Phylogenetik
Die Phylogenetik (retronymes Kofferwort aus gr. φυλή, φῦλον phylé, phylon ‚Stamm, Clan, Sorte‘ und γενετικός genetikós ‚Ursprung‘) ist eine Fachrichtung der Genetik und Bioinformatik, die sich mit der Erforschung von Abstammungen beschäftigt.

Eigenschaften
Die Phylogenetik verwendet heutzutage Algorithmen zur Bestimmung von Verwandtschaftsgraden zwischen verschieden Arten oder zwischen Individuen einer Art aus DNA-Sequenzen, die zuvor per DNA-Sequenzierung ermittelt wurden. Dadurch kann ein phylogenetischer Baum erstellt werden. Die Phylogenetik wird unter anderem zur Erzeugung von Taxonomien herangezogen. Als Algorithmen werden unter anderem Parsimony, die Maximum Likelihood (ML) und die MCMC-basierte Bayesische Inferenz verwendet.[1] Vor der Entwicklung der DNA-Sequenzierung und von Computern wurde die Phylogenetik aus Phänotypen über eine Distanzmatrix abgeleitet (Phenetik),[2] jedoch waren die Unterscheidungskriterien teilweise nicht eindeutig, da Phänotypen - selbst über einen kurzen Zeitraum betrachtet - von vielen weiteren Faktoren beeinflusst werden und sich verändern.[3][4]
Cavalli-Sforza beschrieb erstmals die Ähnlichkeit der Phylogenetik von Genen mit der Evolution von Sprachen aus Ursprachen.[5][6] Die Methoden der Phylogenetik werden daher auch zur Bestimmung von Abstammungen von Sprachen verwendet.
Geschichte
Im 14. Jahrhundert wurde das Abstammungsprinzip lex parsimoniae vom Philosophen und Franziskaner Mönch William von Ockam entwickelt. Im Jahr 1763 wurde die Bayessche Statistik von Pastor Thomas Bayes entwickelt.[7] Im 18. Jahrhundert veröffentlichte Pierre Simon Laplace, Marquis de Laplace, eine Form des maximum likelihood. 1837 publizierte Charles Darwin die Evolutionstheorie mit einer Darstellung eines Stammbaums. Eine Unterscheidung der Homologie und der Analogie wurde erstmals 1843 von Richard Owen getroffen. Der Paläontologe Heinrich Georg Bronn (1800–1862) publizierte 1858 erstmals das Aussterben und Neuauftreten von Arten im Stammbaum.[8] Im gleichen Jahr wurde die Evolutionstheorie erweitert.[9] Die Bezeichnung Phylogenie wurde 1866 von Ernst Haeckel geprägt.[10] Er postulierte in seiner Rekapitulations-Theorie einen Zusammenhang zwischen der Phylogenese und der Ontogenese, der heute nicht mehr haltbar ist.[11][12] Im Jahr 1893 wurde Dollo's Law of Character State Irreversibility veröffentlicht.[13]
Im Jahr 1912 verwendete Ronald Fisher die maximum likelihood. 1921 wurde die Bezeichnung Phylogenentisch von R. J. Tillyard bei seiner Klassifizierung geprägt.[14] Im Jahr 1940 führte Lucien Cuénot den Begriff des Kladons ein. Ab 1946 präzisierten Prasanta Chandra Mahalanobis, ab 1949 Maurice Quenouille und ab 1958 John Tukey das Vorläufer-Konzept.
Im Jahr 1950 folgte eine erste Zusammenfassung von Willi Hennig.[15] 1952 entwickelte William Wagner die Divergenzmethode.[16] 1953 wurde der Begriff Kladogenese geprägt.[17] A. J. Cain und G. A. Harrison verwendeten ab 1960 die Bezeichnung kladistisch.[18] Ab 1963 verwendeten Anthony Edwards und Cavalli-Sforza die maximum likelihood in der Linguistik.[19] Im Jahr 1965 wurde von J. H. Camin und Robert R. Sokal die Camin-Sokal parsimony als erstes Computerprogramm für kladistische Analysen entwickelt.[20] Im gleichen Jahr wurde die character compatibility method gleichzeitig von E. O. Wilson sowie von Camin und Sokal entwickelt.[21]
Literatur
- David Williams: The Future of Phylogenetic Systematics. Cambridge University Press, 2016, ISBN 978-1-316-68818-2.
Einzelnachweise
- ↑ Charles Semple: Phylogenetics. Oxford University Press, 2003, ISBN 978-0-198-50942-4.
- ↑ A.W.F. Edwards, L. L. Cavalli-Sforza: Reconstruction of evolutionary trees. In: Vernon Hilton Heywood, J, McNeill: Phenetic and Phylogenetic Classification. Systematics Association, 1964, S. 67–76.
- ↑ Masatoshi Nei: Molecular Evolution and Phylogenetics. Oxford University Press, 2000, ISBN 978-0-195-13585-5. S. 3.
- ↑ E. O. Wiley: Phylogenetics. John Wiley & Sons, 2011, ISBN 978-1-118-01787-6.
- ↑ L. L. Cavalli-Sforza: An Evolutionary View in Linguistics. (1994) In: Interdisciplinary Studies on Language and Language Change. von M. Y. Chen and O. J-L. Tzeng. Pyramid, Taipei. S. 17-28.
- ↑ L. L. Cavalli-Sforza, William S-Y. Wang: Spatial Distance and Lexical Replacement. In: Language (1986), Band 62, S. 38-55.
- ↑ Bayes, T. 1763. An Essay towards solving a Problem in the Doctrine of Chances. Phil. Trans. 53: 370–418.
- ↑ J. David Archibald (2009) 'Edward Hitchcock’s Pre-Darwinian (1840) 'Tree of Life'.', Journal of the History of Biology (2009) page 568.
- ↑ Darwin, C. R. and A. R. Wallace. 1858. On the tendency of species to form varieties; and on the perpetuation of varieties and species by natural means of selection. Journal of the Proceedings of the Linnean Society of London. Zoology 3: 45-50.
- ↑ Douglas Harper: Phylogeny. In: Online Etymology Dictionary.
- ↑ Blechschmidt, Erich (1977) The Beginnings of Human Life. Springer-Verlag, S. 32.
- ↑ Ehrlich, Paul; Richard Holm; Dennis Parnell (1963) The Process of Evolution. New York: McGraw–Hill, S. 66.
- ↑ Dollo, Louis. 1893. Les lois de l'évolution. Bull. Soc. Belge Géol. Paléont. Hydrol. 7: 164-66.
- ↑ Tillyard R. J. 1921. A new classification of the order Perlaria. Canadian Entomologist 53: 35-43
- ↑ W. Hennig: Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik. Deutscher Zentralverlag, Berlin, 1950.
- ↑ W.H. Jr. Wagner: The fern genus Diellia: structure, affinities, and taxonomy. (1952) In: Univ. Calif. Publ. Botany Band 26, S. 1–212.
- ↑ Webster's 9th New Collegiate Dictionary
- ↑ A. J. Cain, G. A. Harrison: Phyletic weighting. In: Proceedings of the Zoological Society of London (1960), Band 35, S. 1–31.
- ↑ Edwards, A.W.F, Cavalli-Sforza, L.L.: The reconstruction of evolution. In: Ann. Hum. Genet. (1963), Band 27, S. 105–106.
- ↑ J.H Camin, R.R. Sokal: A method for deducing branching sequences in phylogeny. In: Evolution (1965), Band 19, S. 311–326.
- ↑ E. O. Wilson: A consistency test for phylogenies based on contemporaneous species. In: Systematic Zoology (1965), Band 14, S, 214-220.