Ernst Tugendhat

deutscher Philosoph
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Ernst Tugendhat (* 8. März 1930 in Brünn) ist ein deutscher Philosoph und ehemaliger Professor an der Freien Universität Berlin. In seinen ersten Arbeiten zeigte er sich vor allem durch Martin Heidegger und Edmund Husserl beeinflusst. Später wurde Tugendhat zu einem der wichtigsten Vertreter der analytischen Philosophie in Deutschland. Er lebt gegenwärtig in Freiburg.

Leben und Werk

 
Villa Tugendhat, in der Tugendhat in jungen Jahren lebte

Ernst Tugendhat wurde als Sohn jüdischer Eltern (Fritz und Grete Tugendhat) geboren. 1938 emigrierte seine Familie (bedeutende Textilfabrikanten, für die Ludwig Mies van der Rohe die Villa Tugendhat in Brünn erbaut hatte) zuerst in die Schweiz, bevor sie 1941 nach Venezuela umsiedelte.

Mit 15 Jahren begann er sich für Philosophie zu interessieren und im Selbststudium unter anderem Sein und Zeit von Heidegger zu lesen, was ihn nachhaltig prägte. Mit 16 Jahren zog er in die USA, um an der Stanford University klassische Philologie zu studieren, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits das Ziel gefasst hatte, bei Heidegger in Freiburg Philosophie zu studieren, sobald die politische Lage es zulassen würde. In Stanford befasste er sich nebenbei weiter mit Philosophie – auch mit der fern-östlichen. Zum Wintersemester 1949 fing Tugendhat dann in Freiburg bei Wilhelm Szilasi an, wechselte aber später zu Eugen Fink und anschließend zu Karl Ulmer. Daneben nahm er an den Seminaren Heideggers teil, die dieser in den Jahren 1951–1952 hielt. Er befasste sich schon früh mit Pindar[1] und versuchte dabei, sich weitestmöglich vom Heidegger-Jargon freizuhalten und seine Skepsis gegenüber der in Deutschland verbreiteten Vorstellung eines Sonderbegriffs von Wahrheit bei den Griechen zu belegen.

1956 folgte seine Promotion mit einer Dissertation über das Konzept des Begriffs ti kata tinos („etwas von etwas“ aussagen) bei Aristoteles, und anschließend drei Semester an der Universität Münster, wo er mit dem Kreis um Joachim Ritter in Verbindung kam. Ulmer, der zu diesem Zeitpunkt in Tübingen lehrte, machte ihn zu seinem Assistenten. 1966 habilitierte sich Tugendhat in Tübingen mit seiner Schrift über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger.

Anfang 1965 verbrachte Tugendhat ein Gastsemester an der Universität Michigan in Ann Arbor, wo er durch die analytische Philosophie in seiner „Denkungsart“ revolutioniert wurde. Von 1966 bis 1975 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. In dieser Zeit wurde er einer der führenden sprachanalytischen Philosophen Deutschlands. Ein Produkt dieser Zeit ist seine Klärung der Selbstbewusstseinsproblematik in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979).

Aufgrund der Studentenbewegung entschied er sich, sich für einige Jahre von der Lehre zurückzuziehen – ursprünglich um sich in Sozialphilosophie und Politologie einzuarbeiten. Er folgte dann jedoch 1975 einem Angebot von Jürgen Habermas für eine Stelle am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, wo er fünf Jahre verbrachte. Hier verlagerte sich sein Interessensschwerpunkt auf die moralphilosophische Begründungsproblematik. Von 1980 bis 1992 lehrte er als Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte lag dort im Bereich der Ethik mit den Publikationen Probleme der Ethik (1984) und Vorlesungen über Ethik (1993). In dieser Zeit war Tugendhat auch stark politisch engagiert, vor allem in der Friedensbewegung und der Asylrechtsproblematik (Nachdenken über die Atomkriegsgefahr, 1986; Ethik und Politik, 1992).

Seit 2000 wandte Tugendhat sich dann der Anthropologie und der Mystik zu. Es erschienen die Werke Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie (2003), Über den Tod (2006) und Anthropologie statt Metaphysik (2007).

Seine Schwester ist die Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, die lange Zeit in Wien gelehrt hat.

Gesellschaftliches Engagement

Neben seinem friedenspolitischen Engagement war Tugendhat auch als Menschenrechtler engagiert[2] Er ist langjähriger Schirmherr der Gesellschaft für bedrohte Völker und seit 1982 Mitglied im Vorstand des Berliner „Arbeitskreises Atomwaffenfreies Europa“.

Philosophie

Tugendhats frühe Schriften sind von Heidegger geprägt. [3] In ihnen beschäftigt er sich mit der Ontologie des Aristoteles und der Wahrheitsfrage bei Husserl und Heidegger. In der Habilitationsschrift findet sich zum ersten Mal die für Tugendhat zentrale Bestimmung von Philosophie als „die Idee, das menschliche Leben im ganzen auf Wahrheit auszurichten, d. h. durch die Idee eines Lebens in kritischer Verantwortlichkeit“. [4]

Einen wesentlichen Strang in Tugendhats Werk bildet sein Programm der Entwicklung einer sprachanalytischen Ersten Philosophie. Damit will er die traditionelle Orientierung am Sein (antike Philosophie) bzw. am Bewusstsein (neuzeitliche Philosophie) überwinden und in die Frage nach dem Verstehen sprachlicher Ausdrücke transformieren.

Bekannt wurde Tugendhat durch seine wesentlich durch Wittgenstein beeinflusste Philosophie des Selbstbewusstseins, die eine nicht zirkuläre Beschreibung von Selbstbewusstsein ermöglichen soll. Danach müssen die Inhalte des Selbstbewusstseins wie alles Bewusstsein von etwas als propositionale Einstellungen verstanden werden. Praktisches Selbstbewusstsein interpretiert Tugendhat als Sich-zu-sich-Verhalten und versteht es - im Anschluss an Heidegger - als die Frage, was für ein Mensch man sein und wie man leben will.

In der Ethik konzentriert sich Tugendhat auf die Analyse moralischer Termini wie das „moralische Sollen“. Deren Sinn liege in der inneren Sanktion, wie sie in Gefühlen wie Schuld, Scham, Empörung und Groll zum Ausdruck komme. Ihre Grundlage bilde der Wunsch des Individuums, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Eine über die faktische Moral einer Gemeinschaft hinausgehende absolute Begründung scheint Tugendhat in der Moderne nicht möglich, weil religiöse und metaphysische Traditionen keine Gültigkeit mehr haben.

In jüngerer Zeit wandte Tugendhat die Methoden der analytischen Philosophie auch auf anthropologische Grundfragen an. Dabei sieht Tugendhat die Anthropologie als „erste Philosophie“, die sich auf existenzielle menschliche Grundphänomene bezieht. Tugendhat geht von dem Grundphänomen der prädikativen Struktur der menschlichen Sprache aus, die er innerhalb der biologischen Evolution für den entscheidenden Durchbruch zum Menschlichen hält.

Das Thema der Mystik ist nach Tugendhat die Bewältigung der menschlichen Kontingenz. In Gegensatz zur Religion, deren Antworten Tugendhat als bloße Wunschprojektion ablehnt, erfordere die Mystik keinen Rückgriff auf Offenbarung oder Tradition. Ihre Möglichkeit ergebe sich vielmehr aus den anthropologischen Wurzeln des Menschseins selbst: dem Gesammeltsein in sich, das zugleich das eigene Ich als auch die Welt „im Ganzen“ zum Gegenstand hat. Damit vermag die Mystik die Egozentrizität zu relativieren und zu transzendieren, die uns mit der Struktur der menschlichen Sprache gegeben ist.

Sprachanalyse als „Erste Philosophie“

In seinen Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (1976) geht Tugendhat davon aus, dass die Beantwortung der Frage, was es überhaupt heißt, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, die Grundlage für Ontologie, Bewusstseins- und Erkenntnistheorie und eine Voraussetzung der praktischen Philosophie darstellt. [5] Die allgemeine formale Semantik stellt dabei die „Grunddisziplin der sprachanalytischen Philosophie“[6] dar. Sie fragt danach, was es heißt, dass ein Zeichen Bedeutung hat oder wir ein Zeichen verstehen. [7]. Begriffe, an denen sich tradionelles Philosophieren zentral orientiert hat wie der Begriff des Seins, des Bewusstseins, der Erfahrung und der Vernunft können und müssen nach diesem Ansatz sprachanalytisch aufgeklärt werden. [8]

Tugendhat schließt allerdings zwei Bereiche der traditionellen Philosophie von einer erfolgreichen Behandlung durch die analytische Philosophie aus:

  1. die „Frage nach dem Guten“ und „wie wir leben sollen“ [9]
  2. die „nicht gegenständliche Bewußtseinsweisen“ [10]wie das von Heidegger analysierte Gestimmtsein[11].

Ethik

Tugendhat hat sich die zentralen Fragen der Ethik immer wieder aufs neue gestellt und seine Antworten dazu mehrmals revidiert. [12] In den Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik aus dem Jahr 1981 [13] geht er mit Hilfe sprachanalytischer Überlegungen davon aus, dass eine moralische Norm dann hinreichend begründet ist, wenn sie dem gleichmäßigen Interesse der betroffenen Individuen dient. Einen alternativen Ansatz dazu entwickelt er in seinen Vorlesungen über Ethik aus dem Jahr 1993, wo er sich explizit gegen kontraktualistische Argumentationsmuster absetzt und stattdessen den Begründungsanspruch moralischer Urteile über den Begriff der „guten Person“ verständlich zu machen versucht. Diese Begründungskonzeption verwirft er schon kurze Zeit später wieder und nähert sich seither wieder stärker dem Kontraktualismus an. Diese bisher letzte Phase der Entwicklung seiner Theorie beginnt mit dem l997 veröffentlichten Dialog in Leticia. Dieser Phase lassen sich auch seine späteren Abhandlungen zuordnen, von denen einige in dem 2001 erschienenen Band Aufsätze 1992—2000 zu finden sind.

Bei allen Revisionen halten sich auch einige zentrale Elemente über die Zeit durch. So ist für Tugendhat bei der Bestimmung des Moralbegriffs immer der interne Bezug auf unsere moralischen Gefühle wesentlich geblieben, insbesondere auf die Gefühle der Empörung und Schuld in ihrer Funktion als Sanktionsinstanzen. In metaethischen Fragestellungen hat er sich stets strikt gegenüber jeder Art apriorischer Begründung abgesetzt und die These vertreten, dass die Rechtfertigungsbasis einer modernen Moralkonzeption nur in den empirischen Interessen der Betroffenen liegen kann. Weiterhin hält er über die Zeit am fundamentalen Stellenwert der Autonomie des einzelnen Individuums sowie am Prinzip des Egalitarismus fest.

Rezeption

Tugendhat gilt heute als einer der bekanntesten lebenden deutschen Philosophen. Er hat zwischen der angelsächsisch-analytischen und der kontinentaleuropäischen Tradition des Philosophierens vermittelt. Den größten Einfluss auf die gegenwärtige philosophische Diskussion haben Tugendhats moralphilosophische Untersuchungen, die neben und gegen die Diskursethik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas als der bedeutendste systematische deutschsprachige Ethikentwurf der Gegenwart anerkannt werden.

Auszeichnungen

Ernst Tugendhat hatte viele Gastprofessuren im In- und Ausland inne (Santiago de Chile, Konstanz, Prag, Goiânia (Brasilien) und Porto Alegre). Im Jahr 1999 wurde er von der Universität Tübingen zum Honorarprofessor ernannt. 2002 war er Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche.[14] Am 9. Mai 2005 erhielt Ernst Tugendhat die Ehrendoktorwürde der Universidad Autónoma de Madrid und 2008 der Universität Zürich. 2005 wurde Tugendhat der mit 50.000 Euro dotierte Meister-Eckhart-Preis verliehen, welchen er der Schule „Talitha Kumi“ in Beit Jala (Palästina) spendete.

Werke

Auswahl, in der Reihenfolge des Erscheinens:

Sekundärliteratur

  • Hans-Martin Barth: Egozentrizität, Mystik und christlicher Glaube. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 46:4 (2004), S. 467–482
  • Andrew Bowie: Ernst Tugendhat: Philosophische Aufsätze. In: European Journal of Philosophy 2/3, 1994, S. 345–351
  • Stefan Gosepath: Ernst Tugendhat. In: Julian Nida-Rümelin, Elif Özmen (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. 3. Auflage. Kröner, Stuttgart 2007, S. 671-677
  • Klaus Jacobi (Hrsg.): Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit. Nachdenken über Thesen Ernst Tugendhats. Karl Alber, Freiburg i. Br./München 2012, ISBN 978-3-495-48518-7 (mit Tugendhats Aufsatz Spiritualität, Religion und Mystik aus dem Jahr 2005) (Inhalt und Einleitung)
  • Nico Scarano, Mauricio Suárez (Hrsg.): Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen. C. H. Beck, München 2006 ISBN 978-3-406-55072-0 (mit zwei Texten von Ernst Tugendhat und Beiträgen von Stefan Gosepath, Oliver Hallich, Anton Leist, Julian Nida-Rümelin, Gertrud Nunner-Winkler, Walter Pfannkuche, Friedo Ricken, Beate Rössler, Jacob Rosenthal[15], Nico Scarano, Holmer Steinfath, Ursula Wolf)
  • Marcus Willaschek (Hrsg.): Ernst Tugendhat: Moralbegründung und Gerechtigkeit, Vortrag und Kolloquium Münster 1997. Münsteraner Vorlesungen zur Philosophie Band 1, Lit, Münster 1997.
  • Santiago Zabala: The Hermeneutic Nature of Analytic Philosophy. A Study of Ernst Tugendhat. Columbia University Press, New York 2008, ISBN 978-0-231-14388-2 (mit einem Vorwort von Gianni Vattimo und einem Dialog mit Ernst Tugendhat)

Audiodateien

Anmerkungen

  1. Vgl. Zum Rechtfertigungsproblem in Pindars 7. Nemeischem Gedicht, in: Hermes, Bd. 88 (1960), S. 385–409. Auch in: E. T.: Philosophische Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1992, S. 147–178.
  2. E. T.: Die Kontroverse um die Menschenrechte, in Stefan Gosepath, Georg Lohmann Hgg.: Philosophie der Menschenrechte. Suhrkamp, Frankfurt 1998 ISBN 3-518-28938-1; Auszüge in Martin Morgenstern, Robert Zimmer Hgg.: Staatsbegründungen und Geschichtsbedeutungen. Reihe Treffpunkt Philosophie, 4: „Politische Philosophie“. Bayerischer Schulbuch Verlag BSV, München 2001 ISBN 3-7627-0325-6 & Patmos, Düsseldorf 2001 ISBN 3-491-75641-3 S. 40f
  3. Zur Übersicht von Tugendhats Philosophie vgl. Stefan Gosepath: Ernst Tugendhat. In: Julian Nida-Rümelin, Elif Özmen (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2007, S. 671-677
  4. Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Berlin 1967, S. 1
  5. Zum Folgenden vgl. Ulrich Steinvorth: Tugendhat und die sprachanalytische Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1980, Bd. 34(1), S. 59-69
  6. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 127
  7. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 54
  8. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 25
  9. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 128
  10. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 103
  11. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976, S. 97
  12. Zum Folgenden: Nico Scarano, Mauricio Suárez (Hrsg.): Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen. München 2006, S. 7-12
  13. erstmals publiziert in dem Aufsatzband Probleme der Ethik von 1984
  14. http://www.klassik-stiftung.de/index.php?id=601
  15. Der Primat der Gleichheit oder: der Symmetriesatz in Ernst Tugendhats Ethik, 134-152 und 319-321