Zusammenbruchstheorie
Unter Zusammenbruchstheorie wird im Marxismus eine Theorie verstanden, wonach der Kapitalismus notwendigerweise zusammenbrechen muss. Der „Zusammenbruchstheoretiker“ Henryk Grossmann drückt es so aus: „Unsere Aufgabe besteht darin, zu zeigen, wie der kapitalistische Reproduktionsprozess durch Ursachen, die aus dem Wirtschaftskreislauf selbst entspringen, notwendig in zyklischen, also perodisch sich wiederholenden Auf- und Abstiegsbewegungen verläuft und schließlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führt.“ (S. 79).
Allerdings drückt sich Grossmann auch schwächer aus: „Wie, auf welche Weise kann die Akkumulation die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch bringen, wenn wir zunächst von den entgegenwirkenden Tendenzen, von welchen Marx spricht, absehen?“ (S. 79). Grossmann spricht auch vom „Zusammenbruchsgesetz“, aber auch von der „Zusammenbruchstendenz“.
Ursprünglich wurde der Begriff kritisch von Eduard Bernstein gegen Karl Marx verwendet. Bernstein "revidierte" Teile der Marxschen Theorie, indem er behauptete, dass ein Zusammenbruch, ein großer "Kladderadatsch" des Kapitalismus nicht zwangsläufig sei, dass deshalb auch kein gewaltsamer Umsturz, keine Revolution erforderlich sei, sondern dass vielmehr durch eine Reihe von Reformen allmählich politisch der Sozialismus erreicht werden könnte. (Inwieweit Marx selbst an einen Zusammenbruch glaubte, ist umstritten.)
Dagegen argumentierte Rosa Luxemburg, dass das Kapital immer äußere Räume bräuchte, um seine Waren verkaufen zu können. Sobald die ganze Welt kapitalistisch sei und es keine äußeren Räume mehr gebe, müsste notgedrungen die auf dem Kapital beruhende Wirtschaft zusammenbrechen. Das Kapital kann also von selbst nicht genügend Nachfrage nach seinen Produkten entwickeln, weshalb es auf Nachfrage von außen angewiesen sei. Dabei wird dieses "außen" aber selbst Teil der kapitalistischen Wirtschaft, so dass schließlich kein "außen" mehr übrig ist. Heute gehen Marxisten allerdings davon aus, dass das Kapital in der Lage ist, seine eigene Nachfrage zu schaffen und in diesem Punkt nicht auf nichtkapitalistische Räume angewiesen ist.
Henryk Grossmann geht von einer eigenen Version des Marxschen Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate aus. Der Kapitalismus muss schließlich zusammenbrechen, weil die durch den technischen Fortschritt erforderlichen Investitionen größer sind, als insgesamt produziert werden kann (siehe ausführliche Darstellung unter Henryk Grossmann).
Neben mangelnder Nachfrage (Luxemburg) oder mangelndem Mehrwert (Grossmann) kommen auch andere Zusammenbruchsgründe in Frage, etwa die zunehmende Verelendung der Arbeitermassen oder Bewusstseinsprozesse derselben.
Kritiker von Zusammenbruchstheorien lehnen ein deterministisches Zusammenbruchsgesetz ab. Die Geschichte habe gezeigt, dass sie nicht deterministisch verläuft, dass also auch regelmäßige Krisen und große Krisen nicht notwendig zu einem Zusammenbruch führen müssen. So bestreiten diese Marxisten auch, dass sich aus der Theorie von Karl Marx eine Zusammenbruchstheorie ableiten lässt, auch wenn sich einzelne Aussagen bei Marx und Engels vielleicht finden lassen, die anzuzeigen scheinen, dass beide an einen nahen Zusammenbruch zumindest zeitweise geglaubt haben.
Literatur
- Henryk Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Leipzig 1929
- Neuausgabe: Archiv sozialistischer Literatur 8, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1970, ISBN 3-8015-0065-9
- Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Westfälisches Dampfboot, Münster 2003, ISBN 3-89691-454-5
- Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals - Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin 1923.
- Oliver Nachtwey: Weltmarkt und Imperialismus - Zur Entstehungsgeschichte der klassischen marxistischen Imperialismustheorie. ISP Wissenschaft & Forschung 21. Köln 2005. ISBN 3-89900-021-8