Bilingualismus
Im weitesten Sinne ist ein zweisprachiger (oder bilingualer) Mensch jemand, der kommunikative Fähigkeiten in zwei Sprachen besitzt, entweder aktiv oder passiv. Im engeren Sinne wird das Wort Zweisprachigkeit (oder Bilingualismus) oft nur für solche Menschen verwendet, die muttersprachliche (oder nahezu muttersprachliche) Kompetenz in zwei Sprachen aufweisen. Spricht ein Mensch drei oder mehr Sprachen, spricht man von Mehrsprachigkeit oder Multilingualismus.
Zweisprachige Menschen, die es in vielen Gesellschaften und Gesellschaftsschichten gibt, haben während ihrer Kindheit zwei (oder mehr) Sprachen gelernt; solche Sprachen bezeichnet man mit L1. Manche Zweisprachigen haben ihre zweite Sprache erst später gelernt; solche Sprachen werden in diesem Zusammenhang mit L2, L3 usw. bezeichnet.
L1-Sprachen werden ohne formellen Unterricht erlernt (daher: Muttersprache, da Sprache der Mutter). Die Art und Weise, wie man eine Sprache auf natürliche Weise lernt, ist höchst umstritten. Der nordamerikanische Sprachforscher Noam Chomsky vermutet, dass es einen Mechanismus gibt, der es Kindern erlaubt, die Gesetzmäßigkeiten der Sprachen zu erlernen, welche die Erwachsenen um sie herum benutzen. Laut Chomsky lässt die Wirkung dieses Mechanismus mit der Zeit nach (was erklärt, weshalb ältere Kinder und Erwachsene Sprachen mit geringerem Erfolg [oder erst durch wesentlich erhöhten Aufwand] lernen als Kinder).
L2-Sprachen werden entweder auf natürliche Art und Weise oder durch Unterricht bzw. durch Selbststudium erlernt.
Zweisprachigkeit bedeutet nicht notwendigerweise, auch dazu fähig zu sein, von einer dieser Sprachen in die andere zu dolmetschen.
Definitionen
"Perfekte" Zweisprachigkeit gibt es nicht, was mit dem Fehlen "perfekter Einsprachigkeit" korrespondieren dürfte. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen mehreren Formen von Bilingualismus: nach dem Niveau der Sprachkompetenz in den beiden Sprachen, nach dem Alter der Aneignung der zweiten Sprache, danach, ob die Person in einem zweisprachigen Umfeld lebt, nach dem Status der Sprache im sozialen Umfeld sowie nach der kulturellen Identität und dem Zugehörigkeitsgefühl des Individuums.
Simultaner Früh-Bilingualismus
Von simultaner Früh-Zweisprachigkeit (bilingualem Erstspracherwerb) spricht man, wenn ein Kind dann, wenn es sprechen lernt, mit zwei Sprachen in Berührung kommt, beispielsweise wenn jeder Elternteil eine andere Sprache mit dem Kind spricht.
Als Erwachsener können sich solche Kinder oft in beiden Sprachen gleich gut ausdrücken, sofern im persönlichen Entwicklungsprozess die Motivation dazu erhalten bleibt und das Individuum weiterhin die Gelegenheit hat, beide Sprachen zu benutzen und wenn es sich ausserdem an verschiedenen sprachlichen Kontexten beteiligen kann (und will).
Konsekutiver Bilingualismus
Von konsekutiver Zweisprachigkeit spricht man, wenn ein Kind zuerst eine erste Sprache lernt und später eine zweite. Wenn es dann lernt zu sprechen, verinnerlicht das Kind also eine einzige Sprache. Wenn ein Kind die zweite Sprache vor dem Eintritt der Pubertät lernt, hat es gute Chancen, diese akzentfrei und fehlerlos und mit hoher Kompetenz zu sprechen.
Subtraktiver/Additiver Bilingualismus
Wenn ein Individuum seine erste Sprache (d.h. die Muttersprache) zugunsten einer neuen Sprache vernachlässigt, wird dieses 'subtraktiver Bilingualismus' benannt.
Die subtraktive Zweisprachigkeit kann z. B. dort auftreten, wo eine Person in einem kulturellen Umfeld lebt, in dem ihre erste Sprache eine Minderheitensprache ist und gleichzeitig einen geringeren Status hat als die von der Gemeinschaft gesprochene Sprache. Dies ist beispielsweise für frankophone Personen in Kanada (außerhalb von Québec) oder für Angehörige von sprachlichen Minderheiten in den europäischen Nationalstaaten der Fall (Frankreich, Italien, Deutschland, ...).
Die Anziehung, die eine status-höhere Gruppe auf ein Individuum ausübt, kann dazu führen, dass die Individuen ihre erste Sprache (Muttersprache) zugunsten der prestige-trächtigeren zweiten Sprache vernachlässigen, allein, um sich mit ihrer Zielgruppe zu identifizieren.
Wenn jemand eine neue Sprache im Kindesalter erlernt (ohne dabei die erste Sprache(n) zu verlieren) spricht man vom "additiven Bilingualismus".
Anmerkung: Diese Definitionen werden in der Sprachforschung benutzt, gelten jedoch in der Sozialpsychologie als umstritten und sollten daher mit entsprechender Vorsicht benutzt werden.
Bilingualismus bei Erwachsenen
Diese Art der Zweisprachigkeit kann sich entwickeln, wenn sich ein Individuum im Jugend- oder Erwachsenenalter in ein anderssprachiges soziales Umfeld begibt und sich die dortige Sprache durch den Kontakt aneignet.
Eine solche Zweisprachigkeit entwickelt sich beispielsweise immer dann, wenn eine Person in ein anderssprachiges Land emigriert. Das sprachliche Ungleichgewicht ist im Vergleich mit der Früh-Zweisprachigkeit sehr viel höher. Die Zweisprachigkeit kann jedoch so weit entwickelt werden, dass die Person in den meisten Kontexten beide Sprachen mit sehr hoher Kompetenz gebrauchen kann.
Zweisprachigkeit in der Forschung
Die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich bisher wenig mit der Bedeutung der Mehrsprachigkeit für das sprechende Subjekt beschäftigt, sondern hauptsächlich die Wirkung der Mehrsprachigkeit auf die verschiedenen Anteile des sprachlichen Systems untersucht.
Bilinguales Profil nach Charlotte Hoffmann 1991
Diese Kriterien sollen Auskunft darüber geben, wann jemand bilingual ist:
(1) language development (i.e. acquisition), maintenance and/or loss of L1 and L2;
(2) sequential relationship of L1 and L2, i.e. whether they are acquired simultaneously
(3) language competence, that is degree of proficiency in L1 and L2, and language
(4) functional aspects of language use: what, when and to whom L1 and L2 are used;
(5) linguistic features, such as code-switching, borrowing and interference;
(6) attitudes towards L1 and L2, speakers of L1 and L2, and bilingualism itself;
(7) internal and external pressures (motivational, social, psychological, perhaps others);
Zweisprachigkeit und Immigrantenkinder
Eine Studie an der Universität von Lausanne (Intégration scolaire des enfants migrants, 2000) hat gezeigt, dass Kinder, die in die Schweiz immigrieren, weniger Erfolg im Unterricht haben als muttersprachliche Kinder. Außer sozialen Fragen wurden auch mangelnde Sprachkenntnisse als Grund genannt. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass vier Faktoren eine Rolle spielen: Wird die andere Sprache als unbedeutend angesehen, kommt das Kind aus einer niedrigeren sozialen Schicht; ist es über 10–12 Jahre alt und wird die Muttersprache des Kindes von den Lehrern vernachlässigt, so kann dies zu verzögertem Lernen führen. Die Studie rät deshalb dazu, die erste Sprache und die Integration der Kultur der Immigrantenkinder zu fördern; Lehrer sollen sich vergegenwärtigen, wie schwierig es für Kinder ist, eine neue Sprache zu lernen und deshalb sensibler reagieren.
Die Erziehungswissenschaftler Hans-Joachim Roth an der Universität Hamburg und Hans H. Reich an der Universität Koblenz-Landau haben 2002 bemeinsam mit anderen einen Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung mit dem Titel Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher veröffentlicht. Unter anderem beschreiben sie den Fall von Kindern von Migranten in Deutschland, die vor dem Schulanfang die Minderheitssprache sehr hoch entwickelt, Deutsch aber in geringerem Umfang gelernt haben. "Sehr vorsichtig" vermuten die Wissenschaftler, dass sich das Erlernen der L1 verlangsamt, während die L2 beim Erlernen die andere Sprache überholt; solche Kinder erreichen im Durchschnitt aber nicht das Niveau einsprachig aufwachsender Kinder.
Die Zweisprachigkeit wird deshalb oft als einer der Hauptgründe für die oft relativ schlechten schulischen Leistungen von Immigrantenkindern gesehen. Hier muss man natürlich unterscheiden zwischen Kindern von Immigranten, die in dem neuen Land geboren sind und die Umgebungssprache oft von Geburt an miterlernt haben, und Immigrantenkindern, die die Umgebungssprache erst beim Umzug in das neue Land lernen, manchmal erst als Heranwachsende. Diesen Problemen kann jedoch mit einer gezielten schulischen Förderung begegnet werden, so dass die Zweisprachigkeit im Endeffekt zu einer größeren Sprachkompetenz der Kinder führt.
In Ländern wie den USA (wo frühe Zweisprachigkeit nicht als potentieller Vorteil, sondern als Nachteil betrachtet wird) werden die Probleme von Immigranten- oder zweisprachig aufgewachsenen Kindern unter dem Begriff Limited English Proficiency zusammengefasst. Pädagogische Sondermaßnahmen konzentrieren sich hier nicht auf die Förderung beider Sprachen und somit die Sprachkompetenz des Kindes. Die Bemühungen konzentrieren sich ausschließlich auf die Beherrschung der Landessprache (will heißen, dem Kind wird seine Zweisprachigkeit "abgewöhnt").
Bilingualer Unterricht für einheimische Kinder
Eine Untersuchung über zweisprachig deutsch-französischen Unterricht im schweizerischen Kanton Wallis (von der Universität Neuchâtel (Neuenburg)) hat gezeigt, dass Kinder, die von klein auf Unterricht in zwei Sprachen erhalten, nicht nur die L2 schneller erlernen, sie entwickeln auch ihre "allgemeinen sprachlichen Kompetenzen". Eine Verschlechterung der L1 wurde nicht festgestellt. (Groupe de recherche sur l'enseignement bilingue, 1994). Weitere Informationen hierzu finden sich unter Zweisprachiger Unterricht.
Intelligenzentwicklung Zweisprachiger
In den 50er Jahren und bis in die 70er Jahre hinein behaupteten manche Forscher, die Zweisprachigkeit führe zu einer unterentwickelten Intelligenz (z. B. Haugen 1956: The Effect [of bilingualism] on Intelligence). Solche Studien werden heute als mangelhaft angesehen: es wurden Immigrantenkinder aus den unteren sozialen Schichten im Vergleich mit mittelständischen Einsprachigen untersucht; die Untersuchungen wurden oft nur in der L2 durchgeführt.
1962 erfolgte eine Studie von Lambert und Peal an der McGill-Universität in Montréal: The relation of bilingualism to intelligence. Diese Studie zeigte erstmals, dass zweisprachige Kinder bei sprachlichen und nichtsprachlichen Intelligenztests höher abschnitten als einsprachige. Die Forscher konnten aber nicht sagen, ob die gut entwickelte Zweisprachigkeit der Grund für die höhere Intelligenz war oder umgekehrt. Feldman und Shen (1971) sowie Lemmon und Goggin (1989) fanden bei Studien heraus, dass zweisprachige Kinder mit sprachlichen Prüfungen besser umgehen können, weil sie Satzbau und Grammatik besser verstehen.
Nach der oben genannten Studie der FH Hamburg zeigt die heutige Forschung, dass "eher leichte kognitive Gewinne, namentlich im Bereich des bewussten Umgangs mit Sprache, zu verzeichnen sind".
Ein Artikel von Bialystok an der Universität von York, Kanada 2004 (Bilingualism, Aging, and Cognitive Control, siehe externe Verweise) zeigte außerdem, dass die kognitiven Fähigkeiten zweisprachiger Menschen im hohen Alter nicht so schnell nachlassen wie bei Einsprachigen.
Politik und Zweisprachigkeit
Verschiedene Staaten gehen unterschiedlich mit der Zwei- oder Mehrsprachigkeit ihrer Einwohnerinnen und Einwohner um. So wenden beispielsweise die USA eine sehr restriktive Politik an, indem sie echte Zweisprachigkeit zu unterbinden versuchen (siehe z. B. Marta Laureano). Dennoch kamen die Präsidentschaftskandidaten bei den letzten Wahlen nicht umhin, die lateinamerikanische Bevölkerungsgruppe der sog. Hispanics auch in ihrer Sprache anzusprechen, da sie eine beträchtliche Wählergruppe darstellen. Die restriktive Politik hat in den Vereinigten Staaten "Tradition". Während des Ersten Weltkrieges und auch danach wurden deutschsprachige Bürger verfolgt, das Sprechen der deutschen Sprache wurde verboten und viele deutschsprachige Amerikaner änderten sogar ihre Nachnamen ab und schrieben sie in englisch, um nicht mehr so sehr Verfolgung und Repression ausgesetzt zu sein. So gab es vor dem Ersten Weltkrieg z. B. allein in Chicago noch über 27 deutschsprachige Zeitungen.
Im Gegensatz dazu wird in Kanada, Belgien oder der Schweiz die Mehrsprachigkeit aktiv gefördert. Zur Politik der Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Schweiz siehe u.a. Publikation unter [1] (in französischer Sprache).
In den letzten Jahren hat sich – ausgehend vom angelsächsischen Bereich – eine nicht unumstrittene Tendenz gezeigt, jede Person mit einigermaßen brauchbaren Fremdsprachenkenntnissen als "bilingual" bzw. "multilingual" zu bezeichnen.
Literatur
- Bernhard ALTERMATT: La politique du bilinguisme dans le canton de Fribourg (Suisse) 1945-2000. Universität Fribourg-Freiburg (Schweiz), 2003. www.unifr.ch/histcont/astp/astp11.htm
- Bernhard ALTERMATT: Language Policy in the Swiss Confederation: The Concepts of Differentiated Language Territoriality and Asymmetrical Multilingualism, in: Federalism, Decentralisation and Good Governance in Multicultural Societies, Fribourg 2004 ("Travaux de Recherche" series, vol. 34), Publications de l'Institut du Fédéralisme Fribourg Suisse, 8-36.
- Elke Montanari: Mit zwei Sprachen gross werden. Mehrsprachige Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule. Kösel-Verlag, 2002. ISBN 3-466-30596-9
- B. Kielhoefer, S. Jonekeit: Zweisprachige Kindererziehung. Stauffenburg Verlag, Tuebingen, 1983. ISBN 3-923-72105-6
- Elke Burkhardt Montanari: Wie Kinder mehrsprachig aufwachsen. Hrsg: Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V., Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt, April 2000. ISBN 3-860-99194-9
- Csaba Földes: Interkulturelle Linguistik: Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata. Veszprém: Universitätsverlag/Wien: Ed. Praesens 2003 (Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis, Supplement; 1). ISBN 3-7069-0230-3 und ISBN 963-9495-20-4
- Csaba Földes: Zur Problematik sprachlicher und kommunikativer Normen im Kontext von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit und Transkulturalität. In: Neuphilologische Mitteilungen (Helsinki) 104 (2003) 1, S. 61-83.
- Francois Grosjean: "Life with two languages. An Introduction to Bilingualism." Harvard University Press, 1982.
- Colin Baker (Editor): Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education. 1998. ISBN 1-85359-362-1
- Deidre M. Duncan: Therapy in Practice. Working with Bilingual Language Disability. Chapman and Hall, London. ISBN 0-412-33940-4
- des Weiteren die Schriften und Fachartikel der Orthophonistin Francine Rosenbaum der Universität Neuchâtel
- Hans H. Reich, Hans-Joachim Roth u.a.: "Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher". Ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg (Behörde für Bildung und Sport, SchulInformationsZentrum, 2002
Siehe auch
Weblinks
- Bilinguismus und Sprachkontakt (Universität Veszprém)
- Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher der Universität Hamburg, 2002 (PDF)
- Kommunikation, sprachliche Norm und Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit (PDF)
- Intégration scolaire des enfants migrants, Universität von Lausanne, 2000 (französisch)
- Enseignement bilingue en Valais Suisse (Groupe de recherche sur l'enseignement bilingue), Universität von Neuchâtel, 1994 (französisch)
- "Kontaktdeutsch": eine bilingual-hybride Sprachvarietät, 2005 (deutsch)
- Bilingualism, Aging, and Cognitive Control: Evidence From the Simon Task Bialystok, 2004 (PDF, englisch)