Wahlbruderschaft bzw. "geschworene Bruderschaft" (fraternitas iurata) bezeichnete im europäischen Mittelalter und der frühen Neuzeit ein institutionalisiertes Verwandtschaftsverhältnis zwischen zwei sich liebenden Freunden (für eine kulturübergreifende Einordnung siehe Bruder).
Seit der Veröffentlichung des Buches Same-Sex Unions in Premodern Europe durch den Historiker John Boswell wird in der Geschichtswissenschaft, in der Lesben- und Schwulenbewegung, aber auch in den verschiedenen Kirchen darüber diskutiert, inwieweit diese Institution als Beweis gelten kann, dass das Christentum gleichgeschlechtliche Verbindungen in der Vergangenheit nicht nur anerkannt, sondern auch gesegnet hätte.
Der Ritus der Adelphopoiesis
Als Ausgangspunkt dieser Diskussion dient dabei der orthodoxe Ritus der Adelphopoiesis ('Brüdermachen', slaw. pobratimstwo). Die liturgischen Elemente dieses Ritus sind wie folgt zu beschreiben:
Die beiden zukünftigen Brüder mussten sich vor dem Altar aufstellen, wo sie mit einem Strick aneinandergebunden wurden. Während sie ihre rechte Hand auf das Evangelium legten, gab man ihnen in die linke eine Kerze. Dann verlas der Priester die Verse 1 Korinther 12,27 bis 13,8 (Paulus über die Liebe) und Johannes 17,18-26 (Jesus über das Einssein). Davor und danach wurden Gebete aufgesagt. Eines davon lautete in deutscher Übersetzung:
- "Unser allmächtiger Gott, der du vor den Zeiten warst und für alle Zeiten sein wirst, der geruhte, die Menschheit durch den Schoß der Mutter Gottes und Jungfrau Maria zu besuchen, sende deinen heiligen Engel auf diese deine Diener [Name] und [Name], dass sie einander lieben mögen, so wie deine heiligen Apostel Petrus und Paulus einander geliebt haben und Andreas und Jakob, Johannes und Thomas, Jakob, Philipp, Matthäus, Simon, Thaddeus, Matthias und die heiligen Märtyrer Sergius und Bacchus sowie Cosmas und Damian, nicht durch fleischliche Liebe, sondern durch den Glauben und die Liebe des Heiligen Geistes, dass sie alle Tage ihres Lebens in dieser Liebe verweilen. Durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen."
Anschließend nahmen die Männer geweihte Geschenke aus einem Korb entgegen und wurden, sich an den Händen haltend, um den Altar herumgeführt. Währenddessen sang die Gemeinde das folgende Troparion: "Herr, schau vom Himmel und sieh". Schließlich küssten sie sich, wobei Psalm 133,1 angestimmt wurde: "Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen."
Bruderschaften in der Westkirche
In der katholischen Kirche waren Priester bis weit in die Neuzeit selbst an Eheschließungen nur selten beteiligt (die Formpflicht wurde erst durch das Konzil von Trient eingeführt, wobei die Umsetzung dieser Vorschrift in einzelnen Ländern teilweise erst viel später erfolgte). Das und einiges andere spricht eher dagegen, dass der Ritus der Adelphopoiesis, der in lateinischer Übersetzung als ordo ad fratres faciendum vorliegt, im Westen breite Verwendung gefunden hätte. Jedoch wird er heute teilweise von der Altkatholischen Kriche benutzt.
Wenn also auch nicht im Rahmen einer Messe und vor einem Priester, so pflegten Brüder ihren Schwur doch über einem Altarstein abzulegen und dies der Gemeinde vor der Kirchentür kundzutun. Mehr noch als der Schwur war es jedoch das mögliche gemeinsame Begräbnis, das der "künstlichen Bruderschaft" eine religiöse Einbindung verlieh. Die Verbreitung dieser Praxis belegen alte englische und irische Friedhöfe, auf denen sich eine Reihe von Gräbern mit dem Namen zweier Männer finden lassen. Die Inschriften sind oft Zeugnisse unsterblicher Zuneigung: "Die Liebe verband sie als Lebende. Also möge sie die Erde auch als Tote vereinen."
Literarische Vorbilder
Dass es sich bei der Liebe zwischen zwei geschworenen Brüdern um ein romantisches Ideal der Zeit handelte, belegen zahlreiche literarische Werke, die teilweise auf populären Stoffen beruhten, wie die Geschichte von Horn und seinem geschworenen Bruder Ayol, Adam Bell, die Romanze zwischen Floris und Blancheflour, der Guy of Warwicke, die Ballade von Bewick und Graham oder Geoffrey Chaucers Knightes Tale. Das gemeinsame Grab steht auch im Zentrum der von einem Kleriker vor dem 14. Jahrhundert erstellten lateinischen Version von Amys und Amylion, einer populären Volkssage, die sich in verschiedenen Kulturen von Indien bis zum Atlantik nachweisen lässt. In ihrer christianisierten Fassung handelt sie von zwei geschworenen Brüdern, die für Karl den Großen kämpften und nach ihrem Tod zunächst getrennt bestattet wurden. Doch im Laufe der Nacht bewegten sich ihre Leichname aufeinander zu, und am nächsten Morgen fand man sie Seite an Seite liegend. Die Worte, die der Schilderung dieses Wunders vorausgehen, erinnern fast wörtlich an die oben zitierte Grabinschrift: "So wie Gott sie im Leben durch Eintracht und Liebe verbunden hatte, so wollte er nicht, dass sie im Tode voneinander getrennt würden."
Einordnung aus heutiger Sicht
Katholische und orthodoxe Theologen bemühen sich, die christlichen Bruderschaften und Freundschaften des Mittelalters vom Verdacht des "Homoerotischen" zu reinigen und sie als lediglich platonisch darzustellen. Dies ist jedoch eine Differenz, die den Begriffen und Vorstellungen der damaligen Zeit nicht gerecht wird, sondern sich eher den Linsen moderner Heteronormativität verdankt. Denn der neoplatonische Dualismus von Liebe und Lust galt abstrakt und nicht nur für bestimmte Geschlechterkonstellationen. So empfiehlt Paulus dem Manne auch, "keine Frau zu berühren" (1 Kor 7,1). Einige frühchristliche Sekten nahmen deshalb nur Junggesellen auf. Aber letztlich war für den Erhalt der Gemeinde ein "schmerzlicher" Kompromiss erforderlich: die Zulassung fleischliche Akte in der Ehe.
Genauso wird aber auch das mögliche erotische Begehren unter Freunden nicht geleugnet, sondern in der Warnung vor der fleischlichen Versuchung gerade mitgedacht. Eine Liebesnacht zwischen zwei Freunden ist deshalb keineswegs das schlechthin Undenkbare. Vielmehr dient sie den Mystikern sogar als Metapher für die spirituelle Vereinigung mit Gott. Selbst wenn sich diese sinnlichen Liebesgedichte nur an IHN gerichtet haben sollten, zeigt es doch unbestreitbar, dass Freundschaften im Bewusstsein der Zeit über eine starke erotische Komponente verfügten. Und dass sich nicht jeder die kirchliche Missbilligung realer körperlicher Beziehungen zum Maß seines Handeln gemacht hat, steht wohl ebenso außer Frage. Denn immerhin bot die besondere Freude, es mit seinem geschworenen Bruder zu tun, während des gesamten Mittelalters reichlich Anlass für Witzeleien.
Siehe auch: Bruder, Homosexualität und Religion, Ehe, Freundschaft, Homosexualität, Christentum, John Boswell (englisch)
Weiterführende Literatur
- John Boswell, Same-Sex Unions in Premodern Europa. New York 1994.
- Alan Bray, The Friend. Chicago and London 2003.