Wir Flüchtlinge

paradigmatischer Essay von Hannah Arendt über das politische Selbstverständnis von Flüchtlingen
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Wir Flüchtlinge (original: We Refugees) ist ein paradigmatisches Essay von Hannah Arendt über das politische Selbstverständnis der Flüchtling, das sie 1943 in der jüdischen Zeitschrift Menorah Journal publizierte.

Arendt zeichnet hier die Lebensgeschichte eines "Herrn Cohn" nach, der als jüdischer Flüchtling sich intensiv – "150prozentig" – bemüht sich in dem jeweiligen Nationalstaat zu assimilieren. Doch als Flüchtling bleiben alle Anstrengungen ein Deutscher, ein Wiener oder ein Franzose zu sein, um somit ein politisches Mitglied der Gesellschaft zu sein, erfolglos. Als Staatenloser bleibt er rechtlos und "vogelfrei". Herrn Cohn stellt am Ende für sich fest: on ne parvient pas deux fois (Sein Glück kann man nur einmal finden). Arendt plädiert hier gegen die Anstrengung der Assimilation und für eine neues Selbstbewusstsein der Flüchtlinge, für ihre Sache politisch zu werden: "Die Geschichte ist für sie kein Buch mit sieben Siegeln und Politik kein Privileg der Nichtjuden mehr. Sie wissen, dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker." Ihre Analyse, dass der Imperialismus die Nationalstaaten zersetzt und Menschen mit Nationalitäten ohne territoriale Bindungen für vogelfrei erklärt, vertieft Hannah Arend zusammen mit ihrer Forderung nach dem "Recht, Rechte zu haben", vor dem Hintergrund, dass die Menschenrechte für Flüchtlinge nicht gelten, später umfassender in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und motiviert sie für ihre politische Philosophie.

Rezeption

Obwohl diese Analyse zentral in ihrem als Standardwerk der Politikwissenschaft anerkannten Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vertreten ist, wird sie in Deutschland erst seit wenigen Jahren breiter diskutiert. Giorgio Agamben greift 50 Jahre nach Erscheinen dieses Essays die politisch philosophische Fragestellung aus Wir Flüchtlinge in "Jenseits der Menschenrechte" wieder auf. Die dort beschriebene Situation sei nicht nur immer noch von aktueller Dringlichkeit: "Möglicherweise müssen wir sogar, wenn wir uns auf der Höhe der vollkommen veränderten Probleme, vor denen wir stehen, bewegen wollen, den Entschluss fassen, ohne Zögern die grundlegenden Begriffe über Bord zu werfen, mit denen bisher politische Subjekte vorgestellt wurden, als Mensch und Bürger mit den ihnen zukommenden Rechten, aber auch: das souveräne Volk, der Arbeiter und so weiter." Ausgehend von dieser Überlegung Arendts zur Flüchtlingsfrage und Staatenlosigkeit wird für Agamben die "Figur des Flüchtlings", die er mit dem zum todgeweihten "Homo sacer" der römischen Antike vergleicht, zu einer Schlüsselfigur für eine Neubegründung der politischen Philosophie.

Biblographie

  • Hannah Arendt: We Refugees. Menorah Journal, 1943
  • Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge, In: Zur Zeit (hg. Von Marie Luise Knott), Berlin 1986

Literatur

  • Giorgio Agamben (1993): Au-delà des droits de l'homme, In: Libération v. 9./10. Juni 1993
  • Giorgio Agamben (2001): "Jenseits der Menschenrechte". In: 'Subtropen' Beilage zur Jungle World Nr. 28/01. 21. Juni 2002