Andrej Holm (* 8. Oktober 1970 in Leipzig) ist ein deutscher Sozialwissenschaftler mit den Themenschwerpunkten Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Von Anfang Dezember 2016 bis voraussichtlich Januar 2017 ist er Staatssekretär in der rot-rot-grünen Landesregierung von Berlin gewesen.

Leben
Holms Großeltern emigrierten während der Zeit des Nationalsozialismus in die Sowjetunion. Sein Vater wurde in Moskau geboren und war später in der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beschäftigt.[1] Holm wuchs in Leipzig und Ost-Berlin auf. Mit vierzehn Jahren wurde er Mitglied eines FDJ-Bewerberkollektivs für militärische Berufe und war von 1985 bis 1989 in seiner Schule Sekretär der Leitung der FDJ-Grundorganisation. Er trat im Januar 1989 in die SED ein.[2] Nach seinem Abitur an der EOS Paul Oestreich begann er im September 1989 eine Ausbildung als Offiziersschüler bei der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin des MfS. Diese begann mit der obligatorischen sechswöchigen militärischen Grundausbildung.[1][3] Er verpflichtete sich zudem, im Auftrag des MfS an der Universität Leipzig Journalismus zu studieren. Holm wurde Ende September 1989 vereidigt und infolge der Auflösung des MfS Ende Januar 1990 aus seinem Dienst verabschiedet.[1] Von 1990 bis 1997 studierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin Sozialwissenschaften und wurde 2004 mit einer Arbeit zum Thema „Restrukturierung des Raumes und gesellschaftliche Macht im Sanierungsgebiet“ promoviert.
Holm engagierte sich nach der Wende in der oppositionellen Marxistischen Jugendvereinigung Junge Linke und dem Oppositionsbündnis Vereinigte Linke. Später war er in der autonomen Hausbesetzerbewegung und in verschiedenen Stadtteil- und Mieterinitiativen aktiv. Er schrieb für die Zeitschriften Telegraph und MieterEcho (Zeitschrift der Berliner MieterGemeinschaft) sowie für die Junge Welt, die Blätter für deutsche und internationale Politik, analyse & kritik und andere Publikationen.[4] Er beschäftigte sich zudem mit der Privatisierung von Wohnungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern und war aktiv im „Berliner Bündnis gegen Privatisierung“ und im „Netzwerk Privatisierung/Öffentliche Güter“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Holm ist liiert mit der Netzaktivistin und Journalistin Anne Roth.[5][6]
Akademische Laufbahn
Andrej Holm war von 1998 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin im Forschungsprojekt „Veränderte Bedingungen der Stadterneuerung – Beispiel Ostberlin“ unter Leitung von Hartmut Häußermann. In den Jahren 2005/2006 wirkte er als Koordinator am Projekt „The European URBAN Experience – the Academic Perspective“ mit.[7] In den Jahren 2008/2009 war er am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt angestellt und koordinierte dort ein Forschungsprojekt zu den „Neuordnungen des Städtischen im neoliberalen Zeitalter“.[8] Von 2009 bis 2011 übernahm er die Vertretung der Lehraufgaben für den Bereich Stadtforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 2013 ist seine Anstellung dort unbefristet.[9][10]
Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
Im September 2006 leitete die Bundesanwaltschaft gegen Holm ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) ein, in dessen Folge er am 31. Juli 2007 verhaftet wurde. Ihm wurde vorgeworfen, Mitglied der damals von der Bundesanwaltschaft als terroristisch eingestuften militanten gruppe (mg) zu sein.[11] Die Verhaftung Holms stieß auf Kritik. Eine Verhaftung aus den veröffentlichten Gründen sei höchst problematisch, da ein solcher Verdacht gegen jeden Wissenschaftler konstruiert werden könne.[12] In offenen Briefen forderten Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, unter anderem die Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen, die Freilassung Holms.[13][14] Am 22. August 2007 setzte der Bundesgerichtshof (BGH) den Haftbefehl aus, wogegen Generalbundesanwältin Monika Harms Beschwerde eingelegte.[15] Mit Beschluss vom 24. Oktober 2007 hob der BGH den Haftbefehl mit der Begründung auf, die Ermittlungen hätten keine hinreichenden Indizien für einen dringenden Tatverdacht ergeben.[11] Das Gericht sah es jedoch für in hinreichender Weise bestätigt an, dass Holm eine „linksextremistische Einstellung“ habe und in die entsprechende Szene in Berlin eingebunden sei.[16] Am 28. November 2007 setzte der BGH auch die Haftbefehle gegen drei mit Holm festgenommen Personen aus. Nach Ansicht des zuständigen Senats handelt es sich bei der militanten gruppe (mg) um eine kriminelle Vereinigung (§ 129 StGB) und nicht um eine terroristische Vereinigung (§ 129a StGB], da die von ihr bereits begangenen oder beabsichtigten Taten nicht geeignet seien, die Bundesrepublik Deutschland erheblich zu schädigen.[17] Drei Mitglieder der Gruppe wurden im Oktober 2009 vom Berliner Kammergericht wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und versuchter Brandstiftung zu Freiheitsstrafen zwischen drei und dreieinhalb Jahren verurteilt.[18] Gegen Holm wurde keine Anklage erhoben; das Verfahren wurde am 5. Juli 2010 nach §170 II StPO eingestellt.
Ernennung zum Staatssekretär, Kontroverse und Entlassung
Anfang Dezember 2016 berief der Senat von Berlin Holm auf Vorschlag der Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen Katrin Lompscher (Die Linke) zum Staatssekretär für Wohnen.[19] Die Ernennung Holms führte auf Grund seiner früheren Tätigkeit als Hauptamtlicher Mitarbeiter beim MfS und seinen falschen Angaben über diese Tätigkeit gegenüber der Humboldt-Universität zu breiter Kritik.[20][10][21] Die Humboldt-Universität prüft (Stand: Januar 2017), ob sie wegen Falschangaben im Personalfragebogen rechtliche Schritte gegen Holm einleiten wird.[22] Holm hatte 2005 die folgenden drei Fragen, die jeder Bewerber um eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst beantworten muss, mit „Nein“ beantwortet: Sind Sie für das frühere Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen? Haben Sie finanzielle Zuwendungen erhalten? Haben Sie eine Verpflichtungserklärung zur Zusammenarbeit unterschrieben?[21] Nach Ansicht des Historikers und Projektleiters beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Ilko-Sascha Kowalczuk, ist die Erklärung Holms, sich an eine hauptamtliche Tätigkeit beim MfS nicht erinnern zu können, nicht glaubhaft. Er habe bewusst gelogen, um angestellt zu werden. Anders als von Holm und der Linkspartei dargestellt, sei seine Tätigkeit beim MfS historisch-strukturell als problematischer einzuschätzen als die eines Informellen Mitarbeiters.[1] Am 14. Januar 2017 kündigte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller an, Holm wegen der falschen Angaben und seines Umgangs damit zu entlassen.[23][24]
Schriften (Auswahl)
- Bücher
- Mit Hartmut Häußermann, Daniela Zunzer: Stadterneuerung in der Berliner Republik. Modernisierung in Berlin-Prenzlauer Berg. Leske und Budrich, Opladen 2002 (= Stadt, Raum und Gesellschaft; Bd. 16), ISBN 3-8100-3440-1.
- Die Restrukturierung des Raumes. Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin. Interessen und Machtverhältnisse. transcript Verlag, Bielefeld 2006 (= Urban studies), ISBN 3-89942-521-9.
- Als Hrsg.: Revolution als Prozess. Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela. VSA-Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89965-259-8.
- Wir bleiben alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Unrast-Verlag, Münster 2010, ISBN 978-3-89771106-8. (= unrast transparent. soziale krise, Band 2).
- Hrsg. mit Matthias Bernt, Britta Grell: The Berlin Reader. A Compendium on Urban Change and Activism. transcript, Bielefeld 2013, ISBN 978-3-8376-2478-6.
- Als Hrsg.: Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt. Assoziation a, Berlin 2014, ISBN 978-3-93593-694-1.
- Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert. Knaur, München 2014, ISBN 978-3-426-78676-5.
- Fachaufsätze
- Sozialwissenschaftliche Theorien zu Raum und Fläche. UFZ - Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle, Leipzig u. a. 2004 (= UFZ-Bericht 26, 2004). (Online verfügbar als PDF-Datei, 625 KB)
- Der Ausstieg des Staates aus der Wohnungspolitik. In: Uwe Altrock u. a.: Planungsrundschau, 2006, S. 103–113.
- Neuordnungen des Städtischen in kapitalistischen Gesellschaften. In: Marxistische Blätter, Heft 5-08, 46. Jahrgang, S. 13–21.
Weblinks
- Literatur von und über Andrej Holm im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Gentrification Blog (Blog von Andrej Holm)
- Interview: Drei Fragen an Andrej Holm, Bundeszentrale für politische Bildung vom 9. Juli 2007
- Ilko-Sascha Kowalczuk: Einmal Stasi – immer Stasi? Wann vergeht Vergangenheit? Der Fall des Berliner Staatssekretärs Andrej Holm und der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema Aufarbeitung der Staatssicherheit. Bundeszentrale für politische Bildung, 10. Januar 2017.
Einzelnachweise
- ↑ a b c d Ilko-Sascha Kowalczuk: Einmal Stasi - immer Stasi? In: Bundeszentrale für politische Bildung. 10. Januar 2017, abgerufen am 11. Januar 2017.
- ↑ Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen: MfS-Akte über Andrej Holm, auf der Webseite der Robert-Havemann-Gesellschaft
- ↑ Interview mit Andrej Holm u. a.: Das sind keine legal erworbenen Informationen., die tageszeitung, 15./16. Dezember 2007
- ↑ Wissenschaft unter Terrorverdacht, Artikel auf der WSWS vom 24. August 2007
- ↑ Ein Leben unter staatlicher Beobachtung. badische-zeitung.de vom 21. Oktober 2008.
- ↑ Überwachung total campus.nzz.ch vom 28. Juni 2013
- ↑ The European URBAN experience - seen from the academic perspective. In: sowi.hu-berlin.de. Abgerufen am 30. November 2015.
- ↑ Personen im Forschungsverbund „Neuordnungen des Städtischen im neoliberalen Zeitalter“. In: neuordnungen.info. Abgerufen am 30. November 2015.
- ↑ Curriculum vitae auf der Webseite der Humboldt-Universität zu Berlin, abgerufen am 12. Januar 2017.
- ↑ a b Sabine Beikler: Berliner Staatssekretär mit Stasi-Vergangenheit: Fall Andrej Holm beschäftigt heute das Abgeordnetenhaus. In: tagesspiegel.de. 12. Januar 2017, abgerufen Format invalid.
- ↑ a b Bundesgerichtshof: Mitteilung der Pressestelle Nr. 154/2007: Haftbefehl gegen Berliner Soziologen aufgehoben
- ↑ Die Gedanken sind Freiwild: Wie man unter Terrorverdacht gerät. sueddeutsche.de, 22. August 2007.
- ↑ Richard Sennett, Saskia Sassen: Guantánamo in Germany. In: The Guardian, 21. August 2007.
- ↑ Durch Google-Suche in die Einzelhaft. Heise, 22. August 2007.
- ↑ Bericht vom 23. August 2007 in Zeit-Online: Berliner Soziologe freigelassen
- ↑ BESCHLUSS StB 34/07 vom 18. Oktober 2007 in dem Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. juris.bundesgerichtshof.de. Abruf am 14. Januar 2017.
- ↑ Bundesgerichtshof: Mitteilung der Pressestelle Nr. 181/2007: Haftbefehle gegen mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" außer Vollzug gesetzt
- ↑ Extremisten für Bundeswehr-Anschlag verurteilt. Die Welt, 16. Oktober 2009
- ↑ Auskunft der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, abgerufen am 31. Dezember 2016
- ↑ Kevin Hagen: Designierter Berliner Staatssekretär Holm: Der Problempolitiker. In: Spiegel Online. 12. Dezember 2016, abgerufen am 12. Januar 2017.
- ↑ a b Andreas Abel: Entscheidung im Januar im Fall Andrej Holm. In: Berliner Morgenpost. 22. Dezember 2016, abgerufen am 12. Januar 2017.
- ↑ Stasi-Debatte um Holm für Müller "noch nicht erledigt". In: welt.de. 10. Januar 2017, abgerufen am 12. Januar 2017.
- ↑ Entlassung: Berliner Staatssekretär Holm muss wegen Stasi-Vergangenheit gehen. In: sueddeutsche.de. 14. Januar 2017, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 14. Januar 2017]).
- ↑ Berlins Staatssekretär Holm wird wegen Stasi-Vergangenheit entlassen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Januar 2017.
Personendaten | |
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NAME | Holm, Andrej |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Sozialwissenschaftler |
GEBURTSDATUM | 8. Oktober 1970 |
GEBURTSORT | Leipzig |