Der Eurotunnel oder Kanaltunnel ist ein 50 km langer Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal. Er verbindet Cheriton in Kent (England) und Sangatte in Nordfrankreich. Das lange geplante und sehr kostspielige Projekt, dem einige fehlgeschlagene Tunnelbauversuche vorangingen, wurde schließlich 1994 vollendet.
Geschichte
Planung
Bereits 1802, als England und Frankreich dabei waren, einen Friedensvertrag zu beschließen, plante man einen Tunnel, den man unter dem Ärmelkanal an der schmalsten Stelle ("La Manche") graben wollte. Diese Idee schlug der französische Ingenieur Mathieu-Favier dem damaligen Kaiser der Franzosen Napoleon Bonaparte vor. Es sollte eine unterseeische Straße werden, die von Kutschen befahren werden konnte. Durch "Kamine", die einige Meter über die Wasseroberfläche hinausragten, sollte der Luftaustausch garantiert werden. Unglücklicherweise jedoch fiel dieser Plan ins Wasser, da der Krieg zwischen Frankreich und England wieder ausgebrochen war.
1851 stellte Hector Moreau, ebenfalls ein Franzose, seine Idee vor, einen Tunnel, gebaut aus Stahl, auf dem Meeresgrund zu verlegen. Jedoch kam auch dieser Tunnel nicht zustande, da viele politische und vor allem technische Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Es folgten noch mehr als 100 andere Pläne, Ideen und Vorstellungen, wie und wo man einen Tunnel von Frankreich nach Großbritannien bauen könnte, jedoch sind auch alle diese Hoffnungen und Wünsche Träume geblieben.
1957 wurde die Kanaltunnel-Arbeitsgemeinschaft gebildet. Sie empfahl 1960 einen Bahntunnel mit zwei Hauptröhren und einem kleineren Service-Tunnel. Das Projekt wurde 1973 gestartet, musste aber wegen finanzieller Probleme 1975 eingestellt werden. Insgesamt gab es 27 Anläufe zur Untertunnelung des Ärmelkanals.
Im Jahre 1984 wurde die Idee erneut von der britischen und französischen Regierung ausgeschrieben, verbunden mit privat finanziertem Bau und Unterhaltung. Von den vier eingegangenen Angeboten wurde der Plan, der dem von 1973 am nächsten kam, ausgewählt und am 20. Januar 1986 verkündet. Der Vertrag wurde durch die zwei Regierungen in Canterbury, Kent am 12. Februar 1986 unterzeichnet und 1987 ratifiziert.
Der geplante Weg des Tunnels sollte von Calais nach Dover verlaufen (ein Weg, der länger als die kürzeste mögliche Ärmelkanalquerung ist, nämlich 33 km). Der Tunnel sollte in einer einzigen Kreideschicht verlaufen und dieser folgen, wodurch er tiefer gehen würde als vorangegangene Versuche. Auf großen Strecken des Weges ist der Tunnel so fast 40 m unter dem Meeresgrund, wobei der südliche Abschnitt tiefer liegt als der im Norden.
Bau
Gebaut wurde der Tunnel auf Druck Margaret Thatchers hin ohne staatliche Zuschüsse.
Mit dem Bau des Tunnels waren 15.000 Arbeiter über sieben Jahre beschäftigt, wobei der Tunnel von beiden Seiten gleichzeitig vorangetrieben wurde. Der Hauptauftragnehmer für den Bau war ein britisch-französisches Konsortium verschiedener Bauunternehmen. Die Ingenieure verwendeten große Tunnelbohrmaschinen (TBMs), dies sind bewegliche Aushöhlungsfabriken, die das Bohren, den Abtransport des Materials und den Prozess des Abstützens der weichen und durchlässigen Tunnelwände mit Auskleidungselementen kombinieren. Nachdem die britische und die französische TBM nahe der Mitte eingetroffen waren, wurde die französische TBM abgebaut, während die britische in den Felsen umgeleitet und dort zurückgelassen wurde. Auf der englischen Seite wurden fast vier Millionen Kubikmeter Kreide ausgegraben, wovon ein großer Teil unter der Shakespeare-Klippe nahe Folkestone ins Meer geschüttet wurde, um 36 Hektar Land zu gewinnen.
Der Kanaltunnel besteht aus drei parallelen Tunneln: zwei Haupttunnel, in denen die Züge jeweils nach Norden beziehungsweise Süden fahren, und ein kleinerer Servicetunnel. Dieser Servicetunnel, der mit schmalen Fahrzeugen befahren wird, ist durch Querdurchgänge in regelmäßigen Abständen mit den Haupttunneln verbunden. So bekommt das Wartungspersonal einen sicheren Zugang zum Tunnelkomplex, und im Notfall können von hier aus Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Weiterhin ist der Servicetunnel notwendig zum Abbau der aerodynamischen Stoßwelle, die sich vor dem Zug aufbaut, damit dieser auch mit voller Geschwindigkeit durch den Haupttunnel fahren kann.
Die Baukosten betrugen mit 15 Mrd. Euro doppelt so viel wie ursprünglich geplant.
Fertigstellung
Am 1. Dezember 1990 trafen sich die beiden Tunnelröhren dort, wo sich heute eine der "Überkreuzungshallen" befindet, in denen die Züge von einer Hauptröhre in die andere umgeleitet werden können. Damit war es zum ersten Mal seit dem Ende der letzten Eiszeit vor über 13.000 Jahren wieder möglich, trockenen Fußes vom europäischen Festland nach Großbritannien zu gehen. Durch den Einsatz von Laservermessung beim Tunnelbau trafen sich beide Röhren mit einer Abweichung von weniger als 2 cm.
Der Tunnel wurde von Königin Elizabeth II. und vom französischen Präsidenten François Mitterrand in einer feierlichen Zeremonie am 6. Mai 1994 offiziell eröffnet.
Zahlen und Fakten
Der Tunnel ist 50,5 Kilometer lang, wobei 37,9 Kilometer unterseeisch sind. Die durchschnittliche Tiefe ist 40 m unter dem Meeresgrund. Er ermöglicht seit Mai 1994 den Eisenbahntransport von Personen und Fahrzeugen. Fast sieben Millionen Passagiere nutzen die 35-minütige Reise durch den Tunnel jedes Jahr.
Die American Society of Civil Engineers (Amerikanische Gesellschaft der Bauingenieure) hat den Tunnel zu einem der modernen sieben Weltwunder erkoren.
Wirtschaftliche Bedeutung
Finanzlage
Bis zum heutigen Tag rechnet sich der Tunnelbetrieb nicht. Die auf Drängen von Margaret Thatcher ohne Staatshilfe finanzierten Baukosten können aus dem Betrieb nicht getilgt werden. Am 9. Februar 2004 vermeldete Eurotunnel einen Nettoverlust für 2003 von nahezu 1,9 Milliarden Euro aufgrund größerer Abschreibungen. Derzeit liegt die Schuldenlast von Eurotunnel bei etwa 9 Milliarden Euro. Der Börsenkurs lieg weit unter dem Emissionskurs. Derzeit signalisieren die Gläubiger von Eurotunnel jedoch, einer Schuldenentlastung von etwa 6 Milliarden Euro zuzustimmen. Sollte dies der Fall sein, dann ist die Eurotunnel-Gesellschaft gerettet, und es ist mit einem enormen Kursanstieg der Aktien zu rechnen. Andernfalls würden die etwa 900.000 Aktionäre, vornehmlich Kleinaktionäre, mit wertlosen Aktien dastehen.
(Artikel in Welt.DE).
Betrieb
Der Tunnel wird von der Firma Eurotunnel betrieben. Durch den Tunnel verkehren vier Arten von Zügen, von denen die beiden Shuttle-Systeme durch das Unternehmen Eurotunnel betrieben werden.
- Eurostar, ein durch das Unternehmen Eurostar Group Ltd betriebener Passagierschnellzug. Dieser verbindet [Waterloo (Bahnhof)|London Waterloo Station] (ironischerweise nach einer Schlacht zwischen Großbritannien und Frankreich benannt) mit dem Gare du Nord (Nordbahnhof) in Paris und mit Brüssel Midi/Zuid Station. Es gibt Zustiegsmöglichkeiten in Ashford, Calais-Frethun und Lille.
- Le Shuttle, ein Zug, der Autos, Busse und Motorräder zwischen Sangatte (Calais/Coquelles) und Folkestone transportiert. Die Fahrzeuge fahren in ein- oder zweistöckige abgeschlossene Zugsegmente. Die Passagiere bleiben in oder bei ihrem Fahrzeug und dürfen umhergehen. Toiletten sind in jedem dritten Zugwaggon vorhanden. Die reine Fahrtzeit beträgt 35 Minuten, man sollte jedoch für die gesamte Überfahrt (Autobahnausfahrt Calais – Autobahneinfahrt Folkestone) gut 90 Minuten veranschlagen. Der Shuttle ist damit dennoch die eindeutig schnellste Verbindung zur Insel.
- "Freight shuttle trains" für Lastwagen. Die Fahrer reisen in separaten Personenwaggons.
- Frachtzüge für herkömmliche Schienenfracht, die durch die English, Welsh & Scottish Railway in Kooperation mit der SNCF angeboten werden.
Während Eurostar-Züge in Frankreich und Belgien auf Neubaustrecken verkehren, die für eine Geschwindigkeit von 300 km/h ausgelegt sind, müssen sie in Kent teilweise alte, nicht für hohe Geschwindigkeiten geeignete Strecken benutzen. Zwischen dem Tunnel und London wird an einer durch die britische Regierung teilfinanzierten Hochgeschwindigkeitsstrecke, dem Channel Tunnel Rail Link (CTRL), gearbeitet. Im September 2003 wurde die erste Hälfte der Strecke in Betrieb genommen. Innerhalb des Tunnels fahren die Züge mit bis zu 160 km/h.
Der Eurotunnel verbindet zwar die Schienennetze des europäischen Festlandes mit dem in Großbritannien, ein freier Zugverkehr ist jedoch speziell wegen der unterschiedlichen Lichtraumprofile nicht möglich. In Großbritannien ist das Lichtraumprofil kleiner, was erfordert, dass alle Züge in dieses kleinere Profil passen. Der Eurostar verfügt zusätzlich über Trittstufen an den Türen, die sich an die unterschiedlichen Bahnsteighöhen und -abstände anpassen lassen. Der Tunnel selbst und die entstehende CTRL-Neubaustrecke sind jedoch im breiteren mitteleuropäischen Lichtraumprofil ausgeführt.
In den letzten Jahren hat die Bedeutung des Tunnels für den Verkehr zugenommen, da sich der Zugverkehr gegen Fähren und Billigflieger besser durchsetzen konnte. (Artikel in Welt.DE).
Politische Bedeutung
Häufig haben Asylbewerber, die sich in Großbritannien bessere Aussichten auf Asyl als in Frankreich erhoffen, den Tunnel zur illegalen Einreise nach Großbritannien benutzt. Nur wenige versuchten, durch den Tunnel zu laufen oder sich an den Zügen selbst festzuhalten. Die meisten versteckten sich in Frachtbehältern oder auf Lkw, die den Tunnel durchqueren. 2002 führte die britische Immigrationsbehörde in Kent ein hochentwickeltes Abhör- und Durchleuchtungssystem ein, um die Versteckten durch ihre Herzschläge oder ihre Atmung aufzuspüren. Anfang 2003 überzeugte die britische Regierung die französischen Behörden, das umstrittene Asylbewerberlager bei Sangatte zu schließen, das öfter Ausgangspunkt solcher Aktionen von Asylbewerbern gewesen war.
Bedeutung in den Medien
Film
Im Film Mission Impossible von Brian De Palma aus dem Jahr 1996 wird Tom Cruise an einem Zug hängend von einem Hubschrauber in den Tunnel hinein verfolgt.
Diese am Computer erstellte Szene enthält viele Fehler. Zum Beispiel wird im Film ein französischer Standard-TGVs im Kanaltunnel gezeigt, Passagierzüge der SNCF verkehren aber nicht im Tunnel. Außerdem ist der Tunnel im Film rechteckig und zweigleisig ausgebaut, während der Eurotunnel zwei getrennte Röhren besitzt. Im Film hat die Strecke auch keine Oberleitung.
Bildergalerie Dover Terminal
Die Bilder wurden vom Castle Hill oberhalb der Eurotunnel-Anlagen aus gemacht.
Geschichte des Tunnelbaus zwischen England und Frankreich
- 1751: Der Franzose Nicolas Desmaret schlägt vor, eine Verbindung zwischen England und Frankreich herzustellen.
- 1802: Der französische Bergwerksingenieur Albert Mathieu legt hierfür einen ersten ernsthaften Entwurf vor. Die Verbindung sollte mit Pferdekutschen betrieben werden. Die Varne-Sandbank sollte hierzu zu einer künstlichen Insel mit Pferdewechselstelle aufgeschüttet werden.
- 1802: Napoléon Bonaparte erörtert das Thema im Rahmen der Friedensgespräche von Amiens mit dem britischen Staatmann James Fox.
- 1803: Tunnelentwurf des Engländers Henri Mottray. Grundlegende technische Probleme bleiben hierbei ungelöst.
- 1856: Napoléon III. beauftragt eine wissenschaftliche Kommission damit, die Machbarkeit zu begutachten. Diese bezeichnet die Pläne des französischen Ingenieurs Thomé de Gamond als realisierbar.
- 1880: Versuchsbohrungen mit einer neu entwickelten Bohrtechnik.
- 1882: Auf Verlangen Großbritanniens werden alle Arbeiten am Tunnelprojekt eingestellt. Insbesondere Sir Garnet Wolseley hatte im Parlament heftig gegen das Vorhaben protestiert.
- 1955: Das britische Verteidigungsministerium erklärt, dass aus militärischer Sicht keine Einwände mehr bestünden.
- Juli 1960: Eine Studiengruppe schlägt vor, zwei Tunnelröhren für Eisenbahn und dazu einen Servicetunnel zu bauen. Das Projekt soll privat finanziert werden.
- 1973: Vereinbarung eines solchen Vorhabens zwischen Großbritannien (Premierminister Edward Heath) und Frankreich (Präsident Georges Pompidou).
- 1975: Wegen der Ölkrise werden die Pläne zurückgestellt.
- März 1985: Ausschreibung für das Tunnelprojekt.
- 20. Januar 1986: Zuschlag an das britisch-französische Konsortium "The Channel Tunnel Group Ltd/France-Manche SA".
- 15. Dezember 1987: Beginn der Bohrung auf der englischen Seite.
- 28. September 1988: Beginn der Arbeiten in Frankreich.
- 1. Dezember 1990: Durchstich am Grunde des Kanals - 15,6 km von Frankreich, 22,3 km von Großbritannien entfernt.
- 6. Mai 1994: Eröffnung durch Königin Elisabeth II. und Staatspräsident François Mitterrand
Literatur
- Friedhelm Ernst: "Eurostar" und "Eurotunnel". In: Eisenbahn-Kurier. Nr. 272/Jahrgang 29/1995. EK-Verlag GmbH, ISSN 0170-5288, S. 84-86.