Habitus (lateinisch habitus = "Gehaben", von habere = "haben") war im gehobenen Deutsch ein Ausdruck für ein besonderes und festes Auftreten und Benehmen eines Menschen (Beispiel: Obwohl er nun schon jahrelang Politiker ist, verfällt er immer noch in den Habitus eines Lehrers.)
"Habitus" als Fachausdruck
In der Soziologie ist "Habitus" durch Pierre Bourdieu ein fachlicher Kernbegriff geworden. Er bezeichnet insgesamt das Auftreten einer Person, im Einzelnen also z.B. den Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und den Geschmack. Am Habitus einer Person lässt sich der Rang oder Status einer Person in der Gesellschaft ablesen.
In diesem Sinne haben z.B. bereits ältere Soziologen Habitusformen untersucht, ohne den Begriff zu benutzen - so 1899 Thorstein Veblen den "demonstrativen Konsum" in The Theory Of The Leisure Class. Spätestens 1925 benutzte Otto Rühle in Die Seele des proletarischen Kindes den Begriff Habitus auch wortwörtlich, als er den Marxismus mit Alfred Adlers Individualpsychologie verband.
Habituskonzept nach Bourdieu
"Habitus" umfasst für Bourdieu zunächst die objektive Kategorisierung von Angehörigen bestimmter sozialer Klassen innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen, und darüber hinaus ein auf das Subjekt bezogenes Konzept der Verinnerlichung kollektiver Dispositionen. Habitus ist das Produkt von sozialen und kulturellen Kapital, oder auch die Konditionierung des Individuums und Reproduktion von Herrschaft, je nach Perspektive.
Das Habituskonzept vermittelt zwischen den fundamentalen/ elementaren Lebensbedingungen, und den Praxisformen (Raum der Lebensstile) eines sozialen Akteurs. Fundamentale Lebensbedingungen zeichnet Bourdieu im sozialen Raum nach. Der Habitus erfüllt eine Doppelfunktion:
- Er ist als opus operatum (Werk) durch die elementaren Lebensbedingungen der sozialen Lage bestimmt
- und zugleich als modus operandi (Handlungsweise) generatives Erzeugungsprinzip für Praxis. Bourdieu spricht hier von "strukturierter, strukturierender Struktur".
Opus operatum (Werk)
Der Habitus ist klassenspezifisch determiniert, d.h. Lebensbedingungen werden über Anpassungs-, Lern- und Konditionierungsprozesse als klassenspezifische Klassifikationssysteme verinnerlicht. In der alltäglichen Praxis werden kollektive, generative Schemata und "Dispositionen" (Grundlegende Eigenschaften) einverleibt.
Die soziale Herkunft und der bisherige soziale Lebenslauf sind für die Prägung des Habitus von zentraler Bedeutung. Über die frühkindliche Entwicklung vermittelt, geht darüber hinaus die gesamte kollektive Geschichte der Familie und der Klasse in den Habitus ein. Nicht nur klassenspezifische Sprache oder Werte haben konstituierende Funktion, sondern beispielsweise auch die Architektur, große und helle oder enge, dunkle Räume, oder auch die Beschaffenheit der Inneneinrichtung wirken in der frühkindlichen Entwicklung prägend.
Bourdieu bezeichnet den Habitus als geronnene Lebensgeschichte. Soziale Positionen werden als Dispositionen verinnerlicht.
Modus operandi (Handlungsweise)
Der Habitus ist ein generatives Erzeugungsprinzip von Praxisformen. Die Schemata des Habitus bilden Urformen der Klassifikation und sind die fundamentalsten Prinzipien der Konstruktion und Bewertung der sozialen Welt. Weil diese als hierarchisch strukturiert erfahren wird, ja inkorporiert ist, wird sie auch als solche wahrgenommen und bewertet.
Die Art zu denken, die Sichtweise auf die soziale Welt, das Verhalten und Handeln in sozialen Situationen bis hin zu alltäglichen Handlungen werden von den Dispositionen und Klassifikationen des strukturell angepassten Habitus gesteuert und realisiert. Entstandene Dispositionen, inkorporierte Lernakte beziehen sich nicht nur auf die konkrete Lernsituation, sondern folgen dem generativen Prinzip des Habitus und wirken in eine Vielzahl von Handlungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungssituationen hinein.
Die durch die Klassenzugehörigkeit bestimmte Determinierung des Habitus bietet gleichwohl Raum für eine individuelle kreative Weltgestaltung. In einer Theorie der Praxis verbindet Bourdieu sozialstrukturell beeinflusste, Verhaltensformen mit nutzungsorientierten Strategien. Die sozialen Akteure greifen in variablen, niemals gleichen Situationen auf dauerhafte Dispositionen zurück, die improvisiert, gleich den unendlichen Zügen eines Schachspiels, kombiniert, erfunden werden. Der Habitus ist also "objektiv" determiniert, erlaubt aber zugleich "subjektive" individuelle Handlungstrategien in einem Raum der Möglichkeiten.
Der Habitus umfasst:
- ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, welche als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen dienen, die sich in der Spontaneität des Momentes, also ohne Wissen und ohne Bewusstsein in der Praxis eines Menschen offenbaren;
- einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene verinnerlichte, also inkorporierte Geschichte;
- ein „sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“;
- Zeichen der Distinktion der einzelnen Klassen, die sich unter anderem in einer speziellen Kleidung, Sprache, Geschmack oder dem Konsumverhalten äußert;
- Denk- und Sichtweise der Wahrnehmungsschemata, welche die Prinzipien des Urteilens und Bewertens - die "Doxa" - begründen.
Außerdem benutzt Bourdieu in diesem Zusammenhang folgende Terminologie:
- „Körper gewordene Sprache“ bedeutet: Durch den Habitus verdinglichen sich Denk- und Sichtweisen am menschlichen Körper.
- Praxis meint, dass der Habitus den Menschen jeden Moment seines Daseins durchdringt und seinen Handlungsspielraum einengt, ihm aber Möglichkeiten der Gestaltung innerhalb dieses Rahmens lässt.
- Generativer Operator stellt eine erzeugende Verbindung von Strukturierendem und Strukturiertem bereit.
In modernen Industriegesellschaften unterscheiden sich gemäß Bourdieu die einzelnen sozialen Klassen nicht nur durch ihre unterschiedliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, sondern auch durch „feine Unterschiede” in ihren Habitusformen. Diese Unterschiede, die Zeichen der Distinktion, beziehen sich z. B. auf Kleidung, Sprache, Geschmack und das Konsumverhalten.
Habitus meint bei Bourdieu die klassenspezifisch erworbene, unbewusste aber genaue Angepasstheit der Dispositionen, Verhaltensmuster und Einstellungen einer Person an das jeweilige soziale (Um-)Feld. Das gesamte Handeln der Individuen wird von diesem Habitus bestimmt: Der Habitus leistet die Umsetzung objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse in subjektive, individuelle und klassenbestimmte Praxis. Unbewusst und trotzdem genau angepasst an das soziale Feld ist diese Praxis deshalb, weil der Habitus geschichtlich erst in Reaktion auf ein immer schon vorhandenes soziales Feld entsteht. Der Habitus ist daher das Produkt eines geschichtlichen Prozesses. In ihm manifestieren sich die objektiven Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Handelns einer Klasse und werden mittels eines Klassenethos in subjektiven Sinn verwandelt.
Hexis
Hexis ist die griechische Version des bekannteren Habitus = Verhalten, äußere Form, Haltung. Bourdieu benutzt Hexis und Habitus teilweise in verschiedener Bedeutung. Während er den Begriff Habitus benutzt, um Steuermechanismen für geistige Einstellungen und Gewohnheiten zu beschreiben (z.B. Kunst- oder Musikgeschmack), so benutzt er den Begriff Hexis in Bezug auf die körperliche Dimension (z.B. Gestik, Körperhaltung, Wahl der Sportart).
Literatur
- Pierre Bourdieu (1997): Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld. In: ders., Der Tote packt den Lebenden, Hamburg.
- Beate Krais, Gunter Gebauer (2002): Habitus. Transkript Verlag, Bielefeld. ISBN 3-933127-17-3
- Peter Nickl: Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des Habitus. Meiner Verlag, Hamburg 2001.