Sexualpädagogik

pädagogische Arbeit, die sich mit Fragen zur Sexualität beschäftigt
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Sexualpädagogik ist die pädagogische Arbeit, die sich mit Fragen zu Liebe, Gefühlen, Fortpflanzung, körperlicher Entwicklung, männlichem und weiblichem Körper, Erotik und allen Formen der Sexualität, sexueller Lust, Selbstbefriedigung sowie zum Erwachsenwerden beschäftigt.

Themen

Sexualerziehung und primäre Sexualinformation sind in erster Linie eine Aufgabe der Erziehung in der Familie. Darüber hinaus ist Sexualpädagogik eine Querschnittsaufgabe öffentlicher Bildung. Sie sollte in allen möglichen pädagogischen Einrichtungen, wie Kindergarten, Schule, Kinderheim, Freizeiteinrichtungen, in Jugendarbeit, Jugendhilfe und so weiter, angemessen eingebracht werden. Es gibt spezialisierte sexualpädagogische Einrichtungen, von denen international die bekannteste Pro Familia (Deutschland) ist. Informationsschriften für Kinder, Jugendliche und Eltern zu den wichtigsten Themen der Sexualpädagogik erhält man über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Zur Sexualpädagogik gehört außer der Wissensvermittlung zur menschlichen Sexualität (biologische, psychologische, kulturelle, soziale, politische, historische und so weiter = Sexualaufklärung) auch die Sexualerziehung, d. h. die Thematisierung von Werten und Normvorstellungen innerhalb der Gesellschaft. Wichtige Themen der Sexualpädagogik sind:

Ein durchgängiges Problem in der Sexualaufklärung ist die Reduktion der Perspektive auf Sexualität als Prävention (insbesondere vor Krankheiten, Schwangerschaft, sexueller Gewalt). Diese Sichtweise betont gefährliche und gefährdende Seiten der Sexualität, lustvolle, sinnliche und befriedigende Aspekte werden dagegen reduziert oder negiert.

Methodik

Angesichts der breitgefächerten Thematik und ihren vielfältigen Einsatzgebieten lässt sich die Methodik der Sexualpädagogik kaum eingrenzen. Die bekanntesten sind Aufklärungsschriften und -gespräche. Dabei geht es nicht alleine um die Vermittlung von Informationen, sondern auch um das Ernstnehmen der Gefühle. Hinzu kommen praktische Übungen, wie das spielerische Ausprobieren von Kondomen oder Aufgaben wie das Behüten eines Eies zum Erlernen von Verantwortung. Inzwischen kommen auch dem Internet und anderen neuen Medien eine besondere Aufgabe bei der Sexualpädagogik zu, da viele Kinder und Jugendliche diese Medien verstärkt nutzen.

Geschichtliche Entwicklung

Während die Geschlechtserziehung des 19. Jahrhunderts weitgehend sexualrepressiv arbeitete und vor allem versuchte, die Geschlechterrollen zu bewahren und Angst vor Sex zu erzeugen, bildeten sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Psychoanalyse und der Reformpädagogik liberalere Ansätze heraus, wobei beispielsweise Gustav Wyneken bis heute wegen seiner erotischen Beziehungen zu seinen Schützlingen umstritten ist. Mit Sigmund Freud entstanden auch erste Überlegungen zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern, die allerdings heute als wissenschaftlich überholt gelten.

Deutschland

Die Sexualpädagogik und Sexualethik unterlagen lange Zeit der Religionspädagogik: Der Kirchenlehrer Petrus Canisius betonte in „Summa doctrinae christianae“ 1555: „Wer vom Fleisch bestimmt ist und nach den Wünschen des Fleisches lebt, kann Gott nicht gefallen (Röm 8,8).“[1] Kardinal Carlo Borromeo verlautbarte in „Die christliche Erziehung“ 1583: „Der größte Feind der Jugend ist die Unenthaltsamkeit des Fleisches. Sie ist die Klippe, woran die unglücklichen Jünglinge meistens stranden und scheitern.“[1]

Eine Liberalisierung hatte in der menschen- wie sexualfeindlichen Erziehung im Nationalsozialismus keinen Platz.

Auch die Erziehung in der frühen Bundesrepublik Deutschland war weitgehend sexualrepressiv ausgelegt.

Der Katholische Katechismus der Bistümer Deutschlands von 1955 verlautbarte: „Die Unkeuschheit ist ein großes Unglück für den Menschen. Sie entweiht den Tempel des Heiligen Geistes und führt zu vielen anderen Sünden. Oft stürzt sie den Menschen in Krankheit, Elend und führt nicht selten zu einem unbußfertigen Tod.“[1]

Anstoß durch die 1968er Bewegung

Wilhelm Reich, die 68er-Bewegung und die Fürsprecher der antiautoritären Erziehung standen für eine Enttabuisierung in der Sexualpädagogik. Mit der sexuellen Revolution kam auch der Aufschwung der Frauen-, der Lesben- und Schwulenbewegung, für die diese Enttabuisierung Teil der politischen Praxis war, beispielsweise in der Kampagne zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder gegen den Paragraphen 175. Durch diesen Aufwind befangen, gab 1968 die Kultusministerkonferenz der Länder die Empfehlung heraus, Sexualerziehung fächerübergreifend in den Schulen zu behandeln und wies die Lehrerausbildungsinstitute an, den Sexualkundeunterricht in die Lehrerausbildung aufzunehmen.

Das Schulbuch Sexualkunde-Atlas wurde am 17. Juni 1969 als bundeseinheitliches Unterrichtsmittel für das neue Fach „Sexualkunde“ an Schulen vorgestellt. Schwerpunkt war die Sexualaufklärung. Anfang der 1970er Jahre wurde Sexualkunde in den meisten Schulen der Bundesrepublik Deutschland in den Lehrplan aufgenommen, obgleich sie meist sehr stark auf die biologischen Vorgänge der Sexualität fokussiert und die emotionalen beziehungsweise erotischen Bereiche ausgeklammert hat.

Durch den Gerichtsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts 1977, schulische Sexualerziehung habe sittlich zu wirken, ohne Wertung aufzutreten und sich auf Wissensvermittlung zu beschränken, und die Rückrufaktion einer weit verbreiteten Arbeitshilfe („Betrifft Sexualität“) trat eine allgemeine Verunsicherung der Pädagogen ein und die Sexualerziehung wurde wieder mehr der Familie überlassen.

Erst das Auftreten der Immunschwächekrankheit AIDS ab Mitte der 1980er Jahre und die feministische Bewegung haben deutlich gemacht, dass Sexualaufklärung notwendiger Bestandteil der Allgemeinbildung sein müsste. In der Weiterführung eines vom Bundesfamilienministerium geförderten Modellprojektes zur Entwicklung und Erprobung sexualpädagogischer Materialien wurde 1988 in Dortmund der Verein zur Förderung von Sexualpädagogik e. V. (Träger des Instituts für Sexualpädagogik) gegründet.

Zeit nach der Wiedervereinigung

Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 ist die Sexualerziehung in den Lehrplänen aller deutschen Bundesländer modernisiert worden. Schon vor der Wende war die DDR für ihre freizügigere Freikörperkultur bekannt. Heutzutage hat die Sexualerziehung in alle Lehrpläne der Bundesländer ihren Einzug gefunden. Dennoch spiegelt sich noch immer ein Nord/Süd-Gefälle (liberal-restriktiv) in den Themen der Sexualerziehung der Lehrpläne der Länder wider, vor allem in Hinsicht auf moralische und ethische Auffassungen.

Zu den heutigen Motiven gehört auch die körperliche Selbstbestimmung, die zum Beispiel im Theaterstück Mein Körper gehört mir! vermittelt werden soll. Zu den umstrittenen Bücher in der Sexualpädogik zählen Zeig mal! (1974), Lieben, Kuscheln, Schmusen (um 1994) und Körper, Liebe, Doktorspiele (2000), die heute nicht mehr verwendet werden. Sie wurden daher teilweise vom Markt genommen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ließ in vier Arbeitstreffen zwischen November 2008 und Dezember 2009 von unabhängigen Experten Leitlinien entwickeln. Sie legte im Jahre 2010 die „Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten“ vor. Es wurde in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation erarbeitet. Ausgehend von der Feststellung, dass ein Kind von Geburt an ein sexuelles Wesen sei, solle die Sexualausbildung bereits vor dem vierten Lebensjahr beginnen. Eine Matrix beschreibt, wann welche Kompetenzen vermittelt werden sollen.[2]

Das von Elisabeth Tuider 2008 veröffentlichte Buch Sexualpädagogik der Vielfalt erhielt in der zweiten Auflage 2014 eine Reihe öffentlicher Kritiken.[3][4][5] Unter anderem wurde hervorgehoben, dass die Autoren neben der üblichen Aufklärung auch praktische Übungen vorschlagen, durch die Kinder überfordert und verstört würden.[6][7] In Folge der Debatte distanzierten sich etliche Institutionen von Tuider/Timmermanns Buch, die es vorher in ihren Literaturlisten führten, beispielsweise die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Hamburger Lehrerverband oder das Akzeptanzprojekt SchLAu.[8]

Schweiz

In der französischen Schweiz werden im Gegensatz zur Deutschschweiz alle Klassen von externen Sexualpädagogen besucht, um Hemmschwellen gegenüber dem alltäglichen, und auch benotenden, Lehrpersonal zu überwinden.[9]

Aus-, Fort- und Weiterbildung

An der Hochschule Merseburg wird ein berufsbegleitendes Studienangebot Sexualpädagogik und Familienplanung angeboten, das einzige Hochschulstudium hierzu in Deutschland mit:

  • Masterstudiengang Sexualpädagogik und Familienplanung
  • Weiterbildender Studiengang Sexualpädagogik (Hochschulzertifikat)
  • Weiterbildender Studiengang Familienplanung (Hochschulzertifikat)

Dieses Studienangebot wurde zum konsekutiven Masterstudiengang „Angewandte Sexualwissenschaft“ weiterentwickelt. Der seit 2009 angebotene Teilzeit-Studiengang mit 120credits (kann berufsbegleitend studiert werden) richtet sich an AbsolventInnen eines humanwissenschaftlichen Erststudiums.

Ein Anbieter von Aus- und Weiterbildungen im Bereich Sexualpädagogik und sexuelle Bildung außerhalb des universitären Rahmens ist im deutschsprachigen Raum das Institut für Sexualpädagogik in Dortmund. Es bietet umfassende berufsbegleitende Qualifizierungen zum Sexualpädagogen an sowie themenbezogene Fachtage, Vorträge und Workshops, individuelle Projektberatung, Supervision und Teamentwicklung für alle pädagogischen Handlungsfelder und für Teile des Gesundheitswesens.

Der Begriff „Sexualpädagoge“ ist nicht geschützt. Die Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp) vergibt seit dem 1. Januar 2008 ein Qualitätssiegel für in der Sexualpädagogik Tätige.

Literatur

  • Manfred Berger: Sexualerziehung im Kindergarten. Brandes und Apsel, Frankfurt am Main 1988, 1994, ISBN 3-925798-37-4.
  • Lutz van Dijk: Die Geschichte von Liebe und Sex. Campus, Frankfurt am Main / New York, NY 2007, ISBN 978-3-593-37913-5.
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Forum Sexualaufklärung. Vierteljährliche Zeitschrift, online verfügbar
  • Petra Milhoffer, Andreas Gluszczynski, Ulrike Krettmann; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Sexualerziehung, die ankommt. Ein Leitfaden für Schule und außerschulische Jugendarbeit zur Sexualerziehung von Mädchen und Jungen in 3.–6. Klassen. (= Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung. Band 15). Köln 1999, ISBN 3-933191-25-4 (Download; PDF, 7,4 MB).
  • Senta Fricke, Michael Klotz, Peter Paulich: Sexualerziehung in der Praxis. Ein Handbuch für Pädagogen, Berater, Eltern und andere. Bund, 1986, ISBN 3-7663-0435-6.
  • Norbert Kellermann: Metamorphose – Sexuelle Sozialisation in der weiblichen Pubertät. Budrich UniPress, Opladen 2012, ISBN 978-3-86388-003-3.
  • Friedrich Koch: Negative und positive Sexualerziehung. Eine Analyse katholischer, evangelischer und überkonfessioneller Aufklärungsschriften. Heidelberg 1971.
  • Friedrich Koch: Sexualität, Erziehung und Gesellschaft. Von der geschlechtlichen Unterweisung zur emanzipatorischen Sexualpädagogik. Frankfurt am Main 2000.
  • Friedrich Koch: Sexualität und Erziehung. Zwischen Tabu, repressiver Entsublimierung und Emanzipation. In: Jahrbuch für Pädagogik 2008: 1968 und die neue Restauration. Frankfurt am Main 2009, S. 117 ff.
  • Petra Milhoffer: Wie sie sich fühlen, was sie sich wünschen. Eine empirische Studie über Mädchen und Jungen auf dem Weg in die Pubertät. Weinheim 2000. (Studie mit der Absicht, psychologische und sozial-kulturelle Grundlagen für eine kind-/jugendgerechte Sexualerziehung in der Schule und der außerschulischen Jugendarbeit zu erfassen und zu berücksichtigen)
  • Uwe Sielert, Karlheinz Valtl (Hg.): Sexualpädagogik lehren - Didaktische Grundlagen und Materialien für die Aus- und Fortbildung, Beltz Handbuch, Weinheim und Basel 2000; ISBN 3-407-55835-X
  • Uwe Sielert: Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim/ Basel 2005, ISBN 3-407-25372-9.
  • Renate-Berenike Schmidt, Uwe Sielert (Hrsg.): Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. 2. Auflage. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel 2013, ISBN 978-3-7799-0798-5.
  • Christin Sager: Das aufgeklärte Kind: zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950–2010) Transcript, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-8376-2950-7 (Dissertation Universität Hildesheim 2014).
  • Harald Stumpe, Konrad Weller: Familienplanung und Sexualpädagogik in den neuen Bundesländern. BzgA, Köln 1995, ISBN 3-9804580-1-6.
  • Karlheinz Valtl: Theorie der Sexualpädagogik. In: U. Sielert, K. Valtl: Sexualpädagogik lehren: Didaktische Grundlagen und Materialien für die Aus- und Fortbildung. Beltz, Weinheim/ Basel 2000, S. 53–109.
  • Stefan Timmermanns, Elisabeth Tuider, Uwe Sielert: Sexualpädagogik weiter denken. Postmoderne Entgrenzungen und pädagogische Orientierungsversuche. Weinheim 2004, ISBN 3-7799-1711-4.
  • Stefan Timmermanns, Elisabeth Tuider: Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. Weinheim 2008, ISBN 978-3-7799-2075-5.
  • Susanne Zimmermann: Sexualpädagogik in der BRD und in der DDR im Vergleich. Psychosozial-Verlag, 1999, ISBN 3-932133-61-7.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c kaththeol.uni-muenchen.de
  2. bzga.de
  3. Hessische/Niedersächsische Allgemeine
  4. pro-medienmagazin.de
  5. Christian Weber: Was sie noch nie über Sex wissen wollten. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 94, 24. April 2014, S. 9.
  6. pro-medienmagazin.de
  7. pro-medienmagazin.de
  8. Kinderfreunde – es geht weiter. In: Emma. 1/2015, S. 37ff. (ohne Autorenangabe)
  9. Oliver Demont: «Röstigraben bei der Sexualkunde». Beobachter 23/2008 (Online)