„Sie wollen dafür Sorge tragen, daß hinsichtlich der in Ihrer Gemeinde eingesetzten polnischen Landarbeiter auch von Seiten der Arbeitgeber der nötige Abstand gewahrt wird."
NS-Zwangsarbeit in Büdingen und in umliegenden Gemeinden. Bericht über einen beinahe vergessenen Teil der Lokalgeschichte
Vorbemerkung
Die öffentliche Diskussion der Zwangsarbeit während der Zeit des Dritten Reiches, die im Zusammenhang mit deren Entschädigung mit einer Verspätung von mehr als einem halben Jahrhundert hauptsächlich in den Medien geführt wurde und ihren Höhepunkt in den Jahren 1999 und 2000 hatte, erreichte auch die Stadt Büdingen. Angeregt durch eine Initiative des Landrates des Wetteraukreises hat die Stadtverordnetenversammlung mit einem Beschluss vom März 2000 die „Erforschung und Dokumentation des Schicksals der Menschen, die in der NS-Zeit zu Zwangsarbeit in Büdingen und den – ehemals selbstständigen – Ortsteilen eingesetzt wurden“ in Auftrag gegeben.
Erste Recherchen im Archiv der Stadt Büdingen ergaben sehr schnell, dass es in Büdingen - vermutlich in allen heutigen Stadtteilen - Zwangsarbeit in bedeutendem Umfang gab. Als Gebietskörperschaften haben nachweisbar auch die Stadt Büdingen und die damals selbstständige Gemeinde Düdelsheim Zwangsarbeitende beschäftigt. Daraufhin hat die Stadtverordnetenversammlung im August 2000 mit großer Mehrheit einen weiteren Beschluss gefasst, in dem es u.a. heißt:
„Vom Sommer 1943 bis zum 1. April 1944 setzte die Stadt Büdingen selbst mindestens 42 zivile Zwangsarbeitskräfte, so genannte Ostarbeiter, ein. Für den Bereich der Gemeinde Düdelsheim ist mindestens ein Zwangsarbeiter nachweisbar. Die Stadtverordnetenversammlung bekennt sich zur Mitverantwortung der Stadt Büdingen und der Gemeinde Düdelsheim für das Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde. Die Stadtverordnetenversammlung bedauert das Schicksal dieser Menschen zutiefst. Als einen symbolischen Beitrag zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeitskräfte überweist die Stadt Büdingen einen Betrag von 30.000 DM. (In eine Zustiftung, die die zehn Milliarden DM aufstocken, die zur Entschädigung für NS-Zwangsarbeit im Rahmen der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft je zur Hälfte von der Wirtschaft und dem Bund bereitgestellt wurden. (Anm. 1)) Die Stadtverordnetenversammlung versteht diese Zahlung nicht als Erledigung des Zwangsarbeiterproblems mit Geld, sondern sieht darin einen Beitrag, der es den heute noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern ermöglicht, ihre oft sehr schwierigen Lebensverhältnisse, insbesondere in Osteuropa, ein wenig zu erleichtern.“ (Anm. 2)
Die lokalen Aspekte der NS-Zwangsarbeit werden nur verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des Ausländer-Einsatzes in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches (Anm. 3) sieht. Dieser Einsatz hatte insgesamt ungeheuerliche Ausmaße:
siehe ausgelagerter Text: Zwangsarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus
Der Komplex NS-Zwangsarbeit wurde lange Zeit verleugnet oder bagatellisiert. Erst seit den achtziger Jahren wird er erforscht. Dabei sind nicht zuletzt auch die lokalen und regionalen Aspekte von großer Bedeutung. Dazu soll dieser Bericht ein kleiner Beitrag sein. Darüber hinaus ist er ein Versuch, dieses schwierige und – auch in Büdingen – verdrängte Thema zur Sprache zu bringen. Somit ist er vor allem ein Erinnern an das Schicksal beinahe vergessener Menschen, die während des Krieges in Büdingen und den umliegenden Gemeinden lebten und allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Nationalität verschleppt und unter massivem Verstoß gegen das Völkerrecht unter oft unwürdigsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Gleichzeitig ist er ein Beleg dafür, dass sich das Unrecht des NS-Regimes auch vor Ort in aller Öffentlichkeit ereignete – also nicht nur im Verborgenen – und dieses nur deshalb so tüchtig funktionierte, weil es zu viele Gedankenlose, Vorurteilsbehaftete, Mitläufer, Nutznießer, kleinere und größere Täter gab und zu wenige, die sich nicht von der NS-Ideologie beeinflussen ließen und im Alltag den kleinen oder auch großen Mut aufbrachten, sich menschlich zu verhalten, nicht mitzumachen.
Die Überlieferung in Bezug auf die NS-Zwangsarbeit in Büdingen ist lückenhaft. Die noch vorhandenen Dokumente finden sich heute im Wesentlichen im Archiv der Stadt Büdingen, in dem sich die Archivalien fast aller heutigen Ortsteile befinden, im Fürstlich Ysenburgischen Archiv Büdingen (Anm. 8) sowie in geringen Teilen auch im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt. Einschlägige Dokumente wurden vermutlich gegen Ende des Krieges und wahrscheinlich auch noch unmittelbar nach Kriegsende – zumindest im Bereich des Landkreises Büdingen – vernichtet. Für den in Frage kommenden Zeitraum sind die auffindbaren Meldekarten der Stadt Büdingen und die Eintragungen in den vorliegenden Anmeldebüchern der heutigen Stadtteile lückenhaft. In diesen wurden alle Personenzugänge – in der Regel auch Zwangsarbeitende – in den Bürgermeistereien vermerkt. Darüber hinaus liegen Eintragungen in den Gemeinderatsprotokollbüchern der Stadt nur bis zum 8. Juli 1942 vor. Möglich ist, dass danach keine Protokolle der Gemeinderatssitzungen mehr angefertigt wurden. 1969 sind offensichtlich weitere Unterlagen im Rahmen einer „Aufräumaktion“ im Gebäude des ehemaligen Landratsamts in der Berliner Straße vernichtet worden. Schließlich sind die einschlägigen Akten von drei Stadtteilen (Anm. 9) insgesamt nicht vorhanden. Es ist daher davon auszugehen, dass die nachweisbaren Zahlen der in Büdingen und den Stadtteilen eingesetzten Zwangsarbeitenden niedriger als die tatsächlichen sind. Auch sind nur (noch) wenige vom alltäglichen Geschehen abweichende Vorgänge in den Akten dokumentiert. Dennoch entsteht bei Durchsicht der verfügbaren Dokumente ein Bild, das die Gesamtsituation der NS-Zwangsarbeit in der heutigen Großge-meinde Stadt Büdingen in wesentlichen Umrissen aufzeigt und das in einigen Details sogar sehr deutlich ist.
Vorab zusammengefasst: In Büdingen und in (vermutlich) allen Stadtteilen, damals selbstständigen Gemeinden, wurden insgesamt mindestens 944 (Anm. 10) Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eingesetzt, als Waldarbeiter von der Stadt, von (heutigen) Stadtteilen sowie dem Fürsten zu Ysenburg und Büdingen, in der Landwirtschaft, in Gewerbebetrieben, bei den lokalen Anlagen der Reichsbahn, in Privathaushalten, im Mathildenhospital, in einem Kinderheim Frohkind und in einer evangelischen Kirchengemeinde.
Über die NS-Zwangsarbeit in Büdingen und deren Umfang, die für viele von uns heute ebenso erschreckend ist, wie sie zunächst erstaunlich wirken mag, soll hier, soweit das auf Grund der Quellenlage möglich ist, berichtet werden.
Nicht zuletzt ist hier zu erwähnen, dass dies ohne die engagierte Unterstützung von Archivleiter Peter Zinnkann und seiner umsichtigen Recherchen im Archiv der Stadt Büdingen nicht möglich gewesen wäre. Ihm gilt mein besonderer Dank.
Zur Reglementierung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Zivilarbeitenden
Beim Durchsehen der vorhanden Büdinger Dokumente fällt zunächst auf, dass es eine Vielzahl von Anordnungen der unterschiedlichsten NS-Behörden gab, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zivilarbeitenden grundsätzlich bestimmten. Dabei gab es zwischen den verschiedenen Nationalitäten Abstufungen. So waren die Bestimmungen für Polinnen und Polen deutlich schlechter als für Zivilarbeitende aus Westeuropa. Den härtesten Bedingungen waren die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion unterworfen.
Sofort nach Kriegsbeginn wurde es aus Sicht der NS-Machthaber und der Mächtigen in der Wirtschaft dringend notwendig und auch möglich, den längst geplanten Ausländer-Einsatz in der Kriegswirtschaft zu realisieren. Zunächst waren davon polnische Kriegsgefangene und Zivilisten betroffen, die nun als Erste massenweise zum Arbeitseinsatz ins Reich gebracht wurden. Organisatorisch zuständig für den Arbeitseinsatz vor Ort waren die Arbeitsämter. Eine Zuteilung ausländischer Zivilarbeitender erfolgte ausschließlich über die zuständige Stelle, hier das Arbeitsamt Büdingen, eine Nebenstelle des Arbeitsamtes Gießen. Kein Bauernhof, kein forstwirtschaftlicher Betrieb, kein Gewerbebetrieb, keine Kommune und kein Privathaushalt erhielten eine Zwangsarbeitskraft, ohne diese dort anzufordern.
siehe ausgelagerter Text: Polen-Erlasse
Bei der Durchsetzung der Anordnungen - insbesondere der rassenideologischen Aspekte - im Landkreis Büdingen war NSDAP-Kreisleiter Emil Görner eine treibende Kraft. Einem Schreiben des Oberstaatsanwaltes des Landgerichts Gießen an den Generalstaatsanwalt in Darmstadt vom 7. November 1942 ist zu entnehmen: „Im hiesigen Landgerichtsbezirk ist es namentlich ein Kreisleiter (Büdingen), (Anm. 19) der mit unerbittlicher Strenge durch die Ortsgruppenleiter ... Fälle der Tischgemeinschaften zur Anzeige bringen läßt.“ (Anm. 20)
Görner überprüfte insbesondere die Bauern im Landkreis Büdingen, ob sie das Verbot der Tischgemeinschaft mit ihren fremdvölkischen Zwangsarbeitenden beachteten.
Neben dem Arbeitsamt und dem NSDAP-Kreisleiter hatte der Landrat (Anm. 21) in Bezug auf die Verwaltung der Zwangsarbeitenden im Landkreis Büdingen eine wichtige Funktion. Er gab die diesbezüglichen Anordnungen „von oben“ an die Bürgermeistereien weiter. Dabei konkretisierte er sie nicht nur, sondern verschärfte sie oft zusätzlich. Vor allem bestand er auf ihrer penibelsten Einhaltung. So schreibt er am 7. März 1940 an die Bürgermeister:
„Es wird mir ständig darüber geklagt, daß die in der Landwirtschaft männlichen und weiblichen Polen in ihrer Freizeit, vor allem an Sonntagen, ihren Aufenthaltsort verlassen und über Land gehen. Vielfach suchen sie dann Polen in anderen Gemeinden auf und tauschen ihre Erfahrungen, die sie jeweils bei ihren Arbeitgebern gesammelt haben, aus. Ein solches Hin- und Herwandern von Ausländern, d.h. Polen, ist aus verschiedenen polizeilichen Gesichtspunkten bedenklich. Meist sind die Polen nicht im Besitz von Ausweispapieren, sodaß eine unter Umständen notwendige polizeiliche Kontrolle unterwegs auf Schwierigkeiten stößt. Es ist deshalb mit einer entsprechenden Regelung demnächst zu rechnen, daß den Polen das Verlassen ihres Aufenthaltsortes verboten ist. (Anm. 22) Einstweilen wollen Sie die polnischen Gesindekräfte und auch ihre Arbeitgeber dahin bedeuten, daß ihnen das Verlassen ihres Aufenthaltsortes untersagt ist.
Ich habe weiterhin feststellen müssen, daß polnische Arbeiter und Arbeiterinnen Schankwirtschaften aufsuchen und dort unverständlicherweise Alkohol verabreicht erhalten. In verschiedenen Fällen haben Polen und Polinnen Einlaß in Kinos erhalten. Diese sprichwörtliche deutsche (Anm. 23) Gutmütigkeit geht zu weit! Offenbar haben die in Frage kommenden Schankwirte und Kinobesitzer die ungeheueren Greueltaten der polnischen Bevölkerung, die an unseren deutschen Brüdern und Schwestern in Polen und an unseren Soldaten begangen wurden, vergessen! (Anm. 24) Dieses gedankenlose Verhalten kann keinesfalls länger zugelassen werden!
Ich beauftrage Sie deshalb, die Inhaber von Schankwirtschaften und Kinobesitzer darauf hinzuweisen, daß den im Kreis eingesetzten polnischen Arbeitern und Arbeiterinnen die Verabreichung von Alkohol, bezw. der Besuch von Schankstätten und Kinos verboten ist. Derjenige Gast- bezw. Schankwirt oder Kinobesitzer, der dieser Aufforderung weiterhin zuwiderhandelt, gibt zu erkennen, daß er nicht über die in seinem Gewerbebetrieb erforderliche Zuverlässigkeit verfügt. Sie wollen die Gast- und Schankwirte und Kinobesitzer hierauf ausdrücklich hinweisen.“ (Anm. 15)
Der Büdinger Bürgermeister Diemer (Anm. 26) ließ zur eigenen Absicherung 21 Gastwirte sowie den Kinobetreiber seiner Gemeinde auf dem auch an ihn gerichteten Schreiben des Landrats abzeichnen.
In einer Verfügung des Landrats vom 22. Juni 1940 an die Gendamerieposten des Kreises „Betreffend: Behandlung der im Reich eingesetzten Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums - Fahndung und Festnahme“ heißt es unter Bezugnahme auf eine Anordnung des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei u.a.:
„Wird der Arbeitsplatz aus persönlichen Gründen, aus Arbeitsunlust usw. (von polnischen Zwangsarbeitenden Anm. 1] verlassen, so ist folgendes zu beachten:
Es ist mir unverzüglich ... das Verlassen des Arbeitsplatzes zu melden, damit die Meldung von hier aus an die Geheime Staatspolizei weitergeleitet werden kann. ...
Grundsätzlich sind alle Polen, die ohne Ausweis angetroffen werden bzw. eine Aufenthaltsberechtigung für den Ort, an dem sie angetroffen werden, nicht nachweisen können, festzunehmen und dem nächsten Polizei-, notfalls dem nächsten Gerichtsgefängnis zur polizeilichen Verwahrung zuzuführen. ...
Die von der Kriminalpolizeileitstelle alsdann zu verständigende zuständige Staatspolizeileitstelle veranlaßt je nach Sachlage des Einzelfalles ... entweder die Überstellung des Festgenommenen in ihren Dienstbereich oder dessen Überführung in ein Konzentrationslager bezw. Arbeitserziehungslager in der üblichen Weise. ... Die Bürgermeister als Ortspolizeiverwalter haben Abschrift dieser Verfügung erhalten mit dem Auftrag, in ihrer Zuständigkeit ebenfalls das Erforderliche zu veranlassen.“ (Anm. 27)
Am. 9. Oktober 1940 informierte der Landrat die Bürgermeister des Kreises über „weitere Erläuterungen und Ergänzungen aus dem Runderlaß des RFSSuChdDt.Pol. (Anm. 28) im RMdI. (Anm. 29) vom 3.9.1940“ in einer Abschrift. Dieser hat er u.a. vorangestellt:
„Für die straffe Durchführung der Anordnung hinsichtlich der Kennzeichnung der Polen sind Sie in Anbetracht der wiederholten Klagen besonders verantwortlich. ...
Soweit die Bekämpfung der Arbeitsunlust und Arbeitsniederlegung nicht schon an Ort und Stelle behoben werden können, weise ich sie an, die Fälle derartiger Erscheinungen und auch Vergehen und Verbrechen der Polen, wie z.B. Sittlichkeitsdelikte, Sabotagehandlungen, Brandstiftungen usw. mir unverzüglich mitzuteilen“. (Anm. 15)
In der Abschrift selbst heißt es dann u.a.:
„Es besteht Veranlassung, auf die strikte Einhaltung der den Polen obliegenden Aufenthaltspflicht am Arbeitsort hinzuweisen. ... Es konnte festgestellt werden, dass die Arbeitskräfte polnischen Volkstums in ihrer Freizeit sich in die nahegelegenen Städte begeben, wo sie den Eindrücken der Stadt und den Einflüsterungen dort tätiger Polen ausgesetzt sind. ...
Im Zusammenhang hiermit wird darauf hingewiesen, dass auch der Besitz von Fahrrädern den Polen häufig das Verlassen der Arbeitsplätze erleichtert hat. Es ist daher ... Vorsorge zu treffen, dass Polen nicht in den Besitz von Fahrrädern gelangen; soweit sie bereits Fahrräder erworben haben, haben sie diese zu veräußern. ...
Der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten hat inzwischen unter dem 13.4.1940 einen Erlass über die Behandlung der Arbeitskräfte polnischen Volkstums herausgegeben. Bis auf weitere Weisung ist an dem durch die dortigen Polizeiverordnungen herausgegebenen Verbot jeglicher Teilnahme von polnischen Arbeitskräften an Gottesdiensten für die deutsche Bevölkerung festzuhalten. ...
In einzelnen Landkreisen ist dort, wo sich eine geschlossene Unterbringung nicht als möglich erwiesen hat, dafür Sorge getragen worden, dass männliche Arbeitskräfte polnischen Volkstums, die in von deutschen Frauen (ohne männliche Hilfe aus der Verwandtschaft) geleiteten Betrieben beschäftigt sind, ein Quartier in anderen Betrieben, die von deutschen Männern geleitet werden, erhalten. Ich halte diese Maßnahme für sehr zweckdienlich, um den bekannten unerfreulichen Verhältnissen vorzubeugen, und ersuche nach Möglichkeit Entsprechendes zu veranlassen.“(Anm. 15)
Auch der Postverkehr der Zwangsarbeitenden wurde streng reglementiert. In einer Verfügung des Landrats vom 22. Juli 1941 an die Bürgermeister heißt es u.a.:
„Nach einem Erlass der Geheimen Staatspolizei ... haben die Mitteilungen der Polen an ihre Heimat ..., in denen sie sich über ihre Arbeit und ihre Entlohnung beklagten, zu Unruhen geführt. Es ist deshalb eine Beschränkung der abgehenden Postsendungen der polnischen Zivilarbeiter an ihre Angehörigen ... gerechtfertigt. Für das Gebiet der Staatspolizeistelle Darmstadt ist deshalb angeordnet worden, dass sämtliche in diesem Bereich eingesetzten polnischen Zivilarbeiter lediglich einmal im Monat in ihre Heimat schreiben dürfen. ... Die Erfassung dieser Briefe soll so erfolgen, dass die hier eingesetzten Polen die Briefe an ihre Arbeitgeber abzuliefern haben. Diese wiederum leiten sie durch die Ortspolizeibehörde und durch mich der Geheimen Staatspolizei - Staatspolizeistelle Darmstadt zu. ... Ich beauftrage Sie, die Arbeitgeber von polnischen Zivilarbeitern entsprechend zu bedeuten. ...
Die genannten Briefe sind frankiert, offen mit der üblichen Dienstpost der Bürgermeister an mich einzusenden. Ich werde sie ... gesammelt an die .... Staatspolizeistelle Darmstadt zur Kontrolle weiterleiten.“ (Anm. 32)
Um den Volksgenossen den Charakter des polnischen Untermenschen vor Augen zu führen und um jedes Mitgefühl mit ihm von Anfang an möglichst zu unterbinden, griff man auch auf das Mittel der Gräuelpropaganda zurück. In diesem Zusammenhang soll hier ein Schreiben des Landrats vom 18. Mai 1940 an die Bürgermeister des Kreises mit dem Betreff „Behandlung polnischer Gefangener und polnischer Landarbeiter“ im Wortlaut wiedergegeben werden. Es besteht aus zwei Teilen: der Abschrift eines Textes vom Oberkommando der Wehrmacht und einem vom Landrat vorangestellten Teil. Der vorangestellte Teil heißt:
„Nachstehend gebe ich Ihnen die Abschrift eines Vernehmungsprotokolls über die Ermordung deutscher Soldaten in Uniejow bekannt. Ergänzend hierzu hat das Oberkommando der Wehrmacht durch Verfügung vom 5. April 1940 bekanntgegeben, daß einem Gegner, der für solche Greueltaten verantwortlich gemacht werden muß, man nicht die Hand gibt und ihm keine besonderen Vergünstigungen gewährt.
Wenn auch die Verfügung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 5. April 1940 sich in erster Linie (an (Anm. 1) die Wachkommandos und die Kommandanten der Kriegsgefangenenlager wendet, so können Sie doch daraus erkennen, daß auch zu den polnischen Zivilarbeitern (! (Anm. 1) der erforderliche Abstand eingehalten werden muß. Sie wollen dafür sorgen, daß hinsichtlich der in Ihrer Gemeinde eingesetzten polnischen Landarbeiter auch von Seiten der Arbeitgeber der nötige Abstand gewahrt wird. Auf meine früheren Verfügungen und auf die mündliche Bekanntgabe in den Bürgermeisterbesprechungen nehme ich im übrigen Bezug. ...
Der Text des Oberkommandos der Wehrmacht hat den Wortlaut:
Am 10. September 1939 stießen die polnischen Truppen nochmals vor und drangen in Uniejow ein. Hierbei gerieten deutsche Soldaten in polnische Gefangenschaft. Ein gewisser Jude Jtzik Lewin aus Uniejow war den polnischen Soldaten insofern behilflich, als er ihnen die Verstecke der deutschen Soldaten anzeigte. Die polnischen Soldaten holten daraufhin die deutschen Soldaten aus ihren Verstecken und brachten sie in einen Schuppen. Insgesamt hatten sie etwa 30 - 35 Soldaten in den Schuppen eingesperrt. Der Schuppen war zu dieser Zeit gefüllt mit Holz, denn es wurde dort von den Tischlern aus Uniejow da drinnen gearbeitet, so daß auch viele Hobelspäne herumlagen.
Als die polnischen Soldaten die deutschen Soldaten im Schuppen zusammengepfercht hatten, warfen sie von außen Handgranaten in den Schuppen. Hierbei geriet der Schuppen in Flammen. Die polnischen Soldaten hatten den Schuppen umstellt, um ein Ausbrechen der deutschen Soldaten zu verhindern. Ein deutscher Soldat versuchte dem Flammentod zu entkommen und sprang aus dem oberen Fenster auf die Straße. Dort wurde er sofort von den polnischen Soldaten aufgegriffen und in die Flammen geworfen.
Am gleichen Tag fuhren zwei Kraftfahrer der deutschen Truppen aus Dombier kommend in Uniejow ein. Sie bekamen Panne und hielten bei einer Schmiede an. Als sie bei der Ausübung der Reparaturen waren, wurden sie von den polnischen Soldaten überrascht und gefangen genommen. Die Polen rissen dem einen deutschen Soldaten die Zange aus der Hand und rissen den deutschen Soldaten die beiden Ohren aus. Unter Kolbenhieben wurden sie nach dem Wald abgeführt, ob sie dort erschossen wurden, konnte bisher nicht ermittelt werden. Der Volksdeutsche Keil aus Uniejow ist Augenzeuge dieser beiden Vorgänge.
Da der Zeuge Keil nicht wußte, welcher von den drei Gebrüdern Lewin aus Uniejow den Polen die Verstecke deutscher Soldaten zeigte, wurde eine Gegenüberstellung der Gebrüder Lewin durchgeführt. Hierbei stellte es sich heraus, daß der geflüchtete Jtzik Lewin als Täter in Frage käme.
Es ist anzunehmen, daß die zwei Brüder Lewin genau wissen, wo sich ihr Bruder aufhält. Aus diesem Grunde wurden sie vorläufig festgenommen und so lange in Haft behalten, bis sich ihr Bruder hier stellt.
Da diese Tat ein Verbrechen bildet und Verdunkelung der Sache vorliegt, ist die vorläufige Festnahme gerechtfertigt. Auf die Vernehmung des Zeugen Keil wird Bezug genommen.
gez. M.
Gend.-Hauptwachm.“(Anm. 33)
Der Zynismus des zweiten Textteils ist angesichts der tatsächlichen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen so offensichtlich, dass er nicht kommentiert werden muss. Interessanter ist hier der vom Landrat verfasste erste Teil. Trotz der traditionell weit verbreiteten Vorurteile gegenüber den als rückständig angesehenen Polacken war es offensichtlich notwendig, der einheimischen Bevölkerung eine Begründung für die offiziell unbarmherzige Haltung gegenüber den Polen zu liefern. Die Bauern zum Beispiel, die eine Polin oder einen Polen zur Zwangsarbeit erhielten, sollten so eingestimmt werden, dass sie diese nicht etwa wie deutsches Gesinde behandelten, sondern dass sie in ihnen Untermenschen voller Heimtücke und Bestialität sehen und ihnen entsprechend gegenübertreten sollten.
Schließlich soll hier noch das Rundschreiben des Büdinger Bürgermeisters Diemer an Bürger der Stadt, die polnische Zivilarbeitende beschäftigten, zitiert werden. Es ist auf den 14. August 1940 datiert und mit dem Betreff „Luftschutzmaßnahmen“ versehen. Es heißt:
„Nach den von der Polizei gemachten Feststellungen haben sich bei den Luftschutzalarmen Polen in der Stadt Büdingen während des Alarms auf der Strasse herumgetrieben. Die Sicherheit der Stadt erfordert es schon, dass Gefangene, wenn auch Zivilgefangene, unter allen Umständen während eines Alarms von der Strasse ferngehalten werden, zumal es ja auch der einheimischen Bevölkerung verboten ist, sich auf die Strassen zu begeben. Ich erwarte daher für die Zukunft, dass Sie die bei Ihnen beschäftigten Polen im Hause festhalten und überwachen. Ein gemeinschaftlicher Aufenthalt mit den übrigen Hausbewohnern im Luftschutzkeller ist nicht erlaubt. Es muss Ihnen überlassen bleiben, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, dass bei einem Fliegeralarm die Polen im Hause sicher untergebracht bleiben.“ (Anm. 34)
In einer Reihe weiterer Schreiben an die Bürgermeistereien, insbesondere des Landrats, aber auch der Gestapo, Staatspolizeistelle Darmstadt sowie des NSDAP-Kreisleiters Görner, deren Datierungen bis zum Februar 1945 (!) reichen, wird darüber Klage geführt, dass einzelnen Polinnen und Polen, aber auch anderen ausländischen Arbeitskräften, ungerechtfertigt Fahrerlaubnisse für die Bahn erteilt wurden, dass sie sonntags unerlaubterweise ihren Arbeitsort verließen, um sich mit Landsleuten zu treffen, dass sie verbotenerweise immer noch im Besitz von Fahrrädern oder gar Radioapparaten seien oder dass es zur Flucht von Zwangsarbeitenden kam etc. Es war also bis zum Kriegsende erforderlich, Nachlässigkeiten der vor Ort Verantwortlichen im Umgang mit den Vorschriften zu brandmarken. Vermutlich hatten einige der Schreiben auch die Funktion, im hierarchischen System der NS-Bürokratie der jeweils vorgesetzten Stelle eifrige Geschäftigkeit zu signalisieren.
Die Anordnungen in Bezug auf den Ausländer-Einsatz bestimmten grundsätzlich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zivilarbeitenden, auch in Büdingen. Insbesondere waren davon die Polinnen und Polen betroffen, mehr aber noch die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Die tatsächliche Situation der Betroffenen wurde aber zusätzlich von weiteren wesentlichen Faktoren vor Ort bestimmt. Dies waren insbesondere die Art der Arbeit, die zu verrichten war, die Art der Unterbringung und das Verhalten des jeweiligen deutschen Arbeitgebers bzw. Vorgesetzten. So war es grundsätzlich ein Unterschied, ob man als Schwerstarbeiter im Wald ohne ausreichendes Schuhwerk oder ob man als Dienstmädchen eines bürgerlichen Haushalts verwendet wurde. Es war ein Unterschied, ob man es mit einem integren Arbeitgeber zu tun hatte, etwa einem Bauern, der das Verbot der Tischgemeinschaft – auch unter Inkaufnahme eines persönlichen Risikos – ignorierte, oder ob man Vorgesetzten oder Wachmannschaften ausgeliefert war, die auch zu willkürlichen Bestrafungs- oder Erniedrigungsaktionen neigten. Darüber hinaus hing das konkrete Schicksal aber auch davon ab, ob ein Zwangsarbeiter sich etwa bei einem Arbeitsunfall eine schwere Verletzung zuzog, ob eine Zwangsarbeiterin das Unglück hatte, schwanger zu sein oder zu werden oder ob man aus irgendeinem Grund in die Mühlen der Gestapo geriet.
Zwangsarbeitende in der Stadt Büdingen
siehe ausgelagerter Text: NS-Zwangsarbeit im Bereich der Stadt Büdingen.
Zivilarbeitende
siehe ausgelagerter Text: Kapitel: Zivilarbeitende.
Vorgehen gegen schwangere Zivilarbeiterinnen und gegen Kleinkinder
siehe ausgelagerter Text: Kapitel: Vorgehen gegen schwangere Zivilarbeiterinnen und gegen Kleinkinder.
Kriegsgefangene
siehe ausgelagerter Text: Kapitel: Kriegegefangene.
Zwangsarbeitende in Gemeinden um Büdingen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Anmerkungen 1 - 184 unter: NS-Zwangsarbeit im Bereich Büdingen Anmerkungen