Selbstverletzendes Verhalten

Verhaltensweisen, bei denen sich Betroffene absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen
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Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV) oder autoaggressivem Verhalten beschreibt man eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich Wunden zufügen. Häufig finden sich die Wunden von Schnitten o.ä. an Armen oder Beinen, aber auch andere Körperteile werden verletzt. Unter Betroffenen wird für SVV oftmals der Begriff Rote Träne verwendet, was sowohl den Blutfluss als auch Trauer, Wut oder Verzweiflung zum Ausdruck bringt.

Bei selbstverletzendem Verhalten besteht in der Regel keine direkte Suizidabsicht, wenngleich betroffene Menschen häufig entsprechende Gedanken haben. Selbstverletzendes Verhalten ist oftmals, aber nicht immer, ein Symptom psychischer Erkrankungen.

Ursachen und Symptome

Zu unterscheiden ist selbstverletzendes Verhalten von Selbstverstümmelung (Automutilation), die einer eher "rationalen" Motivationslage entspringt, etwa der Vermeidung der Einziehung zum Kriegsdienst.

Junge Frauen, speziell Opfer von sexuellem Missbrauch oder körperlicher Gewalt, scheinen besonders anfällig für selbstverletzendes Verhalten zu sein, während junge Männer eher zu betont autoaggressivem Verhalten (zum Beispiel an die Wand boxen bis es blutet) neigen. Außerdem tritt das Verhalten häufig in Kombination mit dem Borderline-Syndrom, dem Autismus (Asperger-Syndrom), Depressionen und Schizophrenie auf. Für das Lesch-Nyhan-Syndrom ist es ein typisches Merkmal.

Als Ursache wird unter anderem die teilweise immer noch unterschiedliche und de facto falsche Erziehung und Vermittlung von Verhaltensweisen und Werten angenommen, die untersagt beziehungsweise verurteilt, dass Mädchen und Frauen Aggressionen wie Jungen und Männer auch offen ausleben. Gründe und Auslöser für aufgestaute Probleme werden in sich selbst gesucht beziehungsweise auf sich selbst übertragen, und als "Bestrafung" wird autoaggressives bzw. selbstverletzendes Verhalten angewandt. Nämliches "Ritzen" oder ähnliches kann zur Sucht werden.

Betroffene Menschen haben nicht die Absicht, den eigenen Tod herbeizuführen, allerdings kann selbstverletzendes Verhalten unter Umständen einen Schock, Verbluten oder irreversible Traumata zur Folge haben.

Durch den Vorgang der Selbstverletzung wird das seelische Leid, das die betroffenen Menschen empfinden, zu mindern versucht. Offenbar scheint eine Art Verkörperlichung mentaler Spannungszustände dabei eine wesentliche Rolle zu spielen: Der Vorgang der Verletzung, insbesondere das eigene aus einer Wunde austretende Blut, scheint innere Spannungszustände im wahrsten Sinne des Wortes "abfließen" zu lassen. Dieser kathartische Effekt, von dem betroffene Menschen häufig berichten, hält aber in der Regel nur für eine relativ kurze Zeit vor, sodass sich das Verhalten oft wiederholt. Da betroffene Menschen oft keine Alternativen zu diesem Verhalten sehen und einem inneren Zwang zur Wiederholung ausgesetzt sind, kann die Selbstverletzung den Charakter einer Abhängigkeit haben.

Weiterhin scheint der Vorgang der Selbstverletzung den betroffenen Menschen einen Teil der Kontrolle über sich zurückzugeben: Es erscheint ihnen, als wären sie vor dem Leid, welches ihnen außenstehende Personen immer wieder zufügen, in gewisser Weise geschützt, da sie sich auf den selbst zugefügten Schmerz seelisch vorbereiten können.

Zusammenfassend ist selbstverletzendes beziehungsweise autoaggressives Verhalten in den meisten Fällen ein Symptom von schwerwiegenden psychischen Problemen, Süchten oder Traumata, die mit der Vergangenheit des autoaggressiven Menschen zusammenhängen, (zum Beispiel sexueller Missbrauch, Misshandlung).

Es existiert eine weitere, seltene Form von SVV, die als Erweitertes Selbstverletzendes Verhalten bezeichnet wird. Dabei führen Betroffene selbstverletzende Akte im Schlaf aus, meistens während Träumen von traumatischen Erlebnissen oder vom Akt des Selbstverletzens selbst.

Arten

Es gibt verschiedene Arten der Selbstverletzung; häufig werden mehrere von einer Person angewandt. Zu den häufigsten zählen

  • das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sog. "Ritzen") der Haut
  • wiederholtes "Kopfschlagen" (entweder mit den eigenen Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
  • das Ausreissen von Kopfhaaren, Augenbrauen, Wimpern usw. (Trichotillomanie)
  • In-die-Augen-Bohren
  • Mit Nadeln (Sicherheitsnadeln etc.) stechen
  • beißen in erreichbare Körperpartien, auch abbeißen von Fingerkuppen und "Zerkauen" der Innenseite von Wangen oder Lippen
  • Verbrühungen mittels heißem Wasser/Verbrennungen mit Zigaretten

Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers Endorphine (Glückshormone) ausgeschüttet werden, die den Schmerz lindern, wie es bei körperlicher Anstrengung oder auch einer Geburt der Fall ist. Diese werden in Verbindung mit Adrenalin ausgeschüttet, da der Körper durch das Selbstverletzen in eine starke Form des Stresses versetzt wird. Es steht fest, dass eine Gewöhnung stattfindet, was bedeutet, dass die Art der Verletzung immer extremer wird (tiefere Schnitte, großflächigere Verbrennung), um das Glücksgefühl zu verspüren. Nicht immer allerdings werden Endorphine oder Adrenalin ausgeschüttet; bei "Beißern" tritt nicht die Form des Stresses auf, sondern genau das Gegenteil: Der Betroffene steht unter Druck. Besonders durch das Beißen im Mundinneren wird Stress, enormer Druck, abgebaut. Wie bei anderen Verletzungen auch werden die Wunden immer größer bzw. tiefer, um den (wiederum durch das Beißen provozierten und gesteigerten) Druck abbauen zu können.

Bei einer Multiple-Choice-Studie wurde festgestellt, dass sich viele Menschen mit Selbstverletzendem Verhalten nicht auf eine Art der Selbstverletzung beschränken sondern auch diverse Methoden kombinieren. Schneiden ("Ritzen") wurde mit einer Häufigkeit von 72% angegeben, 35% verbrannten sich, 30% schlugen sich selbst, 22% verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22% kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10% gaben an, sich die Haare auszureißen und 8% brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.

Zahlen und Daten

Folgende statistische Angaben sind unter Vorbehalt zu betrachten, da sie Teils nur Schätzungen sind und/oder sich auf spezifische Gruppen beziehen und daher keine statistisch abgesichterten Ergebnisse liefern. Jedoch geben sie ausgeprägte und deutliche Tendenzen wieder.

Die Häufigkeit in Deutschland wird mit 0,7% bis 1,5% angegeben, was einer Anzahl von rund 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen entspricht. Überwiegend weibliche Personen sind von Autoaggression betroffen, die Angaben schwanken hier jedoch stark und werden mit 3:1 (Frauen:Männer) bis 9:1 (Frauen:Männer) angegeben.

Altersstruktur

Mehrheitlich liegt das Einstiegsalter zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr. In der Zeit der Pubertät ist also meistens der Auslöser zu suchen, das Verhalten tritt meist während der ohnehin emotional in der Regel sehr angespannten Phase des Übergangs vom Kindes- ins Erwachsenenalter erstmalig auf. Die Ursachen bzw. Gründe liegen jedoch in der Regel in der Kindheit; Konflikte, die dort nicht ausgetragen werden konnten, brechen nun hervor und können zum Auftreten des Selbstverletzenden Verhaltens führen. Im Schnitt ist 13 das am häufigsten genannte Alter der erstmaligen Selbstverletzung.

Ein anderer Aspekt ist die Frage, in welchem Alter Wege zum Ausstieg gesucht werden. Aus fortlaufender Erhebung auf der Internetseite "Rote Tränen" ergibt sich etwa folgende Struktur direkt oder indirekt Betroffener, die die Bewältigung versuchen oder sich mit Alternativen beschäftigen:

  • .. bis 16 Jahre: 34%
  • 16 bis 18 Jahre: 29%
  • 18 bis 20 Jahre: 17%
  • 20 bis 24 Jahre: 13%
  • über 24 Jahre: 7%

Häufigkeit

  • 1 mal: 2%
  • 25 bis 50 mal: 23%
  • öfter als 50 mal: 75%

Angaben zum Aufschneiden der Haut entfiel zu 85% Prozent auf Extremitäten und 15% auf den Rumpf.

Umgang mit Betroffenen

In manchen Fällen sind sich Betroffene ihrer Probleme gar nicht bewusst, sondern fühlen sich unverstanden, da es äußerlich wirkt, als führten sie ein ganz normales Leben und dürften eigentlich keine Probleme haben. Stellt man die Selbstverletzungshandlungen somit als grundlos dar, wird der Versuch des Betroffenen, sich jemandem anzuvertrauen, dadurch oft zunichte gemacht.

SVV ist in der Regel als Symptom anderer Probleme zu verstehen, nach deren Lösung auch das selbstverletzende Verhalten nicht selten von selbst aufhört. Angehörige und Freunde sollten sich vor Augen halten, dass entgegen verbreiteter Vorurteile sich niemand ausschließlich darum verletzt, weil er auffallen oder sich wichtig machen möchte - oft genug verstecken betroffene Menschen jahrelang erfolgreich ihre Wunden und schämen sich sehr für sie.

Längerfristig muss fast immer psychologische Hilfe in Anspruch genommen werden. Freunde oder Verwandte sind mit der tief verankerten Problematik des selbstverletzenden bzw. autoaggressiven Verhaltens meist überfordert; sie müssen darauf achten, sich emotional selbst zu schützen. Im Zweifelsfall sollten sie auch für sich Hilfe in Anspruch nehmen.

Möglichkeiten der Therapie

Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer Psychotherapie, welche im Durchschnitt zwei bis vier Jahre dauert. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer Heilung. 1/3 der betroffenen Menschen gelten als nicht therapierbar. Ein Mensch mit selbst verletzendem Verhalten gilt als davon geheilt, wenn er, wie bei anderen Suchtformen, fünf Jahre "clean" ist.

Zitate

  • Im Vergleich zum tiefen, dunklen, inneren Schmerz der Trauer, der Zerrissenheit, der Angst, welche sich im Bauch, in den Eingeweiden, im Hals und im Herzen ausbreitet, ist der umschriebene Schmerz eines Schnittes in der Haut eine Erleichterung. (Norbert Hänsli, 1996)
  • Narben haben die Kraft uns daran zu erinnern, dass die Vergangenheit Realität war (Hannibal in "Roter Drache")
  • Grenzen meines Körpers sind Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. (Jean Améry)

Rezeption

Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch immer wieder rezipiert worden. (ergänzen)

Literatur

  • Ackermann, Stefanie: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen (2002)
  • Hänsli, Norbert: Automutilation - Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis, Verlag Hans Huber Ber, Göttingen 1996
  • Rohmann, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten - Überlegungen, Fragen und Antworten (1998)
  • Sachsse, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten - Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung (6te Auflage 2002)
  • Smith, Gerrilyn et al: Selbstverletzung - Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen (2000)
  • Smith, Mike: Hilfen für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten (2000)
  • Strong, Marilee: A Bright Red Scream: self-mutilation and the language of pain (1999, Penguin Books)
  • Hettinger, Jochen: Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation : die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen (1996)
  • Mühl, Heinz et al: Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung : ein Lehrbuch aus pädagogischer Sicht (1996)
  • Noel, Vincent Sarah-Vom Ende meines langsamen Abschieds : Hilft Betroffenen und nicht Betroffenen besser zu verstehen (2005)
  • Levenkron, Steven: Der Schmerz sitzt tiefer: Selbstverletzung verstehen und überwinden (2001)

Hilfe/Selbsthilfe allgemein

SVV-bezogene Seiten

Selbsthilfeforum von und für Betroffene]