Bildungsbenachteiligung

Art von sozialer Ungleichheit
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Unter Bildungsbenachteiligung wird verstanden, dass eine Gruppe von Kindern oder Erwachsenen im Bildungssystem benachteiligt wird. Mit Bildung und dem Ausbau des Bildungssystems war in der Vergangenheit häufig die Hoffnung verbunden, soziale Ungleichheiten abzubauen. Dass es sich bei der ersehnten Chancengleichheit um eine Illusion handelt, haben die französischen Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron schon in den 60er Jahren gezeigt. In der Erziehungswissenschaft wird erklärt, dass Chancengleichheit durchaus keine Illusion ist, sondern vielmehr ihre Anwendung paradoxerweise die Empfindung einer Chancenungleichheit hervor ruft (siehe auch Bildungsparadox). Es gibt nationale Unterschiede der Bildungsbenachteiligung.

Bildungsbenachteiligung in der Bundesrepublik Deutschland

Laut Grundgesetz darf in Bundesrepublik Deutschland niemand aufgrund seiner Herkunft, womit die soziale Herkunft gemeint ist, benachteiligt werden. Tatsächlich konstatieren diverse Bildungsstudien eine Benachteiligung von Menschen mit einer niedrigen sozialen Herkunft. Dabei hat sich die soziale Benachteiligung verschoben: während noch in den 1970er Jahren "Katholische Arbeitertochter vom Land" eine Formel für Mehrfachbenachteiligung war, wird heute eher vom "Islamischen Gastarbeitersohn aus dem Problemviertel" gesprochen. Geblieben ist als Merkmal für Bildungsbenachteiligung die Herkunft aus Arbeiterfamilien. Die UNICEF hob die Diskriminierung im deutschen Bildungssystem in ihrer Studie 'Disadvantage in Rich Countries' besonders hervor und verfasste daraufhin einen Sonderbericht. Durch die Bildungsbenachteiligung in der Bundesrepublik Deutschland alarmiert, schickte die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen ihren Sonderberichterstatter Vernor Munoz aus Costa Rica im Februar 2006 in die deutschen Schulen.

  • Kindergärten
Die AWO-Langzeitstudie belegte, dass Kinder aus armen Haushalten sehr viel seltener Kindergärten besuchen als andere Kinder.
  • Grundschule
Die hamburger LAU-Studie, die IGLU-Studie, die PISA-Studie und die AWO-Studie weisen darauf hin, dass Kinder mit einer niedrigen sozialen Herkunft bei gleicher Kompetenz sehr viel seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder mit einer höheren sozialen Herkunft. Darüber hinaus konstatierte die LAU-Studie, dass Eltern aus "höheren Schichten" im Durchschnitt dazu neigen würden, selbst dann ihre Kinder zu einer höheren Schule zu schicken, wenn die Lehrkräfte hiervon abrieten. Eltern aus "niedrigeren Schichten" hingegen würden sich im Durchschnitt genau an die Empfehlung der Lehrkräfte halten. (Tatsächlich besuchen weniger Schüler das Gymnasium, als eine Bildungsempfehlung erhalten.)
Die TIMSS-Studie, DESI-Studie und die PISA-Studien stellten fest, dass die mathematischen und die literarischen Kompetenzen zwischen Hauptschülern, Realschülern und Gymnasiasten zu einem großen Prozentsatz überschneiden. Hieraus schloss die UNICEF-Studie Disadvantages In Rich Nations, dass die Kinder in Deutschland zu früh und falsch sortiert würden. Die Studie fasste die Situation in Deutschland unter dem Titel: Germany: Children Sortet For A Life (Deutschland: Kinder für ihr ganzes Leben einsortiert) zusammen, um zu verdeutlichen, dass diese frühe Einsortierung kaum rückgängig zu machen sei.
Die DSW-Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes stellte fest, dass die Bildungstrichter herkunftsspezifisch unterschiedlich verlaufen. Während von 100 Kindern der höchsten Herkunftsgruppe, die eingeschult werden, ca. 80% eine gymnasiale Oberstufe erreichen und von diesen dann 90% ein Studium aufnehmen, erreichen von 100 Kindern der niedrigsten sozialen Herkunftsgruppe nur 33% die gymnasiale Oberstufe und von diesen 33% nimmt dann wiederum nur ein Viertel ein Studium auf.
Die Arbeitsgruppe Hochschulforschung der Universität Konstanz stellte in einer Langzeitstudie dar, dass Schüler mit einer niedrigen sozialen Herkunft selbst dann nur zu 51% ein Studium aufnehmen, wenn sie eine Durchschnittnote zwischen 1 und 2 im Abiturzeugnis haben. Je höher die soziale Herkunft sei, desto eher seien Schüler bereit, auch bei einem schlechten Abiturzeugnis ein Studium aufzunehmen. So würden Schüler der höchsten Herkunftsgruppe, die eine Durchschnittsnote zwischen 2 und 3 erhielten, zu 54% ein Studium aufnehmen.
Die PISA-Sonderstudie zu Erfolgschancen von Migrantenkindern kritisiert das deutsche Bildungssystem. Migrantenkinder der zweiten Generation, also Schüler und Schülerinnen, die in Deutschland geboren sind, aber ausländische Eltern haben, erbringen noch schlechtere Leistungen als Migrantenkinder der ersten Generation. 40% von ihnen erreichen nicht die Kompetenzstufe 2. Auch in Dänemark und Neuseeland schneiden Migrantenkinder der zweiten Generation schlechter ab als die der ersten Generation - allerdings nicht in einem derartigen Umfang wie in Deutschland.
  • Studium
Noch immer ist die Zahl von Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland sehr niedrig.
Der Trend scheint darauf hinzudeuten, dass die Chance von Arbeiterkindern gegenüber Beamtenkindern, ein Studium aufzunehmen, noch verstärkt. So lag nach einer Analyse von Destatis die Wahrscheinlichkeit von Beamtenkindern gegenüber Arbeiterkindern ein Studium aufnehmen zu können 1986 bei 9:1; im Jahre 2000 lag sie bereits bei 20:1.
Nach der Studie Eurostudent-Report ist die relative Zahl von Studierenden mit niedriger sozialer Herkunft in Deutschland geringer als in allen anderen europäischen Staaten, die an dieser Studie teilgenommen haben. Zudem stellten sie fest, dass Studierende mit einer niedrigen sozialen Herkunft sehr viel seltener ein Auslandsstudium aufnähmen. Dies führten sie - in Anlehnung an einer Terminologie Pierre Bourdieus - darauf zurück, dass es ihnen an kulturellem Kapital mangele. Sie hätten weniger Erfahrung mit Auslandsaufenthalten, den Gepflogenheiten an Universitäten, sowie an Sprachkenntnissen.
Die Studie des GEW über studentische Hilfskräfte an der Universität Marburg stellte dar, dass von 150 studentischen Hilfskräften nur 3 Arbeiterkinder waren. Der Erklärungsversuch in der Studie bezog sich auf die Überlegung Pierre Bourdieus, dass Professoren über den gleichen Habitus verfügen wie Akademikerkinder; daher würden sie Akademikerkinder unabhängig von den Leistungen bevorzugt rekrutieren. Zur Zeit soll ein bundesweit zur Verfügung stehender Datensatz ausgewertet werden, um zu klären, ob sich das Marburger Phänomen bundesweit zeige.
Die dreijährig erscheinende DSW-Studie kam zu einer Reihe von Punkten, die Indizien einer Benachteiligung von Studierenden mit niedriger sozialer Herkunft sein könnten:
  • Krankheit: Studierende niedriger sozialer Herkunft nehmen sehr viel häufiger die psychologische Beratung in Anspruch. Zudem sei der größte Unterschied zwischen den verschiedenen Herkünften bezügliche der Gründe für einen Studiumsabbruch in der Begründung Krankheit zu finden.
  • Studienabbruch: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft brechen ihr Studium häufiger ab. Dies gilt vor allem für die Fächer Medizin und Rechtswissenschaften.
  • Studiendauer: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft brauchen im Schnitt sehr viel länger als andere Studierende
  • Ressourcen: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft steht trotz BAFöG weniger Geld zum Lebensunterhalt zur Vefügung als anderen Studierenden
  • Jobs: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft jobben häufiger neben dem Studium; als Motivation zum Jobben geben sie häufiger als andere Lebensunterhalt an.
  • Verteilung: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft studieren eher Fächer und an Hochschulen, die mit einem geringeren Prestige und weniger hoch dotierten Berufen verbunden sind.
  • Karriere: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft promovieren seltener als andere Studierende.
Die Hans-Böckler-Stiftung fördert insbesondere studierende Arbeiterkinder.
  • Karriere
Die Elite-Studie Michael Hartmanns ergab, dass in der Wirtschaftselite nur 0,5% Arbeiterkinder zu finden seien. In dieser Studie wurden aus vier Jahrgängen in zehnjährigem Abstand der biographische Verlauf von 6000 Promovierten analysiert. Arbeiterkinder mit einem Doktortitel haben sehr viel seltener eine Karriere machen können als Promovierte mit anderer sozialer Herkunft. Hartmann glaubt einen Trend zu erkennen, nachdem seit 1990 ein sozialer Schließungsprozess stattfinde, der den sozialen Aufstieg stärker von der Herkunft als von der Leistung abhängig mache.
Die Studie erschien als Buch mit dem vielsagenden Titel: Der Mythos von den Leistungseliten.

Bildungsbenachteiligung in den USA

In den USA existiert seit 1995 eine Gruppe mit dem Namen Workingclass Academics. Sie führen einmal jährlich die WCA-Tagung zum Thema Benachteiligung von Studierenden mit niedriger sozialer Herkunft durch. Im Jahr 2003 fand diese Tagung in Großbritannien statt. Arbeiterkinder, die trotz der Bildungsbenachteiligung aufsteigen, werden im englischen Sprachgebrauch auch als Straddler (von engl.: to straddle = spreizen) bezeichnet, da sie sich mit dem einem Bein in der Arbeiterschicht (blue collar = Blaukittel), mit dem anderen in einer höheren Schicht (white collar = Weißkittel) befinden. Hierzu gibt es in den USA viel autobiographische Literatur.

Um die soziale Benachteiligung zu bremsen initiierte die Bush-Administration die Kampagne No Child Left Behind.

Siehe auch

Literatur

  • bell hooks: Where we stand: Class Matters. Routledge, New York 2000, ISBN 0-415-92913-X
  • Hannelore Bublitz: Ich gehörte irgendwie so nirgends hin: Arbeitertöchter an der Hochschule. Focus, Giessen 1980, ISBN 3-88349-208-6
  • Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-28258-1
  • Ralf Dahrendorf: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten., Mohr Siebeck, Tübingen 1965, ISBN 3-16-517471-7
  • Leslie Feinberg: Träume in den erwachenden Morgen. Stone Butch Blues. Krug und Schadenberg, Berlin 2003, ISBN 3-930041-35-9
  • Erika Haas: Arbeiter- und Akademikerkinder an der Universität. Eine geschlechts- und schichtspezifische Analyse. Campus, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-593-36223-6
  • Wolfgang Isserstedt, Elke Middendorff, Steffen Weber, Klasu Schnitzer, Andrä Wolter: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003. 17. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerkes durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn, Berlin 2004
  • Alfred Lubrano: Limbo. Blue-Collar Roots, White-Collar Dreams. Wiley, Hoboken (New Jersey) 2004, ISBN 0-471-71439-9
  • Walter Müller, Reinhard Pollak (2004): Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten?. S. 311-352 in: Rolf Becker, Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14259-3
  • Anne Schlüter (Hrsg.): Arbeitertöchter und ihr sozialer Aufsteig. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und sozialer Mobilität. Deutscher Studienverlag, Weinheim 1992, ISBN 3-89271-327-8
  • Anne Schlüter (Hrsg.): Bildungsmobilität. Studien zur Individualisierung von Arbeitertöchtern in der Moderne. Deutscher Studienverlag, Weinheim 1993, ISBN 3-89271-417-7
  • Michelle Tea (Hrsg.): Without A Net. The Female Experience of Growing up Working Class. Seal Press, Emeryville (California) 2003, ISBN 1-58005-103-0
  • Gabriele Theling: Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden: Arbeitertöchter & Hochschule. Westfälisches Dampfboot, Münster 1986, ISBN 3-924550-18-2
  • UNICEF: Innocenti Report Card No. 4: A league table of educational disadvantage in rich nations. UNICEF Innocenti Research Centre, Florence 2002