Andorra (Drama)

Theaterstück von Max Frisch
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 9. Mai 2006 um 18:59 Uhr durch Oudeís (Diskussion | Beiträge) (Jetzt ist aber gut...). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Andorra ist ein Drama von Max Frisch, das im November 1961 im Schauspielhaus Zürich aufgeführt wurde. Der Name Andorra in Max Frischs Stück hat nichts mit dem realen Kleinstaat Andorra zu tun, „Andorra ist der Name für ein Modell“, so Max Frisch. Das Stück hat Antisemitismus, Feigheit und die Identität eines Menschen zum Thema und handelt von einem jungen Mann, der, weil außerehelich und von einer Ausländerin geboren, von seinem Vater als jüdischer Pflegesohn ausgegeben wurde, dem so oft mit Vorurteilen begegnet wird, dass er später sogar dann, als man ihm die Wahrheit sagt, daran glaubt, und der am Schluss von einem rassistischen Nachbarvolk als Jude ermordet wird.

Handlung

„Andorra“ ist ein imaginärer Schauplatz des Dramas.

Die Einwohner Andorras fürchten den Angriff der „Schwarzen“, ein mächtiges Nachbarvolk, das Juden umbringt. Die Andorraner sind sehr patriotisch und haben eine Vielzahl antisemitischer Vorurteile (beispielsweise deren „Geschäftstüchtigkeit“, „Geilheit“, „Überempfindlichkeit“ und „Gemütslosigkeit“), die alle auch auf mindestens einen Andorraner zutreffen. Dort lebt der Protagonist Andri bei seinem „Pflegevater“, dem Lehrer Can, der ihn, wie jeder zu wissen glaubt, als jüdisches Kind vor den „Schwarzen“ gerettet haben soll. Er weiß nicht, dass Can sein leiblicher Vater und dessen von ihm geliebte Tochter Barblin somit seine Halbschwester ist. Wie der Leser erst später erfährt, ist er der außereheliche Sohn Cans mit einer „Schwarzen“, weswegen er seine Vaterschaft geheimhält. Man begegnet Andri als Juden so oft mit Vorurteilen, dass er sie am Schluss selbst an sich zu beobachten glaubt. Das auffälligste Beispiel ist, Andri, der ständig sein Trinkgeld am Orchestrion ausgibt, Geiz nachzusagen, was er später, als er für seine Auswanderung spart, als richtig „erkennt“.

Das Stück beginnt am Vortag des St. Georgstages (23. April). Barblin weißelt das Haus ihres Vaters, wie alle Mädchen an diesem Tag, was dem Soldaten, der sie lüstern beobachtet, Anlass zu allerlei Witzen ist (wenn ein Platzregen kommt, läuft die Tünche herunter und die rote Erde kommt zum Vorschein).

Andri selbst arbeitet zu dieser Zeit als Küchenjunge in einer Kneipe und ist ein sehr schüchterner Mensch, dem es unangenehm ist, seinem „Retter“ ständig dankber sein zu müssen. Er liebt Barblin, fände es jedoch sehr undankbar dem Lehrer gegenüber, dessen Tochter zu verführen. Er möchte Barblin heiraten, traut sich jedoch nicht, beim Lehrer um ihre Hand anzuhalten. Er kümmert sich außerdem im Gegensatz zu Barblin sehr um die öffentliche Meinung und „die anderen“, geht auf deren Klischeedenken ein und versucht ihnen möglichst ähnlich zu werden.

Der Lehrer handelt bei dem Tischler aus, das Andri eine Tischlerlehre beginnen kann, wobei sein Gesprächspartner mit dem oft wiederholten Ausspruch „...wenn's einer nicht im Blut hat“ seine Abneigung gegenüber der Idee, einen Juden in einem solchen Beruf unterzubringen, bekundet. Um Andri loszuwerden, verlangt er eine übetrieben hohe Summe für die Lehre, die der Lehrer jedoch schließlich zahlt. Später in der Lehre versucht Andri den Andorranern seine Loyalität zu beweisen, indem er sich in die Fußballmannschaft des Gesellen aufnehmen lässt. Andri ist stolz auf seine Lehrlingsprobe, einen gut gebauten Stuhl, doch der Tischler verwechselt Andris Stuhl mit dem des Gesellen, dessen Beine sich einfach herausreißen lassen. Der Geselle bestätigt dieses Missverständnis, und der Tischler, der starke Vorurteile Juden gegenüber hegt, ist bereit, dem Gesellen zu glauben und versetzt Andri in den Verkauf, wo er als Jude, wie der Tischler meint, besser ist. Andri merkt nun erstmals, dass sein ewiges Angleichen an die anderen keinen Erfolg bringt.

Nach einer Untersuchung durch den Doktor, den der Lehrer seines Antisemitismus wegen aus dem Haus wirft, hält Andri beim Lehrer um die Hand Barblins an. Er wird abgewiesen, weist die Schuld seiner Identität als Jude zu und plant, mit Barblin auszuwandern.

Weil die anderen Andorrander ihm immer wieder sagen, wie sich ein Jude aufführe, und ihn diesen Vorurteilen gemäß behandeln, beginnt er sich selbst zu beobachten und manche der ihm nachgesagten Eigenschaften an sich selbst zu bemerken; den „jüdischen“ Geiz beispielsweise eignet er sich beispielsweise erst jetzt an, obwohl er vorher mit seinem Geld mehr als großzügig umgegangen war.

Der Lehrer muss sich von der Familie gefallen lassen, selbst Antisemitismus nachgesagt zu bekommen, da ja niemand den wahren Grund für die Absage, die Verwandtschaft zwischen den beiden, kennen kann. Während der Soldat, der schon vorher „ein Aug auf Barblin“ gehabt hat, damals aber abgewiesen wurde, Barblin nachts vermutlich vergewaltigt, unbemerkt von Andri, obwohl dieser auf Barblins Türschwelle schläft, weist Andri seinen Vater mehrfach ab, als dieser ihm die Wahrheit sagen will, und meint, nicht dessen Sohn zu sein. Selbst der Pater, der Andri trösten will, tut das nun mit Vorurteilen, die sich auf Juden beziehen, auch wenn die meisten davon positiv sind.

Andris Mutter, eine von den „Schwarzen“, genannt „die Senora“, kommt nach Andorra und will, als „Spitzlin“ des Feinds angefeindet, Andri und dessen Familie besuchen. Der Lehrer, dem es sie als große Schuld zuweist, als er Andri als Juden ausgab, nimmt sich vor, die Wahrheit zu sagen, meint aber, man wolle die Wahrheit nicht. Die Senora fällt bei ihrer Abreise einem Attentat zum Opfer, das Andri zu unrecht zur Last gelegt wird, während der Pater diesen nun wieder mit seiner Identität, diesmal mit der wahren, der als Andorraner, vertraut macht. Andri jedoch fühlt sich weiterhin als Jude, ob aus Unglauben oder Gewohnheit, wird nicht recht klar.

Andri und sein Vater versöhnen sich, während eine Invasion der Schwarzen stattfindet und vormals überzeugte Patrioten sich nun an die neuen Machthaber anbiedern und ihre Waffen abgeben. Andri hört den Lehrer nun an und scheint ihm auch zu glauben, hält aber weiterhin an seiner Identität als Jude fest und bezeichnet sich als verloren.

Als er nun Barblin zu verführen versucht, wird er aufgegriffen. Eine „Judenschau“, von einem professionellen „Judenschauer“ geleitet, findet statt, wobei nochmals sinnlose Vorurteile, woran man einen Juden erkennen könne, zum Tragen kommen; nun aber nicht mehr in der „harmlosen“ Weise der Andorraner, sondern mit kalter Perfektion ausgeführt. Hier erkennt man nochmals die Feigheit der Andorraner, die, obwohl Barblin zum Widerstand aufruft, alle Befehle der Schwarzen ausführen. Andri wird unter anderem an seinem Gang als Jude „erkannt“ und abgeführt. Während er nun wohl, wie man aus vorherigen Dialogen erfährt, an einen Pfahl gefesselt und erschossen wird und sein Vater sich erhängt, weißelt Barblin, das Geschehen der Anfangsszene aufgreifend, das Pflaster den Bildern des großen Platzes.

Das Stück ist nicht in klassische Szenen oder Akte aufgeteilt, sondern in 12 Bilder. Zwischen kommen häufig kurze Abschnitte im „Vordergrund“, wo meist verschiedene im Stück vorkommende Andorraner an der Zeugenschranke zu sehen sind und Aussagen machen. Die meisten davon sehen ihre Schuld nicht ein; nur der Pater (der als einziger nicht an der Zeugenschranke, sondern im Gebet aussagt) weist die Schuld nicht von sich und sieht ein, dass auch er Klischees auf Andri angewendet hat und so an seinem Schicksal mit schuld ist.

Personenverzeichnis

12 sprechende Personen werden aufgeführt. Bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass hiervon nur zwei mit Namen genannt werden: Andri und Barblin. Die anderen werden mit einem Titel bzw. einem Beruf bezeichnet und der eigentliche Name wird allenfalls in einem der Gespräche erwähnt. Es handelt sich also um Typen, die durch Familie, Beruf oder gesellschaftliche Stellungen festgelegt sind. Max Frischs Aussage, „Andorra“ sei ein Modell, wird also durch die Auswahl der Personen bekräftigt.

Viele Andorraner verkörpert zudem mindestens je eines der Vorurteile, mit denen man Andri begegnet. Das der Feigheit, das einzige, das auch auf Andri wirklich passt, trifft auf alle von ihnen zu.

Als ein weitgehend unbeteiligter Zuschauer des ganzen erscheint „Der Jemand“, der zwar, so weit man erkennen kann, weiter denkt als die anderen Andorraner, trotzdem aber nichts gegen das Geschehen zu tun wagt.

Weiterhin treten zwei stumme Einzelpersonen auf, der Idiot und der Judenschauer. Besonders fällt natürlich die Person des Judenschauers auf; es scheint sich um einen Beruf zu handeln, der dem Leser jedoch unbekannt ist. Frisch deutet also schon durch das Personenregister seine folgende Erzählung an, indem er Fragen aufwirft.

Zu den „Stummen“ zählen außerdem zwei Kollektive, das andorranische Volk und die Soldaten der „Schwarzen“.

Rollenbezeichnung Name Besonderes
Sprechende Rollen
Andri Andri siehe Inhaltsangabe
Barblin Barblin siehe Inhaltsangabe
Der Lehrer Can Vater Andris und Barblins
Die Mutter Frau des Lehrers und Mutter Barblins, versucht, die Familie zusammen zu halten.
Die Senora Mutter Andris, eine „Schwarze“
Der Pater Benedikt Legt sein Geständnis nicht an der Zeugenschranke ab
Der Soldat Peider „Hat ein Aug“ auf Barblin und entspricht durch die spätere Vergewaltigung dem Vorurteil des „geilen Juden“
Der Wirt Mutmaßlicher Mörder der Senora
Der Tischler Prader Besonders antisemitisch
Der Geselle Fedri verrät Andris Freundschaft
Der Jemand Siehe oben
Der Doktor Ferrer Besonders antisemitisch und patriotisch, versuchte vergebens, im Ausland Karriere zu machen und begründet seine Rückkehr nach Andorra er scheinheilig mit seiner Liebe zum „Vaterland“. Er beschuldigt den Ehrgeiz der Juden, ihm die Stellen vor der Nase weggeschnappt zu haben und ist dabei selbst übetrieben ehrgeizig.
Stumme Einzelrollen
Der Idiot Dient eher zur Betonung bestimmter Aussagen
Der Judenschauer

Szenenverzeichnis

Szene Inhalt „Vordergrund“ Inhalt
Erstes Bild Ausgangsposition, Andeutungen auf Kommendes (Jemand: „Es liegt ein Gewitter in der Luft“) 1. Geständnis Der Wirt an der Zeugenschranke
Zweites Bild Nächtliches Gespräch Andri-Barblin, Selbstzweifel Andris 2. Geständnis Der Tischler an der Zeugenschranke
Drittes Bild Andri in der Tischlerwerkstatt, er darf kein Tischler werden (erster Schlag für Andri) 3. Geständnis Der Geselle an der Zeugenschranke
Viertes Bild Gespräch Andri-Doktor, Ablehnung der Heirat seiner Kinder durch den Lehrer
Fünftes Bild Gewissenskonflikt des Lehrers
Sechstes Bild Andri weist Erklärungsversuche des Lehrers ab, der Soldat vergwaltigt Barblin 4. Geständnis Der Soldat an der Zeugenschranke
Siebtes Bild Tröstungsversuche des Paters Andri gegenüber, Vorurteile (wenn auch meist positive) selbst beim Pater 5. Geständnis Pater betet, erstes Geständnis, in dem jemand seine Schuld zugibt
Achtes Bild Auftreten der Senora, Soldaten verprügeln Andri Gespräch Lehrer-Senora Schuldzuweisung der Senora an den Lehrer
Neuntes Bild Abschied und Tod der Senora, erneutes Gespräch Andri-Pater, doch dieser bleibt bei seiner alten „Identität“ 6. Geständnis Jemand an der Zeugenschranke, Andri tat ihm leid, aber „man muss auch vergessen können“
Zehntes Bild Invasion der „Schwarzen“, Gespräch Andri-Lehrer; Versöhnung, aber Andri: „Ich bin verloren“, endgültige Identifizierung Andris mit dem Schicksal der Juden Patrouille der Soldaten der „Schwarzen“
Elftes Bild Andri will Barblin verführen, langes Gespräch Andri-Barblin, Verhaftung Andris 7. Geständnis Der Doktor an der Zeugenschranke
Zwölftes Bild Judenschau, Andri wird „geholt“, Barblin verfällt in Wahnsinn, der Lehrer erhängt sich

Aussagen des Stücks

Die Grundaussage des Stücks kann man mit der folgenden Geschichte Bertolt Brechts beschreiben: Herr Keuner erscheint. „Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ - „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K, „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ - „Wer? Der Entwurf?“ - „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch“.

Andorra hat eine ähnliche Aussage. Andri wurde eingeredet, er wäre ein Jude, solange, bis er selbst daran glaubt. Der Druck der sozialen Umwelt führt zu ständigen Selbstprüfungen und zur Anpassung an die Erwartungen.

Ein weiteres Thema des Stückes ist die Feigheit im Menschen. Andri ist feige, als er sich nicht traut, um die Hand Barblins anzuhalten und als er den anderen nacheifern muss, die Andorraner sind feige, als sie, obgleich antisemitischtisch, „gegen Greuel“ eingestellt, nichts gegen die „Schwarzen“ tun, und sogar der frei denkende Jemand, der gütige Pater und Andris Vater sind feige.

Die Zeugenaussagen zeigen zudem, dass die Menschheit unverbesserlich ist und ein Großteil der Andorraner aus alledem nichts gelernt hat. Die meisten von ihnen geben zwar zu, dass der größte Teil ihres Vorgehens gegenüber Andri als Nichtjuden unrecht war, sie reduzieren jedoch ihre Schuld auf das Unwissen um die wahre Identität Andris und halten ihr Vorgehen einem wirklichen Juden gegenüber für gerechtfertigt.