Es gibt in Kanada eine erhebliche Zahl von verschwundenen oder ermordeten Frauen und Mädchen aus der indigenen Bevölkerung. Das Thema Verschwundene indigene Frauen erhielt mit dem Amtsantritt der Regierung Justin Trudeau im November 2015 unter den innenpolitischen Aufgaben des Landes einen Vorrang. Bereits die Vorgängerregierung hatte eine Untersuchung durch die nationale Polizei RCMP in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse 2014 veröffentlicht wurden. Demnach waren 1017 autochthone Frauen zwischen 1980 und 2012 ermordet worden, weitere 164 sind spurlos verschwunden. Die Zahlen nur für 2013/2014 liegen bei 32 Toten und 11 Verschwundenen.[1] Fachleute bezeichnen diese Zahlen als die Spitze eines Eisbergs; auch die heutigen Politiker gehen davon aus, dass die Zahlen zu gering sind.
Vorgehen der Regierung
Trudeau ließ nach Amtsantritt Anhörungen, insbesondere mit Vertretern der First Nations, Opferfamilien und mit Frauenverbänden starten. In der Folge wurde im Mai 2016 eine umfassende Untersuchung des Problems beschlossen. Anfang August 2016 wurde ein Untersuchungsausschuss eingerichtet, seine Aufgaben wurden festgelegt, die fünf Repräsentanten (Commissioner) wurden ernannt und Gelder bereitgestellt. Zuständig für Indianerangelegenheiten und Entwicklung des Nordens im Kabinett ist Ministerin Carolyn Bennett. Die Konstituierung des Ausschusses fand ein zustimmendes Medienecho, es schien, als hätte das Land auf einen solchen Anstoß dringend gewartet. Kanada, das sich zu den herausragenden Sprechern weltweiter Menschenrechte zählt, hatte demnach ein Problem im eigenen Haus jahrzehntelang beiseite geschoben, aus Gründen des Rassismus, des Sexismus und eines bis heute fortwirkenden Kolonialismus.[2]
Die Untersuchungskommission
Die National Inquiry into Missing and Murdered Indigenous Women and Girls (MMIW) - Enquête nationale sur les femmes et les filles autochtones disparues et assassinées wird zunächst von September 2016 bis Ende 2018 landesweit arbeiten. Sie ist regierungsunabhängig, keinen Weisungen unterworfen, darf Zeugen verhören, Beweise erheben und betreibt eine eigene Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat keine richterlichen Aufgaben.[3]
Die Kommission erfüllt ihre Aufgabe unabhängig von anderen Behörden; gleichwohl liegt es in der Sache begründet, dass vor allem mit Polizei-, Sozial-, Jugend- und Justizbehörden zusammengearbeitet werden muss, um Versäumnisse der Vergangenheit und die Gründe dafür festzustellen und deren Arbeit besser auf die Bedürfnisse der Opferfamilien auszurichten. Die Regierung der Provinz Quebec hat bereits im August 2016 angeordnet, dass die Provinzialbehörden der Kommission zu Auskünften verpflichtet sind; es wird damit gerechnet, dass weitere Provinzen folgen werden.[4]
Probleme
Eine wesentliche Aufgabe wird es sein, Hinterbliebene der Opfer ausfindig zu machen, mit ihnen Gespräche zu führen, ihre Erfahrungen zu erheben. Die Opferverbände und einzelne Opferfamilien wurden deshalb bei der Vorbereitung des Ausschusses bis August 2016 umfassend beteiligt. Eine seitdem ständig geschaltete Telefonleitung solle es Angehörigen ermöglichen, ihre Trauer und weitere intensive Gefühle, z. B. Wut auf bisher vergeblich mit Anzeigen befasste Dienststellen, auszusprechen. Die Regierung warnt zugleich mit der Einrichtung des Ausschusses nachdrücklich vor der Gefahr der Retraumatisierung von Angehörigen. Die Vorarbeiten einer Wahrheits- und Versöhnungskommission zu diesem Thema aus der ersten Jahreshälfte 2016 werden einbezogen; in dieser Zeit hatte es landesweit 18 Versammlungen mit 2000 Opfer-Angehörigen gegeben. Der Auftrag nimmt ferner Bezug auf UN-Beschlüsse zur Lage der Frauen und auf entsprechende Aussagen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte.
Ausstattung
Die Leitung der fünfköpfigen Kommission hat Marion Buller, bisher Richterin am Provinzialgericht in British Columbia, aus dem Stamm der Mistawasis.[5] Ein Zwischenbericht soll am 1. November 2017 vorliegen, der Abschlussbericht im November 2018.
Das Budget der Untersuchungskommission ist bis Ende 2018 dotiert mit 53,86 Million CAD. Weitere 16,17 Million CAD für vier Jahre stellt die Bundesregierung für die unmittelbare Trauer- und Erinnerungsarbeit mit den Opferfamilien bereit, unabhängig von der Arbeit der Kommission.
Weblinks
- Seite der kanadischen Regierung, Affaires autochtones et du Nord Canada (Ministerium für indigene Angelegenheiten und für den hohen Norden), ausführliche Projektbeschreibung, wahlweise in jeder Landessprache
- Marion Buller, B.C. First Nations judge, to lead MMIW inquiry, 3. August 2016, CBC
- Une juge autochtone présidera l'enquête sur les femmes autochtones tuées ou disparues, Radio Canada, 3. August 2016
- Concerns linger as Ottawa launches missing, murdered indigenous women inquiry, The Globe and Mail, 3. August 2016
Notizen
- ↑ Alle Angaben nach der Website der kanadischen Regierung, siehe Weblinks
- ↑ Marion Buller, B.C. First Nations judge, to lead MMIW inquiry, 3. August 2016, CBC
- ↑ Dieser Punkt ist festgelegt. Er ist jedoch umstritten, da viele Opferfamilien sich eine Revision bisheriger Entscheidungen wünschen. Sie befürchten, dass die umstrittene Rolle der Polizei und anderer Behörden in der Vergangenheit niemals aufgeklärt werden wird. The Globe and Mail, uptated 4. August 2016: But some of the people who lobbied for a public inquiry are still concerned that the families of the victims are not being shown a direct route to justice, that the roles of police and other agencies will not be investigated adequately and there is not enough support to deal with the trauma that will result.
- ↑ Femmes autochtones - pouvoirs accordes. Le Devoir, 18. August 2016. Die Website verfügt über eine ausführliche Linkliste zum Thema "Autochthone Frauen Kanadas".
- ↑ siehe: en:Mistawasis First Nation in der englischsprachigen Wikipedia