Abgetrennte Buchstaben

Buchstaben, die nicht als Teil eines Wortes zu Beginn einiger Suren des Koran erscheinen
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Als Geheimnisvolle Buchstaben bezeichnet man einzelstehende Buchstaben, die nicht als Teil eines Wortes zu Beginn einiger Suren des Koran erscheinen.

Von den 114 Suren des Korans beginnen 29 nach der vorangestellten Basmala mit einem oder einer Gruppe von Buchstaben, die nicht miteinander verbunden, sondern als einzelne Buchstaben des Alphabets gelesen werden. Diese Buchstaben sind in der Literatur bekannt als „die Eröffnungen der Suren“ (fawātiḥ as-suwar), „die ersten der Suren“ (awāʾil as-suwar) oder „die abgetrennten Buchstaben“ (al-ḥurūf al-muqaṭṭaʿa bzw. al-muqaṭṭaʿāt). Westliche Islamwissenschaftler nennen sie in der Regel „die geheimnisvollen Buchstaben“[1], gelegentlich auch „isolierte Buchstaben“[2]. Vieles spricht aus Sicht der Islamwissenschaft dafür, dass diese Buchstaben zum offenbarten Text des Koran gehören und von Anfang an als einzelne Buchstaben rezitiert wurden.[3] Über 14 Jahrhunderte haben diese Buchstaben „muslimische Gelehrte verblüfft und fasziniert“[4], so dass es unterschiedlichste Interpretationen dieser Buchstaben im traditionellen Islam und der Islamwissenschaft[5] gibt. Die hiesige Aufzählung der Ansätze aus dem traditionellen Islam und der Islamwissenschaft orientiert sich im Wesentlichen an den Artikeln Mysterious Letters in der Encyclopedia of Qur'án und al-Kur'ān in Encyclopedia of Islam, die zusammen den Forschungsstand in der Islamwissenschaft vollständig wiedergeben. Die dort aufgeführten Positionen finden sich in allen gängigen Kommentaren von aṭ-Ṭabarī, as-Suyūtī, as-Samarqandī[6] und der Bahai-Religion.

Beispiele für Suren, die mit den Geheimnisvollen Buchstaben beginnen, sind:

  1. Alif Lām Mīm (الم) Suren al-Baqara, Āl ʿImrān, al-ʿAnkabūt, Luqman, as-Sadschda etc.
  2. Alif Lām Rāʾ (الر) Suren Yunus, Hud etc.
  3. Alif Lām Mīm Rāʾ (المر) Sure ar-Ra'd
  4. Kāf Hāʾ Yāʾ ʿAin Ṣād (كهيعص) Sure Maryam
  5. Yāʾ Sīn (يس) Sure Ya-Sin
  6. Ḥāʾ Mīm (حم) Sure Fussilat etc.

In der deutschen Übersetzung werden die Geheimnisvollen Buchstaben durch den Namen wiedergegeben, z. B. lautet der Anfang der zweiten Sure: „1. Alif, Lām, Mīm; 2. Dies das Buch an ihm ist kein Zweifel möglich, …“[7]. Beim Rezitieren des Koran werden diese als einzelne Buchstaben vorgelesen.

14 der 28 arabischen Buchstaben erscheinen als Geheimnisvolle Buchstaben, einzeln oder in Kombination mit zwei, drei oder vier anderen Buchstaben. Diese sind أ ح ر س ص ط ع ق ك ل م ن ه ي (alif, ḥa, rāʾ, sīn, ṣād, ṭāʾ, ʿain, qāf, kāf, lām, mīm, nūn, hāʾ, yāʾ). Typische Kombinationen sind beispielsweise alif lām mīm zu Beginn der Sure 2, 3, 29, 30, 31 und 32, oder alif lām rāʾ zu Beginn der Sure 10, 11, 12, 14 und 15. Die Anzahl aller Buchstaben, inklusive der Suren, welche mit einem Buchstaben als Überschrift beginnen, ist 78.

Im arabischen und türkischen Sprachraum ist die Verwendung der Geheimnisvollen Buchstaben als Vornamen nicht unüblich. Beispiele hierfür sind Yasin (Sure 36) oder Taha (Sure 20).

Interpretationsansätze in der islamischen Tradition

  1. Nach as-Samarqandī fassen die Buchstaben als Kürzel die Attribute Gottes zusammen. So wird alif lām mīm jeweils als Abkürzung für أنا / anā / ‚ich‘, الله / Allāh / ‚Gott‘, أعلم / aʿlam / ‚der Wissendere oder Wissendste‘ angesehen, so dass alif lām mīm mit ‚Ich bin Allah, der (All-)wissende‘ gleichzusetzen ist[8]
  2. Direkt als Abkürzung für die Attribute Gottes, zum Beispiel alif lām rāʾ für ar-raḥmān, der Barmherzige[9]
  3. Nach Rumi kann man die Buchstaben mystisch deuten, in ihnen die Kraft der Offenbarung Gottes konzentriert sehen, die im Herzen der Gläubigen geistige Wahrheiten hervorbringt. Rumi vergleicht die Buchstaben mit dem Stab Mose und dem belebenden Odem Jesu bzw. Gottes[10]
  4. aṭ-Ṭabarī und mit ihm auch as-Samarqandī und as-Suyūtī zitieren Hadithe, die nahelegen, dass diese Geheimnisvollen Buchstaben Hinweise auf die Dauer der Sendung des Islam bis zum Jüngsten Gericht deuten lassen.[11] U.a. führen Sie einen Hadith an, in dem der Prophet Mohammed von seinen Zeitgenossen nach der Lebensdauer seiner Gemeinde[12] gefragt wird. Es entwickelt sich ein Dialog, in dessen Verlauf die Zeitgenossen zunächst den Propheten fragen, ob die Zahlenwerte[13] der Geheimnisvollen Buchstaben am Anfang der zweiten Sure alif lām mīm die Lebensdauer der islamischen Gemeinde bedeuten. Der Prophet lacht und zitiert die Buchstaben am Anfang der dritten Sure. Das geht so weiter, bis der Prophet die ersten sieben Suren, die mit Geheimnisvollen Buchstaben beginnen, genannt hat und anschließend schweigt.[14]
  5. Manche führenden Kommentatoren legen sich nicht genau fest. So schreibt z. B. as-Suyūṭī in seinem sehr bekannten Kommentar, dass Gott selbst am besten weiß, was er hiermit beabsichtigt.[15] An anderer Stelle trägt as-Suyūṭī weitere Interpretation zusammen und macht sie auch als Auffassungen anderer Gelehrter kenntlich, so z. B., dass Allah damit den Propheten und seine Zuhörerschaft ansprechen und deren Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte[16]
  6. In den 1990er-Jahren hat Rashad Khalifa, der in seiner Arbeit[17] eine bestimmte mathematische Ordnung des Koran auf Basis der Zahlen 9 und 19 herausstellt, für Aufsehen gesorgt. Die Zusammenhänge, in denen er einen Beleg für die Unnachahmlichkeit des Koran sieht, werden in der wissenschaftlichen Literatur als „konstruiert“[18] angesehen. So sagt er, dass 29 Suren des Koran mit Geheimnisvollen Buchstaben beginnen, dass es in diesen Suren 14 dieser Buchstaben gibt, und dass es vierzehn verschiedene Kombinationen dieser Buchstaben gibt. 29+14+14 ergibt 57, was durch 19 teilbar ist.

Interpretationsansätze in der Islamwissenschaft

Manche Orientalisten wie Welch sehen in den Buchstaben Symbole für das arabische Alphabet.[19] Damit kann man zwar an die Aussage, dass der Koran in „deutlicher arabischer Sprache“[20] offenbart wurde, anknüpfen, aber nicht erklären, warum diese Buchstaben am Anfang der Suren stehen. Andere Orientalisten sehen in ihnen Abkürzungen für bestimmte arabische Wörter oder Kontraktionen der Namen der Suren.[21] Wiederum glauben andere, dass diese Buchstaben eine Rolle bei der Redaktion und Zusammenstellung des Textes des Koran hatten. Nöldeke und Hirschfeld hielten die Buchstaben für Namenszeichen der Besitzer der verschiedenen Koran-Manuskripte aus dem Umfeld des Propheten, kāf für Abū Bakr, ʿain für Aischa[22]. Massey stellte in seiner Dissertation die Theorie auf, dass in den Buchstaben eine Ordnung steckt: mīm folgt nie dem sīn, lām kommt nie vor alif usw. Mittels statistischer Untersuchungen schloss er aus, dass dies zufällig sei. In dieser Ordnung sieht er einen Beleg für die Theorie von Nöldeke und Hirschfeld.[23]

Interpretationsansätze in der Bahai-Religion

Das Schrifttum des vom Islam unabhängigen Bahaitums knüpft zum einen an den oben genannten Hadith an (siehe Islamische Tradition, Punkt 5) und addiert den Zahlenwert der Geheimnisvollen Buchstaben am Anfang der sieben Suren, die mit diesen Buchstaben beginnen, zu 1267.[24] Von 1267 muss man sieben Jahre abziehen, da Mohammed sieben Jahre vor dem Beginn der islamischen Zeitrechnung seine Sendung öffentlich zu verkünden begann, so dass sich das Jahr 1260 (nach islamischer Zeitrechnung) ergibt, das Jahr, in dem die Babi-Bahai-Religion entstand.

Eine weitere Interpretation gibt Baha'ullah in seiner Tafel vom Lichtvers[25] an: Eine schwarzen Träne tropfte von der altehrwürdigen Feder auf die weiße, wohlverwahrte Tafel herunter, so dass daraus der Punkt (nuqta) erschaffen wurde. Aus dem Punkt entstand das alif (hat die Form eines Strichs: ا), aus dem dann die anderen Geheimnisvollen Buchstaben hervorgingen. Diese Buchstaben wurden wiederum ausgestaltet, getrennt und erneut zusammengefügt und ergaben die „Namen und Attribute“ der Schöpfung. Bahá’u’lláh gibt unterschiedliche Interpretationen der Buchstaben alif, lām und mīm, die sich auf Gott (Allah), Hütertum (wilāya) und Prophetentum (nubuwwa) Mohammeds beziehen. Dabei betont er die zentrale Rolle des alif in allen Welten Gottes.

Anmerkungen

  1. Welch in: Encyclopedia of Islam, 2nd Edition, Artikel al-Kur'ān. Keith Massey: Stichwort „Mysterious Letters“ in Encyclopedia of Qur'an. Khoury bezeichnet „mysterious letters“ mit „geheimnisvolle Buchstaben“ in Khoury: Der Koran Arabisch – Deutsch
  2. Schimmel: Stern und Blume – Die Bilderwelt der persischen Poesie, Seite 196, Wiesbaden, 1984, ISBN 3-447-02434-8
  3. Welch: a.a.O., der sich auf Nöldeke, Schwally, Bell, Loth und Jones bezieht
  4. Welch: a.a.O.
  5. Massey: a.a.O., S. 473, Welche: a.a.O.
  6. siehe altafsir.com
  7. Übersetzung Khoury
  8. siehe altafsir.com
  9. Massey: a.a.O
  10. Rumi: Masnavi (ed. Nicholson), Bd. V, Vers 1316–1330, insbes. 1316 und 1319. Bzgl 1319 spricht Rumi von in īn dam (این دم), was Nicholson mit Vorlage:"-en übersetzt. Für eine ausführliche Diskussion weiterer auch weniger bekannter Interpretation dieser Buchstaben in der islamischen Mystik vgl. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, Anhang 1, Buchstabensymbolik in der Sufi-Literatur.
  11. Welch: a.a.O. Für at-Tabarī siehe altafsir.com unter sura al-baqara, Vers 1, dto. für as-Samarqandī.
  12. Wörtlich „die Lebensdauer Deines Volkes“: بقاء أمتك
  13. Einzelnen Buchstaben des arabischen Alphabets werden Zahlenwerte zugeordnet. Z. B. entspricht der erste Buchstabe des Arabischen, das alif der 1, der zweite Buchstabe bāʾ der 2, usw. Für das Wort باب / bāb / ‚Tor, Kapitel‘ ergibt sich dann der Zahlenwert 5, siehe Abdschad (Zahlensystem) oder Arabisches Alphabet
  14. Die drei Buchstaben ergeben den Zahlenwert 71. Addiert man die Zahlenwerte der Geheimnisvollen Buchstaben der in diesem Hadith genannten Suren, ergibt das 1267.
  15. Welch: a.a.O., as-Suyūṭī: Tafsīr al-Dschalālain, siehe z. B. Sure 2 الله اعلم بمراده بذلک
  16. Itqān, Bd. III, Seite 21–30
  17. Khalifa, Rashad. Quran, the Final Testament
  18. Massey: a.a.O., S. 473. Es fällt auf, dass auch die Bahai, in deren Glauben die Zahlen 9 und 19 eine besondere Bedeutung haben, die Arbeit Khalifas, obwohl sie in der Bahai-Welt bekannt ist, nicht rezipiert haben.
  19. Welch: Artikel „al-Kur'an“ in Encyclopaedia of Islam, 4d, The Mysterious Letters
  20. Übersetzung Khoury. Siehe Koran 16:103 und 26:195, wo die Rede von لسان عربی مبین / lisānin ʿarabīyyin mubīn die Rede ist
  21. Hans Bauer: Über die Anordnung der Suren und über die Geheimnisvollen Buchstaben im Qoran [4] (1921), ZDMG, 1921
  22. Welch: a.a.O., Mayssey:a.a.O.
  23. Massey: a.a.O., S. 475–6
  24. Al-i-Muḥammad: at-Tibyān wa’l-Burhān, Beirut, 1962, Seite:47 ff. Als sunnitische Quelle gibt Al-Muḥammad auch at-Tabari an, als schiitische Quelle den in der Schia einflussreichen Kommentator Scheich Tabarsi. Der Bab selber gibt in seinen Dalā'il-i sab'ih (dt. Sieben Beweise) einen analogen Hadith an, der vom siebten Imam der Schia stammt mit Abū Labīd Makhzūmī als Tradenten. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Islamwissenschaft die Echtheit dieser Hadithe anzweifelt. Eine strenge Methodik zur Berücksichtigung zuverlässiger Hadithe, die auch auf die kritische Haltung von [Ibn Khaldun|Ibn Khaldūn] gegenüber messianistischen Hadithen eingeht und sich mit der modernen Hadtihkritik wie bei Blichfeldt verträgt, findet sich bei Abu'l Faḍl: Faṣlu'l-Khiṭāb, Seite 150, Dundas/Ontario, 1995.
  25. Lawḥ-i- Āyiy-i-Nūr, gelegentlich auch Tafsír-i-Ḥurūfāt-i-Muqatta'ih genannt. Das Original findet sich in Mā’idiyi-Āsmānī, Bd. 4, Seiten 49–86, unter http://reference.bahai.org/fa/t/b/MAS4/mas4-49.html#pg49

Quellen

  • Adel Theodor Khoury: Der Koran Arabisch – Deutsch, Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Gütersloher Verlagshaus, 2004. Band 1, S. 85–89. ISBN 3-579-05408-2
  • Massey: Stichwort The Mysterious Letters in Encyclopedia of Qur'ān
  • Welch: Stichwort al-Kurān, Abschnitt 4d, The Mysterious Letters in Encyclopedia of Islam, 2nd End.
  • Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, 1985, Köln, ISBN 3-424-00866-4
  • Wolfdietrich Fischer: Arabische Personennamen. In: Ein internationales Handbuch zur Onomastik, herausgegeben von Ernst Eichler, Gerold Hilty, Heinrich Löffler, Hugo Steger und Ladislav Zgusta, Berlin, New York 1995, S. 873–875, ISBN 978-3-11-011426-3
  • Al-i-Muhammad: at-Tibyán wa’l-Burhán, Beirut, 1962