Dr. Vojislav Šešelj (in kyrillischer Schrift Војислав Шешељ, * 11. Oktober 1954, Sarajevo, Jugoslawien) ist ein rechtspopulistischer serbischer Politiker und Nationalist. Er ist Parteigründer und Vorsitzender der Serbischen Radikalen Partei. Wegen seiner Rolle als Freischärlerführer im Balkankonflikt befindet er sich seit 2003 in Untersuchungshaft in Den Haag, wo er sich vor dem Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verteidigt.
Politischer Werdegang
Vojislav Šešelj wurde am 11. Oktober 1954 in Sarajevo geboren und trat mit 17 Jahren der KP Jugoslawiens bei. Auf der Universität von Sarajevo legte er 1979 seine Dissertation „Das politische Wesen des Militarismus und Faschismus“ vor, und wurde so zum jüngsten Doktor der Rechtswissenschaft im damaligen Jugoslawien. Anschließend arbeitete er von 1981 bis 1984 als Assistent an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Sarajevo.
Šešeljs Inhaftierungen
Šešelj wendete sich Anfang der 1980er von der herrschenden kommunistischen Ideologie ab und unterhielt vermehrt Beziehungen zu nationalistisch gesinnten Intellektuellen in Belgrad, wodurch er in Konflikt mit regimetreuen Mitarbeitern der Universität Sarajevo geriet. Wegen seiner kompromisslosen Haltung wurde er von der Universität entlassen und vom jugoslawischen Geheimdienst UDBA beschattet. Am 9. Juli 1984 wurde Šešelj wegen seiner „anarcho-liberalistischen und nationalistischen Standpunkte“ des Verbrechens der „kontrarevolutionären Gefährdung der Gesellschaftsordnung“ für schuldig befunden und zu acht Jahren Haft verurteilt.
Seine Haftstrafe wurde vom Obersten Gerichtshof Jugoslawiens zunächst auf sechs, dann auf vier und schließlich auf zwei Jahre gesenkt. Zahlreiche Intellektuelle aus allen Teilen Jugoslawiens, unter anderem auch einige künftige politische Gegner Šešeljs, setzten sich für seine Freilassung ein, während er einen Hungerstreik begann. Er verbrachte insgesamt 22 Monate im berüchtigten Gefängnis von Zenica, davon mehr als ein halbes Jahr in Einzelhaft.
Šešelj wurde am 2. Oktober 1990 wiederholt zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, weil er versucht hatte, Titos Mausoleum, das „Haus der Blumen“ (kuća cveća), abreißen zu lassen, und weil er Freiwillige für die Verteidigung der damals nicht anerkannten Republika Srpska anwarb. Nach seiner Freilassung wurde er am 23. Oktober 1990 erneut verhaftet und zu weiteren 45 Tagen Haft verurteilt. Noch im Gefängnis kandidierte er zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten Serbiens und erreichte mit knapp 97.000 Stimmen den vierten Platz hinter Slobodan Milošević, Vuk Drašković und Dr. Ivan Đurić.
In einem Interview behauptete er, dass er es regelrecht darauf anlege, eingesperrt zu werden. Seine Gefängnisaufenthalte dienten „häufig politischen Zielen“, wobei seine Partei auf diese Weise zusätzlich punkten könne.
Gründung der Serbischen Radikalen Partei
Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis 1986 zog Šešelj nach Belgrad, wo er sich dem Bund der Schriftsteller Serbiens anschloss und sich als freier Autor und Publizist durchschlug. Er schloss Freundschaft mit Vuk Drašković, der Taufpate seines Sohnes wurde. 1989 unternahm Šešelj eine Reise in die USA und nach Australien, wo er vor der serbischen Diaspora Vorträge hielt und Spenden sammelte. Im Mai 1990 kam es jedoch wegen unterschiedlicher politischer Anschauungen und auch wegen Fragen der Aufteilung der finanziellen Zuwendungen der Diaspora zum Bruch zwischen Šešelj und Drašković.
Nach seiner Rückkehr aus den USA gründete Šešelj am 23. Januar 1990 die Serbische Libertäre Bewegung (Srpski Slobodarski Pokret) und ging eine Union mit Draškovićs Serbischer Erneuerungsbewegung (Srpski Pokret Obnove) ein. Nach dem Bruch mit Drašković gründete Šešelj die Serbische Tschetnik-Bewegung (Srpski Četnički Pokret), deren Registrierung jedoch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass der Name der Partei die öffentliche Moral beleidige.
Der im kalifornischen Exil lebende ehemalige Tschetnik-Führer Momčilo Đujić ernannte Šešelj am 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, den 28. Juni 1989, zum neuen Tschetnik-Woiwoden. Er entzog ihm den Titel aber 1998 anlässlich der Bildung der Koalitionsregierung zwischen Šešeljs Radikalen und Miloševićs Sozialistischer Partei.
Am 23. Februar 1991 gründete Šešelj in Kragujevac die Serbische Radikale Partei, die aus der nicht registrierten Tschetnik-Bewegung und Abgeordneten der Radikalen Volkspartei hervorging. Die neu gegründete Partei konnte bald darauf Erfolge erzielen und sich gegen die sozialistischen Kandidaten Miloševićs behaupten, so dass Šešelj im Juni 1991 zum Abgeordneten gewählt wurde.
Während der gesamten 1990er vertrat Šešelj einen betont nationalistischen Kurs und propagierte die Schaffung eines so genannten „Großserbien“, das im Westen durch die Linie Karlobag-Ogulin-Karlovac-Virovitica begrenzt sein sollte. Šešelj warb Freiwillige für die Jugoslawische Volksarmee und seine eigene Truppe, die von manchen „Šešeljevci“ („Šešelianer“) und „Tschetniks“ genannt wurden. Er besuchte zahlreiche Kriegsgebiete in Plitvice, Vukovar und der Herzegowina, wo er Reden hielt.
Šešelj drohte, das slowenische Kernkraftwerk Krško, die Hauptstadt Kroatiens Zagreb, den Vatikan, Wien und andere europäische Hauptstädte bombardieren zu lassen. Er wolle bosnische Moslems „mit rostigen Löffeln schlachten“, drohte untreuen Albanern mit der Vertreibung aus dem Kosovo und Milošević mit der Verhaftung.
Šešeljs politische Bestrebungen hatten ein Misstrauensvotum des serbischen Parlaments gegen den Präsidenten Milan Panić zur Folge. Kurz darauf wurde auf Šešeljs Betreiben auch dem ersten Präsidenten der aus Serbien und Montenegro bestehenden Bundesrepublik Jugoslawien, dem Schriftsteller Dobrica Ćosić, das Misstrauen ausgesprochen. Ćosić war ein langjähriger Freund Šešeljs gewesen, er setzte sich 1984 für Šešeljs Freilassung aus dem Gefängnis ein und unterstützte ihn auch finanziell. Nicht zuletzt übernahm Šešelj von Ćosić einen Großteil seiner nationalistischen Anschauung.
Anfang der 1990er vertrat Šešelj den Monarchismus und setzte sich für die Rückkehr einer gewissen spanischen Familie Dolgorukov auf den serbischen Thron ein. Später vertrat Šešelj jedoch republikanische Positionen.
Šešelj gilt als schneller Denker und außergewöhnlicher Redner, den eine Aura der Unbesiegbarkeit zu umgeben scheint. Er ist nervenstark, passt seinen Standpunkt flexibel dem Kontext der Diskussion an, fällt den anderen ins Wort, vertauscht gegensätzliche Standpunkte und greift ungehemmt zu Beleidigungen. Šešelj nahm an mehreren Schlägereien gegen den Sicherheitsdienst des serbischen Parlaments teil. Während einer Parlamentssitzung im September 1994 beschimpfte und bespuckte er den Parlamentspräsidenten, Dr. Božović, weil dieser die Radikalen als „Primitive“ bezeichnet hatte.
Nach einem heißen Fernsehduell fügte ein Leibwächter Šešeljs dem Rechtsanwalt Nikola Barović schwere körperliche Verletzungen zu und gab später an, Barović sei „auf einer Bananenschale ausgerutscht“. Šešelj bezeichnete diverse Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, unter anderem auch den Führer der Serbisch-Orthodoxen Kirche, den Patriarchen Pavle, als Verräter. Als der serbische Thronfolger Aleksandar II. aus dem Exil von Großbritannien nach Serbien zurückkehrte und nach seiner Ankunft in Belgrad symbolisch die Erde küsste, sah ihn Šešelj „grasen“.
Rolle während der Milošević-Regierung
Šešeljs innenpolitische Aktivitäten waren abwechselnd von der Zusammenarbeit und dem Auseinandergehen mit dem Regime Slobodan Miloševićs geprägt. Während der Regierungszeit Miloševićs war Šešelj zeitweilig serbischer Vizepremier. Seine und Miloševićs Partei bildeten 1998 eine so genannte „Regierung der nationalen Einheit“, die eine einheitliche und geschlossene Politik in Bezug auf den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien verfolgte. Milošević nannte Šešelj seinen „Lieblings-Oppositionär“, weil er „keine finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bekäme“ und weil er „konsequent seine Meinung äußere“. Während Milošević die Richtung vorgab, spielte Šešelj die Rolle eines Volkstribuns und sprach aus, was Milošević nicht durfte. Während Milošević sich auf die Außenpolitik konzentrierte, dominierte Šešelj die Innenpolitik, indem er Oppositionelle, kritische Medien und Universitätsprofessoren attackierte.
Es gab aber auch zahlreiche Konflikte zwischen Šešelj und Milošević, die hauptsächlich nach Wahlerfolgen der Serbischen Radikalen Partei aufflammten. Šešelj kritisierte Miloševićs Nachgiebigkeit gegenüber Forderungen der internationalen Gemeinschaft, wie anlässlich des gescheiterten Vance-Owen-Plans 1993 und des darauf folgenden Embargos Serbiens gegen die Republika Srpska. Wegen der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton nannte er Milošević den „größten Verräter am serbischen Volk“. In Zeiten des Konflikts veröffentlichte Šešelj propagandistische Werke mit Titeln wie „Das serbische Ehepaar Ceauşescu“, „Uns droht die Slobotomie“, „Der rote Tyrann von Dedinje“, und „Die Hexe aus der Tolstoi-Straße“, in Anspielung auf die politisch einflussreiche Gattin Miloševićs, Mirjana Marković.
Wegen seiner Haltung und wegen diverser Zwischenfälle im Parlament wurde Šešelj 1994 zum dritten Mal verhaftet und für weitere acht Monate, von September 1994 bis April 1995, eingesperrt. Im selben Jahr veranstaltete er eine Protestkundgebung in Gnjilane und wurde folglich wegen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ zu weiteren 60 Tagen Haft verurteilt.
Auf die Frage, warum er mit Leuten, die ihn einsperrten, eine Regierung bilde, antwortete Šešelj in einem Interview: „Ich war in der Regierung nicht weil ich Milošević liebe, sondern weil ich der Ansicht war und bin, dass es im Interesse des serbischen Volkes und serbischen Staates war“. In einem anderen Interview erklärte er über seine Beziehung zu Milošević: „Sehen Sie, in der Politik darf es keinen Hass geben. Jene, die sich in der Politik von Hass leiten lassen, sind verloren, haben keine Perspektive ... Ich bin ein Mensch, der gegen Hass geimpft ist.“
Zusammenarbeit mit Führern anderer rechtsextremer Parteien
Im Oktober 1995 reiste Wladimir Schirinowski nach Belgrad und unterzeichnete ein Kooperationsabkommen mit Šešeljs SRS. 1997 kam Frankreichs Jean-Marie Le Pen zu einem viel beachteten Solidaritätsauftritt nach Belgrad, wo er von Šešelj empfangen wurde.
Politische Erfolge
Bei den serbischen Präsidentschaftswahlen 2002 gewann Šešelj ein Drittel der Stimmen. Dabei wurde er öffentlich von Milošević unterstützt, der aus dem Haager Gefängnis eine Wahlempfehlung für Šešelj abgab, obwohl Miloševićs Partei einen Gegenkandidaten aufgestellt hatte. Ähnlich unterstützte Milošević die Kandidatur des Radikalen Tomislav Nikolić bei den Präsidentschaftswahlen 2003, weil sich Šešelj zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Den Haag in Untersuchungshaft befand.
Šešeljs „Serbische Radikale Partei“, die offen dafür eintritt, den Staat Serbien im Sinne des großserbischen Konzepts zu vergrößern, wurde bei den serbischen Parlamentswahlen 2004 mit mehr als 27% der Stimmen stärkste Partei, verlieb jedoch in der Opposition.
Anklage wegen Kriegsverbrechen
Im Jugoslawien-Krieg soll Šešelj der Anführer einer nach ihm benannten paramilitärischen Einheit, der „Šešeljevci“ („Šešelianer“) gewesen sein. Diesen Einheiten werden zahlreiche Kriegsverbrechen in Kroatien und Bosnien zur Last gelegt. Der Anklageschrift des Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien zufolge soll Šešelj eine „kriminelle Vereinigung zwecks Durchführung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gebildet und für „Verstöße gegen Kriegsgesetze oder -bräuche“ verantwortlich gewesen sein. Ihm wird zur Last gelegt, an Kriegsverbrechen serbischer Paramilitärs in Kroatien und Bosnien in maßgeblicher Rolle beteiligt gewesen zu sein. Unter anderem wird ihm vorgeworfen, mit Brandreden den nationalen Hass geschürt und zu Kriegsverbrechen aufgerufen zu haben. So soll er im November 1991 während der Schlacht um Vukovar in einer Rede gefordert haben, dass „kein Ustascha die Stadt lebend verlassen“ solle.
2003 stellte sich Šešelj vor laufenden Kameras freiwillig dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Vor seiner Abreise nach Den Haag veranstalteten Zehntausende seiner Anhänger eine große Abschiedsfeier in der Belgrader Innenstadt. Šešelj bezeichnet die Vorwürfe der Anklage als haltlos und betrachtet den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als ein völkerrechtswidriges Tribunal, dass eine verfehlte und völkerrechtswidrige Jugoslawien-Politik der EU und der USA legitimieren solle, indem es die alleinige Schuld am jugoslawischen Bürgerkrieg Serbien und seinen politischen Vertretern zuschiebe. Die Anklage lege eine erschreckende Unkenntnis der Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien an den Tag und habe keine stichhaltigen Beweise für Šešeljs Schuld, wofür auch die Tatsache spreche, dass sein Prozess nach rund 3 Jahren Untersuchungshaft noch immer nicht begonnen habe.
Šešelj verteidigt sich in Den Haag selbst, er lehnt jeden rechtlichen Beistand durch den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ab und besteht darauf, für die Verteidigung seine eigenen Mitarbeiter beizuziehen, was ihm vom Gericht verwehrt wird. Während der Statuskonferenzen bewies er öfters einen eigenen Humor: In einer Beschwerde bemängelte er z. B. die Form und Farbe der Richterroben, die ihn an die römisch-katholische Inquisition erinnerten und folglich „psychische Probleme und Angstzustände“ bei ihm hervorriefen. Weiters forderte er, Papst Johannes Paul II. und alle Bischöfe der römisch-katholischen Kirche vorzuladen und alle Dokumente, Aussagen und Pläne des Vatikans betreffend den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien offenzulegen. Darüber hinaus äußerte er während der Statuskonferenzen immer wieder zahlreiche Respektlosigkeiten und Beleidigungen des Gerichts und der Anklagevertreter.
Privates
Vojislav Šešelj ist verheiratet, er und seine Ehefrau Jadranka haben vier Söhne.
Weblinks
- Website von Vojislav Šešelj
- ICTY-Anklageschrift gegen Vojislav Šešelj
- ICTY-Protokolle von Statuskonferenzen über Vojislav Šešelj
Personendaten | |
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NAME | Šešelj, Vojislav |
ALTERNATIVNAMEN | Seselj, Vojislav |
KURZBESCHREIBUNG | Serbischer Politiker |
GEBURTSDATUM | 11. Oktober 1954 |
GEBURTSORT | Sarajevo, Bosnien |