Kontinentalgermanische Mythologie
Unter Deutscher Mythologie ist die vorchristliche Religion der germanischen Stämme auf dem Festland, ohne Skandinavien, zu verstehen. Dabei sind vier Zeitperioden zu unterscheiden.
- 1. Prähistorische Zeit (bis Christi Geburt). Aus dieser Periode sind nur archäologische Funde bekannt (z.B. Opfermoor von Niederdorla).
- 2. Römerzeit (ca. 50 v.Chr. - ca. 450 n.Chr.). Hauptquelle ist die Germania von Tacitus und mehrere Weihesteine.
- 3. Frühmittelalter (ca. 450 - Christianisierung). Verschiedene Quellen, wie Runeninschriften, Zaubersprüche, Glossen.
- 4. Neuzeit: Diese Periode nahm ihren Anfang mit der Erforschung der Deutschen Mythologie durch Jacob Grimm. In der Folge sind mehrere halbwissenschaftliche und teilweise romantische Werke entstanden, die jeglicher Zuverlässigkeit entbehren. Aus romantischen Ansichten und übertriebener Heimatliebe entstanden schließlich neopagane Strömungen, die in der modernen hochtechnisierten Zeit, wo das Christentum immer mehr an Autorität und Einfluss verliert, starken Zulauf gewinnen.
Frühmittelalter
Religionsgeschichtlich gesehen bildet das Frühmittelalter den Übergang vom germanischen Heidentum zum Christentum, mit unterschiedlicher Entwicklung bei den verschiedenen Stämmen.
- Langobarden: Gottheiten: Wodan / Gwodan, Frea, Gausus. - Mythische Helden: Gungingi, Ibor und Agio sowie ihre Mutter Gambara.
- Quellen: Paulus Diaconus; Origo gentis Langobardorum; Edictus Rothari.
- Alemannen: Gottheiten: Wodan, Wigi-Þonar / Donar. - Mythischer Held: Uuieland. - Mythischer Berg: Himilinberc.
- Quellen: Runeninschriften (Nordendorf, Pforzen, Balingen, Schretzheim); Vita Columbani; Zaubersprüche (Pariser Segen); Brakteaten (Daxlanden, Welschingen).
- Franken und Thüringer: Gottheiten: Uuodan, Friia, Uolla, Phol, Sunna, Sinhtgunt, Idisi. - Kultplatz: Robur Iovis ("Donareiche").
- Quellen: Merseburger Zaubersprüche; Runeninschriften; Brakteaten (Aschersleben, Obermöllern).
- Sachsen: Gottheiten: Thunaer, Uuoden, Saxnote, Hirmin, Fricco. - Mythische Helden: Hathagat, Iring. - Kultplatz: Irminsul.
- Quellen: Abrenuntiatio Sax.; Widukind von Corvey; Rudolf von Fulda.
- Friesen: Gottheiten: Fositæ.
- Quellen: Vita Willibrordi.
- Goten: Obwohl die Goten zu den Ostgermanen zählen, sind sie hier aufglistet. Gottheiten: Gapt, Ansis, Dounabis (die Donau).
- Quellen: Jordanes, Runeninschriften (Pietroassa); röm. Schriftsteller.
Siehe auch die Germanischen Gottheiten in der frühmittelalterlichen Überlieferung.
Ausdrücke aus der Kosmologie und Eschatologie: Erde und Himmel: ahd. ero 7 ufhimil, as. ertha endi uphimil, got. airþa jah himins; Erde als Wohnort der Menschen: ahd. mittigart, as. middilgart, got. midjungards; Unterirdische Totenwelt: ahd. hellea, as. hellia, got. halja; Weltuntergang: ahd. muspilli, as. mutspelli. Als literarische Zeugnisse liegen vor das Wessobrunner Schöpfungsgedicht (Kosmogonie) und das in Stabreimen abgefasste Muspilli (Eschatologie).
Nicht direkt zur Mythologie gehören Heldensagen, die teilweise auf historischen Personen basieren (Etzilo, Dietrîch von Berne, Hiltibrant, Nebulones, Gibicho, Gunthari, Walthari Manufortis).
Römerzeit
Hauptinformant ist Tacitus, der in seiner Germania ausführlich über germanische Kulte berichtet: u.a. Nerthus bei den Angeln und Varinern, Regnator omnium deum bei den Semnonen. Caesar berichtet dagegen, dass die Germanen lediglich Sol, Luna und Vulcanus(Sonne, Mond und Feuer) verehrten.
- Römerzeitliche Gottheiten aus der Literatur: Mercurius, Mars, Hercules, Isis, Regnator omnium deum, Tuisto, Mannus, Nerthus Terra Mater, Baduhenna, Tamfana, Alcis.
Auf römischem Gebiet siedelnde Germanen errichteten nach gallorömischer Sitte Weihesteine ihren Gottheiten, vorab lokalen Muttergottheiten (Matronae, Matres).
- Römerzeitliche Gottheiten von Weiheinschriften (Auswahl): Mercurius Channinus, Mars Thingsus, Hercules Magusanus, Haeva, Hludana, Requalivahanus, Nehalennia, Alateivia, Vihansa, Hariasa, Alaisiagae. Mütter: Afliae, Vatviae, Saitchamiae u.v.a.m.
Während der Römerzeit wurden auch die germanischen Wochentagnamen gebildet. Daraus kann die Existenz folgender germanischer Gottheiten für die Römerzeit erschlossen werden: 1) Sol : *Sunna - 2) Luna - *Mâno 3) Mars : *Tîw oder *Þings - 4) Mercurius : *Wôðan - 5) Jupiter : *Þonar - 6) Venus : *Frîja - 7) Für Saturnus wurde keine Entsprechung gefunden. Bemerkenswert ist, dass der germanische Donnergott *Þonar sonst mit dem römischen Gott Hercules gleichgesetzt wurde.
Neuzeit
Die Liste der "erfundenen" Gottheiten ist lang. Sie entstammen teilweise der Folklore (Hulda, Berchta, Fricka), falschen Lesungen und Interpretationen alter Schriften (Hertha, Fosta), Vermischung mit slawischen Sagengestalten (Siwa) oder schlichtweg einer überschwänglichen Phantasie. Jedenfalls dürfen sie nicht zu den als echt überlieferten Gottheiten gerechnet werden. Wenn schon die Namen teilweise obskur tönen, so entstammen die Charaktere und Gebete, die diesen Gottheiten zugeschrieben werden, paganophilen Romantikern, die der bunten und lebensfrohen Mythologie der Griechen eine "deutsche Mythologie" entgegensetzen wollten. Nicht selten wirken (neo-)nationalsozialistische Ideen mit. Auffallend ist zudem, dass neopagane Strömungen sehr häufig germanische und keltische Gottheiten miteinander vermischen. Zu unterscheiden sind hier natürlich Werke der Kunst, Literatur und Musik (z.B. Richard Wagner).
- Erfundene Gottheiten: Allemann Hercules, Berchta, Biel, Fosta, Fricka, Hama, Hertha, Hulda, Jecha, Krodo, Lollus, Ostara, Reda, Ricen, Satar, Siwa, Stuffo, Teut, Thisa u.v.a.m.
- Richard Wagner im Ring des Nibelungen: Wotan, Fricka, Freia, Froh, Donner, Erda, Loge.
Literatur
- Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. 1835.
- Wolfgang Golther: Handbuch der Germanischen Mythologie. Stuttgart 1908.
- Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Berlin 1956.
- Åke V. Ström: Germanische Religion. Stuttgart 1975.
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Stuttgart 2. Aufl. 1995. ISBN 3-520-36802-1.
- Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt 2003. ISBN 3-354-16910-7.