Leslie Kaplan, Fever Das englische Wort (deutsch: Fieber) dient im französischen Original und in der deutschen Ausgabe als Titel. Übersetzt von Sonja Finck. Berlin: Berlin-Verlag, 2006, 207 S. ISBN 3-8270-0628-7
Ich saß hinterm Schreibtisch und machte meine Sachen (Adolf Eichmann)
Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen. (derselbe)
Inhalt
Das Buch ist ein philosophischer Adoleszenz-Roman. Zwei Klassenkameraden ermorden in Paris eine junge Frau, gefunden nach dem Zufallsprinzip, ohne jedes Motiv. Zunehmend belastet die Tat sie. Vom Unterricht angestoßen, wollen sie die Geheimnisse ihrer Großeltern aus der Zeit der deutschen Besetzung (1940 – 1944) des Landes enträtseln, jedoch Pierres Großvater schweigt eisern. Damiens Opa, in der Kollaboration ein junger Beamter, weicht allen konkreten Nachfragen aus. Die Jungen beschäftigen sich nun mit den Deportationen von Juden in die Vernichtungslager im Osten und mit dem Papon-Prozess Ende der 90er Jahre. Sie lesen Zeugnisse über junge jüdische Opfer der Kollaboration und stoßen auf die Wannsee-Konferenz, den gesamteuropäischen Mordplan der Nazis und der Wehrmacht, und Hannah Arendts Eichmann-Buch. Das Schweigen der Großväter und ihre Beschäftigung mit den Tätern des deutschen Judenmordes lassen sie immer mehr in Alpträume und Angst geraten. Wie verrückt laufen sie im Quartier Montparnasse herum, auf der Flucht vor sich selbst und vor der familiären Vergangenheit, während sie zugleich erfolgreich das Abitur ablegen.
Die Schule, die Philosophie
In Fever werden die letzten drei Monate einer Klasse vor dem Abitur erzählt, mit Schwerpunkt auf dem Fach Philosophie, weiterhin Geschichte und Englisch. Im Unterricht der beliebten Philosophie-Lehrerin, die äußerlich dem Mordopfer ähnelt, wird lebhaft diskutiert, über Hannah Arendt, über den Zufall im Leben und in der Psychologie (Freud).
Als die Jungen den Mord planten, im Herbst zuvor, sollte es ein Experiment sein: den Zufall für sich arbeiten lassen, frei sein. Nach dem Mord allerdings ziehen sich die beiden immer mehr aus der Klassengemeinschaft zurück, ihre zeit-intensive Beschäftigung mit der Shoa und ihre Verrücktheit stören die Kommunikation mit den anderen.
In der Schule gibt es viele Anspielungen auf Figuren der Literatur- und Geistesgeschichte. Der Unterricht in der Abschlussklasse ist anspruchsvoll, die jungen Menschen sind meistens begeistert.
Jugend, die Adoleszenz, die Frauen
Die beiden Hauptfiguren benehmen sich oft pubertär, schon der lange geplante Mord sieht zunächst aus wie ein aus dem Gleis geratener Dummer-Jungen-Streich. Besonders am Verhältnis zu Frauen zeigt sich, dass ihnen die Einfühlung in andere Menschen fehlt. Ihr Verhalten zur Lehrerin schwankt zwischen erotisch gefärbter Anziehung und Angst vor ihrer Überlegenheit. Im Unterbewusstsein lauert eine Geringschätzung von Frauen, einmal stellen sie Frauen mit „Juden“ gleich. – Im Gegensatz dazu zeichnet Kaplan Mitschüler(innen) und eine andere Gleichaltrige sehr positiv und lebendig. Eine Nebenfigur, Yves, hat eine (längst nicht so schlimme) Untat begangen, er hat einen Lehrer aus dem Fenster gehängt, er ist sozusagen eine proletarische Variante der beiden Jungen. An diesen Stellen reflektiert Kaplan, mit den Worten des arbeitslosen Vaters von Yves, über den Sinn der Arbeit, ihr literarisches Hauptthema seit dem ersten Werk Exzess.
Paris Montparnasse, der Song Fever, Familie, Generationen
Fever ist auch ein Paris-Roman , vor allem über das Quartier Montparnasse. Die Jungen laufen viel herum, das tägliche Leben der Einwohner, Läden, Parks und Friedhöfe werden geschildert. Es überwiegt, von den beiden Tätern abgesehen, eine heitere Grundstimmung, die vor allem der titelgebende Song Fever markiert. Deshalb dient dieses englische Wort auch für beide Sprachversionen (das Original und die Übersetzung) als Titel. Der Song kommt immer wieder vor, er ist das Symbol für die hier vorgestellte Generation, und auch für die ihrer Eltern.
Wir blicken in die Familien der Täter, die äußerlich einen Drei-Generationen-Zusammenhang bewahren, mit regelmäßigen Anlässen, zum Beispiel Sonntagsessen. Auffallend farblos bleiben die Eltern der beiden Täter, sie sind ja das Bindeglied zwischen den Großvätern, die den Generationszusammenhang durch (Ver-)Schweigen unterbrechen, und den Jungen. Die Väter sind nur an Arbeit interessiert, die Mutter Damiens lebt eine traditionelle Frauenrolle aus (Kochen, Erotik), Pierres Mutter ist labil, sie gerät schnell in Wut über Kleinigkeiten. Kaplan zeigt, dass schon für die Elterngeneration die familiäre Tradition, eine Weitergabe von Lebenserfahrungen, unterbrochen war. Die Eltern konnten das noch aktivistisch verdecken. Erst bei den Enkeln wird die Leere, welche die Nazi-Verbrechen erzeugten, ganz offen sichtbar.
Judentum
Pierres Familie ist jüdischer Herkunft. Alle Blutsverwandten des Großvater Elie haben die Nazis in Galizien ermordet. Auch seine spätere Frau war deportiert worden, sie hatte aber überlebt. In der Wohnung leben drei Generationen zusammen, es ist unruhig.
Was bedeutet das Judentum dieser Familie in Fever? Es heißt zunächst: Erinnerung an das Leid. Oft überträgt der schweigende Großvater eine diffuse Traurigkeit auf Pierre. Das Trauma des Elie ist sehr groß, er fühlt sich wie im Exil, bisweilen empfindet auch der Enkel so: einsam, verlassen. Elie erinnert den Enkel an den ewigen Juden, der ruhelos durch die Welt streift. Das Buch liegt herum, Pierre hat es nicht gelesen. Und im Teeladen, den seine Großmutter und Mutter gemeinsam betreiben, hängt ein Talmud-Spruch an der Wand, der besagt, dass der Mensch nicht nur für sich allein lebt. Im Ganzen also ein wenig formelles Judentum, ungebunden, humanistisch, wie bei Spinoza, diesem kränklichen, lebensfrohen Juden, den seine Gemeinde der Theologie wegen hinausgeworfen hatte. Mit ihm hatte sich Pierre in der Schule gerne beschäftigt.
Die Kollaboration: Papon, Vichy
Damiens Großvater verweigert seinem Enkel eine Auskunft darüber, was er als junger Mann gedacht hatte, und wie konkret er in Deportations-Verbrechen verwickelt gewesen sein könnte. Die beiden Jungen vermuten Böses, können aber nichts heraus bekommen. Diese Verweigerung treibt sie mehr als ein mögliches Schuldbekenntnis in den Wahn. Wegen der gestörten Kommunikation greifen sie zu schriftlichen Quellen, erst aus dem Papon-Prozess, dann zum Eichmann-Buch. Aber gerade diese Lektüre lässt sie immer verzweifelter werden, wie versteht man jene Welt, in der tagtäglich und überall das Böse herrschte? Schließlich merken sie, dass auch ihre eigene Tat zur Reihe des Bösen in der Geschichte gehört. Das wird symbolisiert durch die Figur eines Eichmann-ähnlichen, schmutzigen Clowns, der Damien in Alpträumen heimsucht. War es gar nicht der Zufall, sondern die Vergangenheit ihrer Familien, die sie unbewußt zum Mord trieb?
Kaplan schildert sechs konkrete Fälle aus dem Prozeß gegen Papon, welche die Verantwortungslosigkeit dieses Karriere-Bürokraten, aber auch kleinerer Figuren, Polizisten, Verwalter, zeigen. Mit den bisher unbekannten Fallgeschichten wird den Opfern ein Denkmal gesetzt. Kaplan meint, dass der einzelne durchaus Handlungsräume hatte. Jeder konnte sich in der schlimmsten Situation, während der Okkupation oder bei der Deportation, menschlich –oder eben mörderisch- zu zeigen. Sie gibt auch Beispiele der erfolgreichen Hilfe für Juden.
Eichmann, die Wannsee-Konferenz, Hannah Arendt
Durch den Papon-Prozeß und die Lektüre in der Schule stoßen die Jungen auf die Figur des Adolf Eichmann, über dessen Darstellung durch Hannah Arendt bis heute Kontroversen bestehen (siehe dazu von ihr selbst: Das Böse. München: Piper, 2006). Seine Äußerung im Jerusalemer Prozess ...und ich sah Heydrich rauchen und trinken über seine Rolle bei der Wannsee-Konferenz zeigt sein Karriere-Streben, der Satz wird schließlich zum „Passwort“ in der Kommunikation der Jungen, die immer oberflächlicher wird. Fever ist in wesentlichen Teilen ein Palimpsest, ein literarisch-fiktives Überschreiben des Eichmann-Buchs. Auch Arendt-Gedanken aus anderen Büchern werden in Fever zitiert (siehe dazu: Weblinks).
Eichmann war ein karrierebewusster, gewissenloser Schreibtischtäter, der begeistert die Aufgabe übernahm, die europaweiten Eisenbahnzüge in die Vernichtungslager auszulasten und zu organisieren. Er behauptete, den Anblick der Mordtaten, zu dem ihn sein Vorgesetzter Heinrich Müller bisweilen in Ostpolen nötigte, schlecht verkraftet zu haben. Zur Abwehr minimaler Zweifel, die er gehabt haben könnte, schuf er sich eine von der Realität getrennte Scheinwelt aus Klischees, Sprachregelungen, welche die Nazis und die Kollaborateure erfunden hatten, eine Phantastik, die Eichmann bis zur Minute seiner Hinrichtung aufrecht erhielt.
Kaplan schließt mit Arendt: die Welt wird solange lebenswert sein, wie es Menschen gibt, die sich dem herrschenden Trend entgegen stellen. Auch in einer Umgebung tiefster Finsternis, wie der deutschen Herrschaft über Europa, lässt sich Menschlichkeit bewahren und Widerstand leisten, so, wie es die Regierungen bestimmter Länder (Dänemark, Bulgarien) gegen das Deportations-Verlangen der Deutschen gemacht haben.
Rezeption von Fever
Das Buch informiert auf einem hohen Sprachniveau über das Kapitel Judenvernichtung in der jüngsten Geschichte und ihre Nachwirkung bis heute. Es verwendet die dafür seltene fiktionale Romanform, nicht das übliche Mittel der (Auto-) Biographie.
Das Werk erhält für seine Übersetzung den André-Gide-Preis 2006, der auch seine Bedeutung im deutsch-französischen Kontext würdigt.
Ergänzend wird man sich mit der Frage der Besetzung Frankreichs (Occupation), der Kollaboration großer Teile des Staatsapparates, beschäftigen. Frankreich war aus historischen und soziologischen Gründen, dem engen Zusammenhalt der Eliten, dem Algerien-Krieg, dem Kalten Krieg erst sehr spät, seit 1987 (Barbie-Prozess), bereit, seine aktive Beteiligung an den Naziverbrechen, insbesondere der Deportation, in weiteren Kreisen zur Kenntnis zu nehmen und zu bearbeiten. Es dauerte z.B. über sieben Jahre nach dem Abschluss des Papon-Prozesses, bis der Oberste Gerichtshof in Paris im Februar 2006 erlaubte, dass umfangreiche Filmaufnahmen daraus ab Herbst 2006 der Öffentlichkeit in insgesamt 40 Teilen dauerhaft zur Verfügung stehen werden.
Weblinks
- Zu Arendts/Kaplans Wortwahl „Banalität des Bösen“ [1]
- Unterrichtsmaterial (Frz.) aus der Europaschule Brüssel 3, für vorletzte Abiturklassen (Französisch als Muttersprache): [2] Leslie Kaplan
- Wissenschaftliche Erörterung und viele Literaturhinweise zur Schamabwehr in der beteiligten Generation gegenüber den Nachgeborenen, auch für den pädagogischen Bereich, unter: [3]
- Zu den Schwierigkeiten Frankreichs im Umgang mit der Vergangenheit, vor allem Vichy und dem Algerien-Krieg, ist informativ: [4]
- Info über den Papon-Prozess: [5](deutsch) oder: Frankreich-Lexikon, Hg. Bernhard Schmidt u.a., Artikel „Affaires....Papon“, und andere Artikel; 2. Aufl., Erich Schmidt Verlag Berlin, 2005
- Ausführliches Dossier über Papon und die Prozesse in frz.: [6]>Dossiers >Dossiers précédents >Le Procès Papon, dort auch große Bibliographie, Gerichtsbeschluss vom Febr. 2006 über die dauerhafte Veröffentlichung von Aufnahmen aus dem Prozess (>Publication judiciaire de Fevr. 2006)
Die Autorin über diesen Roman
Die Autorin äußerte sich im Gespräch mit einer jungen Leserin 2005 zu diesem Buch, ihre Anmerkungen erleichtern das Verständnis des Romans.
Für mich bedeutet „schreiben”, danach zu streben, dass ich die ganze Wirklichkeit darstelle.
Was veranlasst Sie zum Schreiben?
Für mich ist Schreiben eine Art und Weise, ein Echo der Welt zu schaffen, es ist eine besondere Art zu denken. Ich habe viele Fragen im Kopf, alle möglichen Fragen, und meine eigene Art, wie ich mich dabei mit mir selbst befasse, das bedeutet: „Schreiben“. Es ist meine Art und Weise, in einem bestimmten Augenblick über die Welt nachzudenken.
Es ist tatsächlich so, dass ich immer literarische Texte gelesen habe, ob als Kind, als Jugendliche und natürlich auch als Erwachsene. In der Literatur fand ich einen Weg, in einem Zug sowohl die Welt zu befragen, als auch ihr zu antworten.
Wie sehen Sie heutzutage auf Ihre eigenen Kinder, bzw. auf Ihre Neffen und Nichten? Passt „Fever“ denn zu dem, was Sie dort mitbekommen?
Die Jugendlichen, die ich in „Fever“ beschreibe, sind meiner Meinung nach, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind, die Produkte einer vergangenen Welt. Ich glaube weiter, ihr Verhalten leitet sich ab aus dem Schweigen, das auf der Vergangenheit lastet. Was meine eigenen Kinder angeht, so ist dieses Schweigen hoffentlich nicht zu stark, so sehe ich das.
Was sind denn das für Menschen, diese beiden, Damien und Pierre? Sind sie nicht typisch für Heranwachsende aus solchen Familien, welche durch soziale Veränderungen in den Pariser Quartieren (eine gewisse Yuppisierung) in eine neue Lage gerieten?
Nein. Sie wohnen im Quartier Montparnasse, man kann sie sozial gut verorten. Die Gewalt, die in ihnen wütet, kommt in Wirklichkeit von ganz anderen Dingen. Ich stelle mir vor, dass es in Pierres Familie, einer Familie von jüdischen Flüchtlingen, überhaupt keine Yuppies gab. Die ungelösten Fragen, die mit der Judenvernichtung und mit dem Vichy-Regime zusammen hängen, gehen meiner Meinung nach alle sozialen Schichten etwas an.
In den 50er bis 70er Jahren war es für eine jüdische Familie ausgeschlossen, über die Shoa zu sprechen. Aus welchem Grund kamen diese Dinge dann später doch ans Licht?
Die Antwort ist schwierig. In einigen Familien hat man schon darüber geredet, meistens jedoch herrschte Schweigen. Es gibt viele Gründe dafür, dass diese Dinge dann ausgesprochen wurden. Das war in erster Linie das Nachrücken einer jungen Generation; dann die Zeit, die man brauchte, sich damit zu beschäftigen. Ich erinnere an den Film von Claude Lanzmann „Shoa“, aus dem Jahr 1986, an den vor allem. Aus einer anderen Perspektive hat es „Das Haus nebenan“ (Le chagrin et la pitié, von Marcel Ophüls) gegeben, einen Film, der übrigens in der ersten Zeit verboten war. Er zeigte ja die Kollaboration in Frankreich, das heißt, er zerstörte das Märchen der Gaullisten, dass ganz Frankreich im Widerstand gewesen sei. Meiner Meinung nach gab es zeitlich mehrere Wellen des Hinterfragens.
Ist der Roman „Fever“ nicht auch ein Versuch, die Schicksale von Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs weiter bekannt zu machen ?
Ja, aber nicht nur das. Er ist tatsächlich eine Auseinandersetzung darüber, wie solche Traumata mitgeteilt werden können, die ja viel tiefer gehen als sonstige schlimme Schicksale. Andererseits soll der Roman aber nicht allein über jüdische Familien berichten, er thematisiert auch das Familienleben im nichtjüdischen Frankreich.
Wenn wir uns den 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten ansehen: wie schätzen Sie die Überlieferung der Shoa heute ein?
Ich würde sagen, im großen Ganzen gibt es Fortschritte in der Frage der Überlieferung. Andererseits denke ich: es gibt in der heutigen Gesellschaft Frankreichs Wirkungen und Verzweigungen, die oft nicht genug berücksichtigt werden, und die kräftig fortwirken. Im Roman „Fever“ gibt es einen anderen Heranwachsenden, Yves, den Sohn eines Arbeitslosen. Yves ist nahe daran, ein Verbrechen zu begehen, und es gibt einen Hinweis auf seinen Vater, auf dessen verzweifelte Lage. Für mich selbst existiert auch eine Verbindung zwischen dieser Gesellschaft, in der wir auf einer Grundlage von Ausbeutung leben, der Industriegesellschaft, und totalitären Abweichungen.
Aus welchem Grund stellen Sie in diesem Buch eine Verbindung her zwischen den Jahren der Rockmusik (den 70ern) und der Deportation der Jüdinnen und Juden?
Ich sehe da ja keinen direkten Zusammenhang. Ich selbst liebe die Rockmusik der 60/70er Jahre, oder den Jazz, da gibt es keinen direkten Bezug zur Deportation. Aber es gibt die Idee, dass der Wille zum Verbrechen durchaus im Zusammenhang steht mit den Frauen, zur Sexualität, also all den Dingen, die in dem Chanson Fever eine Rolle spielen, und weiteres.
Was bedeutet denn dieses Kostüm aus Morbidität, Mord und Totschlag? Warum schreibt man immer über die Hässlichkeit des Lebens, und nicht über seine Schönheit?
Für mich heißt „schreiben“, dass ich versuche, über die ganze Wirklichkeit zu schreiben, und damit natürlich auch über ihre schlechte Seite. Ich hoffe aber, dass in meinen Büchern auch die lustige Seite der Wirklichkeit vorkommt, die heitere und schöne Seite.
Ist es nicht schwierig, über die Adoleszenz mit dem Abstand eines Erwachsenen zu schreiben?
Im Gegenteil, nein, ich meine, dass die Adoleszenz ein Thema für mich ist.
Bei Ihrer Erfahrung als Schriftstellerin, erleben Sie es da nicht manchmal, dass die Figuren sich über Sie erheben, dass die scheinbar ihre eigene Geschichte schreiben wollen?
Ich denke, dass das literarische Schreiben oftmals ein Spiel ist, zwischen mir selbst und der Figur, die ja eine Art von Projektion darstellt. In der Literatur, die mich berührt, werden die Figuren ernst genommen, man fragt sich wirklich: Wer ist das? Was hat er vor? Was denkt er sich? Und das ist ja auch ein Weg, sich selbst zu befragen.
Würden Sie sagen, dass Sie als Schriftstellerin in ihren Romanen eine Botschaft übermitteln? In einem Interview haben Sie gesagt „Ich bin mir seit kurzem darüber im Klaren: eine Schriftstellerin zu sein bedeutet, dass man seine Bücher mit Leidenschaft schreibt“. Für die Leser, für sich selbst?
Ich sehe das so: Im Prozess des Schreibens stellt sich mir diese Frage nicht. Das Buch, das man schreiben will, tritt zugleich wie ein Zwang auf, denn man fühlt, dass manche Dinge unbedingt mitgeteilt werden müssen, und auch, dass dies ein Weg ist, anderen Menschen zu begegnen. Wenn man das Schreiben für die Anderen wie eine Projektion aus sich heraus betrachtet, wird das literarische Schreiben dann nicht zu einer Art Narzissmus?
Dagegen gibt es kein Rezept. Ich versuche, ein Abbild der äußeren Welt zu geben, aber selbstverständlich kann man in seinen eigenen Fragen befangen sein. Mir scheint, erst das fertige Buch zeigt, ob man große, weltbewegende Fragen gestellt hat, oder ob man nur Entwürfe, die aus einem selbst heraus kommen, in den Raum gestellt hat.
Sie standen auch einmal an einem Arbeitsplatz, genau wie Robert Linhart. Sie sprechen positiv über diese Zeit, aber er selbst ist da nicht wirklich gut rausgekommen. Meinen Sie, dass man diesen Versuch noch einmal wagen sollte?
In seinem Buch „Eingespannt. Erzählungen aus dem Inneren des Motors“ schreibt Linhart keineswegs negativ über seine Erfahrungen. Dieses Experiment ist schon an sich äußerst wichtig gewesen. Aber sicherlich kann die Arbeit in Fabriken auch trostlos sein.