müßiggang nach und hält seine Schwester in einer unterdrückerischen Beziehung in der gemeinsamen Wohnung in Wien, bis diese sich von ihm trennt. Sie heiratet einen reichen Schweizer mit dem Namen Duttweiler und zieht nach Chur in die Schweiz. Fast zeitgleich stirbt Gould nach einer überaus erfolgreichen Karriere. Wertheimer bringt sich vor dem Haus seiner Schwester um. Der Ich-Erzähler hatte nach dem Abbruch des Studiums seinen Steinway-Flügel verschenkt und beschränkte sich in den folgenden Jahren darauf, immer wieder eine Abhandlung mit dem Titel Über Glenn Gould anzufangen, dessen Karriere er verfolgt, aber jeweils zu verwerfen. Er zieht aus dem für ihn zu einer Belastung werdenden Wien nach Madrid.

Der Ich-Erzähler will über Wien, wo er noch eine Wohnung besitzt, wieder nach Madrid zurückfahren, er hält aber in Wankham an, um noch einmal das Haus Wertheimers in Traich aufzusuchen. In dieses tritt er gegen Ende des Romans ein. Auf dem Plattenspieler findet er Goulds Goldbergvariationen liegend, die er noch einmal zu hören beginnt.

Dem Roman ist ein Motto vorangestellt: „Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung.“

Fiktion und Realität

In dem Roman ist authentisches und erdichtetes Material so miteinander verwoben, dass eine Grenzlinie nur schwer zu erkennen ist. Die Romanfigur Glenn Gould unterscheidet sich in einigen Punkten deutlich von der realen Person Glenn Gould. Der echte Glenn Gould hat niemals in Salzburg und auch nicht bei Vladimir Horowitz studiert, der stilistisch das Gegenteil von Gould verkörperte, was Thomas Bernhard sicherlich wusste. In seinem Roman erwähnt er auch nie den Vornamen von Horowitz. Außerdem wird die Romanfigur 51 Jahre alt, während der echte Gould wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag – zwar an einem Schlaganfall, aber keineswegs am Klavier sitzend, wie im Roman beschrieben – gestorben ist.

Formale Aspekte

Auffällig bei diesem Roman ist die äußere Form. Es gibt insgesamt vier Absätze in diesem Buch. Gleich zu Beginn sind drei Sätze abgesetzt – der vierte Absatz allerdings zieht sich tatsächlich bis zum Ende des Buches. Diese Tatsache, dass die Einleitungssätze abgehoben sind, ist jedoch kein Zufall. Schließlich werden in den ersten vier Sätzen die wesentlichen Themen des Buches antizipiert. Der Untergeher enthält nur selten direkte Rede, stets eingelassen in den Erinnerungsfluss des fiktiven Autors und, wie ansonsten auch bloß fragmentarische Zitate, kursiv gesetzt. Mit der eigenwilligen Zeichensetzung fügt Bernhard an ungewöhnlichen Stellen Pausensignale in den Text ein.[1]

Musik

Die Entstehungsgeschichte der Goldberg-Variationen wird persifliert, die Verbindung zu den beiden Volksliedern des Quodlibet stellen die Wirtin und der Holzfäller her und Form und Zahlenordnungen der Goldberg-Variationen werden im Untergeher aufgegriffen. So kommt das Wort Aria zweimal, das Wort Goldberg-Variationen 32 mal vor und in den einleitenden Absätzen wird ähnlich wie in der Aria Themenmaterial exponiert, das in Variationen den gesamten Roman bestimmt.[2]

Buchausgaben

Literatur

  • Barbara Diederichs: Musik als Generationsprinzip von Literatur. Eine Analyse am Beispiel von Thomas Bernhards Untergeher. Diss. Gießen 1999 (DNB)

Einzelnachweise

  1. Philipp Löser, Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-525-20581-3, S. 210
  2. Text übernommen aus Wikipedia Goldberg-Variationen, dort wird als Referenz angegeben: Liesbeth M. Voerknecht: Thomas Bernhard und die Musik. Der Untergeher. In: Joachim Hoell, Kai Luehrs-Kaiser (Hrsg.): Thomas Bernhard: Traditionen und Trabanten. Königshausen und Neumann, Würzburg 1999, ISBN 3-8260-1695-5, S. 195–199