Rheinische Republik
Unter der Rheinische Republik versteht man die kurzlebige Staatsgründung separatistischer Bewegungen im Rheinland des Jahres 1923.
Die Zielsetzungen der unterschiedlichen separatistischen Gruppierungen reichten von einer Veränderung der politischen Stellung des Rheinlandes innerhalb des deutschen Reiches als Frei- oder Bundesstaat bis hin zur völligen Abspaltung des Rheinlands und in Folge dessen die Gründung einer eigenständigen "Rheinischen Republik". Weitere Gruppierungen votierten für den direkten Anschluß an Frankreich. Gleichartige politische Strömungen zeigten sich auch in der Pfalz und führten dort etwa zeitgleich zur Gründung der "Pfälzischen Republik".
Die Angehörigen der Gruppierung wurden Separatisten oder Freibündler genannt.
Vorgeschichte
Als Ergebnis des Wiener Kongresses von 1815 waren die Rheinprovinz und Westfalen in den Herrschaftsbereich Preußens einbezogen worden. Die Eingliederung blieb stets problematisch, da sowohl das Rheinland als auch Westfalen an dem Zivil- und Handelsrecht, den Handelskammern und der Gemeindeverfassung festhielten, die von den napoleonischen Franzosen eingeführt worden waren. Die mehrheitlich katholische Bevölkerung empfand ihre Situation noch nach mehr als einhundert Jahren als "protestantische Fremdherrschaft".
So drückte sich im Jahre 1919 Konrad Adenauer aus, als er am 1. Februar mehr als sechzig Oberbürgermeister und Abgeordnete der Nationalversammlung und der preußischen Landesversammlung zu einem Treffen nach Köln einlud. Adenauer war zu dieser Zeit Oberbürgermeister von Köln und gehörte der Zentrumspartei an. Erster und einziger Tagesordnungspunkt der Zusammenkunft war "Die Gründung der Rheinischen Republik".
In seiner Ansprache bezeichnete Adenauer das Scheitern der Hegemonialmacht Preußens als "notwendige Folge" des preußischen Systems ansich. In der Ansicht seiner Gegner sei Preußen "der böse Geist Europas" und werde "von einer kriegslüsternen, gewissenlosen militärischen Kaste und dem Junkertum beherrscht". Folglich sei eine hegemoniale Vormachtstellung Preußens für die anderen deutschen Bundesstaaten nicht weiter tragbar. Preußen solle geteilt werden und dessen westliche Bundesstaaten in einer "Westdeutschen Republik" aufgehen. Dadurch würde "die Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geiste des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht". Dennoch strebte Adenauer den Verbleib der "Westdeutschen Republik" im Staatenverband des Deutschen Reiches an.
Seperatistenbildung
Letztlich wurde in einer Zwei-Punkte Resolution festgestellt, daß auch für das Rheinland und die Rheinländer das politische Selbstbestimmungsrecht zu gelten habe. Die Ausrufung der rheinischen bzw. westdeutschen Republik wurde als Übergangslösung für den Fall vorbehalten, daß der Staat Preußen aufgeteilt werde. Auf diese Weise sollte eine praktikable Lösung der Reparationen mit den Siegermächten gefunden werden.
In der Folgezeit bildeten sich in vielen Städten und Gemeinden separatistische Bewegungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen heraus.
Ausruf der Republik in Wiesbaden
Am 1. Juni 1919 rief der Staatsanwalt Dr. Hans Adam Dorten in Wiesbaden eine "selbstständige rheinische Republik" aus. Es fanden auch gewaltlose Putschversuche in Mainz, Speyer und anderen Städten statt, die kurzfristig an ihrer dilettantischen Organisation und der Ablehnung in der Bevölkerung und Verwaltung scheiterten.
Im Laufe der folgenden Jahre verschlechterte sich die allgemeine wirtschaftliche Lage in allen Teilen des deutschen Reiches, das von zahlreichen Krisen und politischen Umbruchsversuchen geschüttelt wurde.
Besetzung des Ruhrgebiets
Die deutsche Regierung geriet bei der Zahlung der Reparationen in Rückstand. Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, das eine der wirtschaftlichen Hauptlasten an den Reparationen zu tragen hatte. In der Folge der turbulenten Auseinandersetzungen kamen im Ruhrgebiet mehr als einhundert Menschen ums Leben. Mindestens 70.000 Personen wurden aus den besetzten Gebieten ausgewiesen und durch französische und belgische Arbeitskräfte ersetzt. Ihren Lebensunterhalt bestritten die vorwiegend jungen Männer von der "Ruhrhülfe", die von der Reichsregierung für die Ausgewiesenen ausgezahlt wurde. Viele von ihnen lebten ohne festen Wohnsitz und manche schlossen sich unterschiedlichen separatistischen Gruppierungen an, die im Rheinland agitierten. Für die Bevölkerung boten sie in ihrer Verwahrlosung ein abschreckendes Bild und genossen den Ruf als "Rumtreiber" und "arbeitsscheues Diebsgesindel".
Bewegungen in Koblenz und Aachen
Am 15. August 1923 fanden sich in Koblenz unterschiedliche separatistische Bewegungen zusammen und gründeten die "Vereinigte Rheinische Bewegung". Eine wohlwollende Billigung durch die französische Verwaltung ist anzunehmen. Ziel dieser Bewegung war nun ausdrücklich die komplette Abspaltung der Rheinlande von Preußen und die Errichtung einer Rheinischen Republik unter französischem Protektorat. Die Sache der Republik sollte durch öffentliche Kundgebungen und Versammlungen in allen rheinischen Städten vorangebracht werden.
Überraschend bestetzten am 21. Oktober 1923 Separatisten unter der Führung von Leo Deckers das Aachener Rathaus und riefen dort die rheinische Republik aus. In den nächsten Tagen erfolgten Umsturzversuche in vielen rheinischen Städten nach ähnlichem Muster: Die lokalen Verwaltungsgebäude wurden besetzt, die bestehende Verwaltung ausser Kraft gesetzt und vertrieben. Die grün-weiß-rote Flagge der rheinischen Republik wurde gehisst und die neue Verwaltung setzte die Bevölkerung mittels öffentlicher Anschläge und Flugblättern über die veränderte Situation in Kenntnis. Die neuen Regierungen konnten sich nicht überall durchsetzen. Manche Gegenden blieben an den Geschehnissen völlig unbeteiligt.
In Koblenz, der Hauptstadt der damaligen preußischen Rheinprovinz, versuchten die Separatisten seit dem 21.10. die Macht zu übernehmen. Es kam in den folgenden Tagen zu zahlreichen "Handgreiflichkeiten" mit der Ortspolizei und der Bürgerschaft. In der Nacht des 23. Oktober bestetzen die Separatisten mit Unterstützung des französischen Militärs das Koblenzer Schloss, mussten es auf Druck des Oberbürgermeisters Dr. Russel und der Ortspolizei wieder räumen und besetzten das Schloss in der folgenden Nacht erneut.
Am 26. Oktober bestätigte der französische Oberkomissar der Rheinlandkomission, Tirard, die Separatisten als "Inhaber der tatsächlichen Macht". Sie sollten "unter selbstverständlicher Achtung der bestehenden Autorität der Besatzungsbehörde (...) alle notwendigen Maßnahmen" einleiten. Dr. Hans Adam Dorten und der Redakteur Josef Friedrich Matthes erhielten hierfür die Generalvollmachten. Ein Regierungskabinett wurde gebildet und dessen designierter Vorsitzender J. F. Matthes war somit "Ministerpräsident der rheinischen Republik".
Die Macht der neuen Regierung stützte sich im Wesentlichen auf den Schutz und die Finanzierung der französischen Besatzer und auf die "Rheinland-Schutztruppen", welche sich zu großen Teilen aus den Ausgewiesenen des Ruhrgebietes rekrutierte. Die Truppenangehörigen, meist ohne militärische Ausbildung und sehr schlecht ausgerüstet, setzten die Verordnungen der neuen Regierung allerorten teils gewalttätig durch. Ein nächtliches Ausgehverbot wurde verhängt und die Pressefreiheit massiv eingeschränkt. Wenn es örtlich an klaren Richtlinien fehlte, wurden kurzerhand aus dem Stehgreif Verordnungen erlassen. Die Regierung erhielt keine nennenswerte Unterstützung des lokalen Verwaltungspersonals, das häufig den neuen Amtseid verweigerte oder der Arbeit ganz fernblieb. Die Bevölkerung verhielt sich abwartend und verschlossen aufgrund der französischen Militärpräsenz.
Das Kabinett in Koblenz war oft zerstritten und seine Verordnungen verwirrend. Zwischen Dorten und Matthes kam es oft zu "Rivalitäten". Die französischen Machthaber gingen zusehends auf Distanz und schränkten die finanziellen Zuwendungen stark ein. Rheinisches Papiergeld wurde ausgegeben und schließlich ordnete die Regierung "Requirierungen" im ganzen Land an. Damit setzte eine massive Welle von Plünderungen durch die "Rheinland-Schutztruppen" ein, die weit über das Ziel der Lebensmittelbeschaffung hinausgingen. Die Situation entglitt in Willkür und Chaos und verlief in den einzelnen Städten und Gemeinden unterschiedlich. In der Zivilbevölkerung regte sich zunehmend Unmut und Widerstand, der durch das französische Militär im Zaum gehalten wurde.
In den ersten Novembertagen ordnete der belgische Hochkomissar Baron Rolin-Jaquemyns die Vertreibung der Aachener Separatistenregierung an. Der Machtbereich der Koblenzer Regierung schränkte sich immer weiter ein.
Aufstand im Siebengebirge
Die "Rheinischen Schutztruppen" fuhren auf Lastkraftwagen umher und setzten ihre Requirierungen willkürlich fort. In den Ortschaften des Siebengebirges entschlossen sich die Bürger zum offenen Widerstand, an dem sich viele ehemalige Kriegsteilnehmer und Offiziere beteiligten. Strategische Punkte wurden von Bewaffneten besetzt um sich den Requirierungen in den Weg zu stellen.
Da die Separatisten unvorgesehen ihre Pläne änderten eskalierten die Ereignisse und im Laufe des 16. November kam es zur "Schlacht von Aegidienberg":
Mehrere mit Separatisten besetzte LKW wurden von den Widerständlern in die Enge getrieben, nahmen in Aegidienberg mehrere Männer als Geiseln und stellten sie gefesselt in die Schußlinie gegen die nachrückenden Waffenträger. Die aufgebrachte Bevölkerung wehrte sich mit Heugabeln, Knüppeln und Äxten. Zwei Einwohner und 14 Separatisten kamen ums Leben. Die Separatisten wurden auf dem Aegidienberger Friedhof in einem Massengrab ohne Namensnennung bestattet. Zeitgenossen zufolge stammten sie aus der Gegend von Kevelaer und Krefeld. Genauere Angaben finden sich vielleicht in französischen Archiven, da die französische Militärpolizei die nachfolgenden Ermittlungen anstellte. Theodor Weinz (* 15. August 1858), einer der getöteten Einheimischen, ist direkt am Friedhofseingang in Aegidienberg begraben.
Für den nächsten Tag beschlossen die Widerständler die endgültige Vernichtung der separatistischen Truppen. Dies wurde durch das französische Militär verhindert, das die Flüchtenden verhaftete, nach Trier verbrachte und sie vor französische Gerichte stellte.
Das Koblenzer Kabinett spaltete sich in der Folge in zwei Lager auf. Die Regierungen wurden aus den Rathäusern vertrieben und teilweise vom französischen Militär verhaftet. Josef Friedrich Deckers trat am 27. November von seinen Ämtern zurück. Dr. Hans Adam Dorten begab sich nach Bad Ems, agitierte von dort aus erfolglos weiter und beteiligte sich wohl auch aktiv an den Geschehnissen in der "Pfälzer Republk", die noch bis ins Jahr 1924 bestand.
In vereinzelten Ortschaften des Rheinlands regierten die separatistischen Bürgermeister noch bis in den Dezember hinein, wurden abgewählt oder mussten ihr Handeln vor Ausschüssen und Gerichten verantworten.
Konrad Adenauer, der mit Dr. Hans Adam Dorten stets in tiefem Gegensatz gelegen hatte und an der "Rheinischen Republik" aktiv unbeteiligt war, unterbreitete im Dezember der französischen Generalität einen weiteren Vorschlag zur Bildung eines "Autonomen westdeutschen Bundesstaates". Weder die französische noch die deutsche Regierung konnten sich mit den Vorschlägen anfreunden.
Am 30. Dezember 1923 fand eine Vertreterversammlung der rheinischen Parteien, Gewerkschaften, Kammern und Gemeinden statt und es wurde die Einleitung von Verhandlungen zur Bildung einer "Rheinischen Republik" beschlossen.
Der Nationalsozialismus und die Rheinische Republik
Der Widerstand der Bevölkerung wurde später von den Nationalsozialisten zum Fanal treudeutscher Gesinnung hochstilisiert. Im Siebengebirge wurde auf dem Berg Himmerich ein Denkmal errichtet, das nach 1945 geschleift wurde. In Aegidienberg befindet sich heute noch ein Denkmal, das an die getöteten und als Geiseln genommenen Einwohner erinnert. Das Vokabular der Inschrift ist ebenfalls recht markig und umstritten. Das Grab der Separatisten ist noch auf dem Gemeindefriedhof zu finden, sehr schlicht aber gepflegt.
Tatsächlich richtete sich der Widerstand der Bevölkerung vor allem gegen Willkür und Raub. Es beteiligten sich Anhänger aller politischen Richtungen "in erstaunlicher Gemeinsamkeit".