Allgemeines
Der historische Roman hat seinen Ausgangspunkt in Deutschland mit der Schriftstellerin Benedikte Naubert (1756-1819). Ihre historischen Romane wurden teilweise auch ins Französische und Englische übersetzt, weshalb Walter Scott sie kennen lernte und von ihnen inspiriert wurde. In Romanen wie „Ulrich Holzer“ „Die Amtmannin von Hohenweiler“ u. a. nutzt sie bereits das Prinzip, Nebenpersonen der Geschichte zu Hauptpersonen ihrer Romane zu machen, die von Walter Scott übernommen wurde. Heute ist Benedikte Naubert im Gegensatz zu Walter Scott weitgehend unbekannt.
Viele frühe historische Romane förderten in Europa das Interesse des allgemeinen Publikums an der Geschichte des Mittelalters. Das Erscheinen des Glöckners von Notre Dame von Victor Hugo förderte in Frankreich die Bewegung zur Erhaltung des gotischen Kulturguts, was zur Gründung der staatlichen Behörde Monuments historiques führte.
Historische Romane haben außerdem in vielen Fällen das Nationalgefühl gefördert. Henryk Sienkiewicz aus Polen, Literaturnobelpreisträger 1905, beschrieb in seinen Romanen die Konflikte zwischen Polen und dem Deutschritterorden, rebellierenden Kosaken und den Schwedeneinfällen. Die Waverley-Rome von Scott (siehe unten) förderten das Interesse an der Geschichte Schottlands. Eine ähnliche Bedeutung für die norwegische Geschichte erlangte Sigrid Undset mit dem Roman Kristin Lavransdatter, mit dem sie 1928 ebenfalls einen Literaturnobelpreis gewann, sowie Franz Werfel für das armenische Volk mit seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh.
Der historische Roman beginnt in der englischen Literatur mit dem schottischen Schriftsteller Sir Walter Scott (1771- 1832). Romane, die vor einem geschichtlichen Hintergrund handeln, gab es bereits vorher; die Personen handelten allerdings entsprechend den Sitten und Normen der Gegenwart der Schriftsteller, so dass man hier nicht von historischen, sondern von Schlüsselromanen o.ä. spricht. Es stellt sich die Frage, warum der Romantyp des historischen Romans erst am Anfang des 19. Jahrhunderts entstand und sofort erfolgreich war – der erste historische Roman Walter Scotts „Waverly“ wurde 1814 veröffentlicht. Die Kriege, die der Französischen Revolution folgten, die Feldzüge Napoleons und die darauf folgende Restauration hatten großen Teilen der europäischen Bevölkerung den Einfluss von Geschichte auf ihr persönliches Leben vor Augen geführt, und dies in kürzerer Zeit und in größerem Maße als je zuvor. Die Veränderung der Kriegsführung – Massenheere statt kleine Söldnertruppen – ließ Geschichte zu einem Massenerlebnis werden, verpflichtete die Staaten aber auch, die Ziele der Kriege den kriegsführenden Massen zu kommunizieren, was unter Rekurrierung auf die nationale Geschichte und deren Höhen und Tiefen geschah. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass Walter Scott „Waverly“ nicht aus geschichtsphilosophischen Überlegungen schrieb, so dass es hier gerechtfertigt erscheint, von einem künstlerisch-kreativen Prozess des Schreibens auszugehen, auch wenn er sich des Interesses seiner Leser an geschichtlichen Themen, insbesondere an dem Thema des "Waverly", dem Jakobitenaufstand 1745/46, durchaus bewusst gewesen zu sein scheint. Walter Scotts historischen Roman zeichnen nun einige Besonderheiten aus, die es erst erlauben, von einem eigenen Romantypus zu sprechen. Ziel dieses Romantypus soll eine Verlebendigung der Vergangenheit sein. Die Geschichtsschreiber liefern die Fakten, die der Schriftsteller mit Leben füllt. Im konkreten Fall des „Waverly“, der eine damals noch nicht weit zurückliegende Epoche beschreibt, soll der Held zwischen der Gegenwart der Leser und der Vergangenheit vermitteln. Dieser Held, und hier liegt der große Unterschied zum Epos, ist nun der so genannte „mittlere Held“. Personen, die nicht an der Spitze der Gesellschaft stehen und geschichtliche Ereignisse nicht auslösen, sondern darin verstrickt werden. Der Protagonist ist moralisch einigermaßen gefestigt, opfert sich selbst auf, eine menschliche Leidenschaft, die den Leser mitreißt, entsteht allerdings nie. Scotts Hauptfiguren sind: „…national typische Charaktere, aber nicht im Sinne des zusammenfassenden Höhepunktes, sondern in dem der tüchtigen Durchschnittlichkeit.“
Die historischen Persönlichkeiten sind nur Nebenfiguren, treten aber ihrer Rolle entsprechend in bedeutsamen Situationen auf. Zwischen den Auftritten der historischen Persönlichkeiten ist der Schriftsteller innerhalb der historischen Gegebenheiten relativ frei in der Gestaltung des Lebensweges seiner Protagonisten. Dialoge, die der Verlebendigung der Vergangenheit dienen, nehmen ebenso an Wichtigkeit zu wie die Nebenfiguren, die entlang historischer Konfliktlinien verfeindete Seiten vertreten. Scotts Romane beeinflussten eine ganze Reihe von Autoren: „Balzac, Hugo, de Vigny und Mérimée in Frankreich, Manzoni in Italien, Puschkin und Tolstoi in Russland, Stifter und Fontane im deutschen Sprachraum.(...) In Nordamerika wurde Coopers Lederstrumpf-Saga zum Resonanzboden für Scott. “
Während aber Manzoni, Puschkin und andere der Tradition Scotts folgten, sich teilweise als dessen Schüler ansehen, wurde in Frankreich, und auch in Spanien, das Scottsche Modell eher reflektiert als reproduziert. Georg Lukács spricht sogar von geistigen Kämpfen um den historischen Roman in Frankreich und einer theoretischen Formulierung des romantischen historischen Romans auf einem höheren Niveau als in den anderen europäischen Ländern.
Die Rezeption Scotts in Frankreich und der romantische historische Roman
Die Gründe dafür, dass die Debatte über den historischen Roman in Frankreich am intensivsten war, sind in der französischen Geschichte zu suchen. Während in England die größten Teils unblutig verlaufenen Kämpfe um mehr Rechte für die Bürger ein eher optimistisches Verständnis des Ablaufs von Geschichte ermöglichten, waren die Franzosen mit den weniger optimistisch stimmenden Erfahrungen der Revolution, der darauf folgenden „terreur“ und des Aufbaus einer postrevolutionären Gesellschaft konfrontiert. So war die Diskussion um den historischen Roman in Frankreich dann auch im Grunde eine Debatte über die Geschichtsauffassung, kurz gesagt über die Frage, ob die französische Revolution ein „Betriebsunfall“ der Geschichte, oder die logische Folge früherer Entwicklungen war. Alfred de Vigny war maßgeblich an dieser Diskussion beteiligt. Sein Geschichtsverständnis äußert sich bereits in dem 1826 veröffentlichten Roman „Cinq-Mars ou une conjuration sous Louis XIII.“, der in der Ära Richelieu spielt. Seine theoretischen Grundlagen hält er dann im Vorwort der vierten Auflage (1829) fest, das Lukásc als das bezeichnenste theoretische Manifest der romantischen Richtung im historischen Roman bezeichnet. Vigny lehnt Scott als leicht ab, da hier erfundene Figuren agieren, geschichtliche Figuren nur am Rande vorkommen und nur der Datierung des Zeitraums dienen. Dementsprechend sind die Hauptfiguren seines Romans Kardinal Richelieu, der Gestalter des Absolutismus, und Cinq-Mars, der als Verteidiger feudaler Privilegien auftritt. De Vigny wendet sich also wieder den „Geschichte machenden großen Männern“ dieser Epoche zu. Wichtig sind laut de Vigny nicht die Fakten, sondern deren Fiktionalität. Der Schriftsteller muss die Fakten deuten und ihnen einen Sinn verleihen, ihre moralischen Folgen darstellen, und darf deswegen historische Tatsachen umwandeln. Insofern ist der Schriftsteller auch nicht unbedingt an die reale historische Persönlichkeit beispielsweise Richelieus gebunden, wichtig ist die zu vermittelnde Idee. De Vigny, der sich als Kämpfer für den mittlerweile untergegangenen zweiten Stand sieht und den Absolutismus als Irrweg der Geschichte versteht, der zwangsläufig zur Revolution führen musste, betrachtet die Fakten mit einer „subjektivistischen-moralischen Apriori“, wie Georg Lukásc es formuliert. Das Ziel der romantischen Geschichtsschreibung ist also aus der Reife heraus, die Frankreich erreicht hat, zurückzuschauen und über die Irrtümer der Jugend Rechenschaft abzulegen. Im Unterschied zum Scottschen historischen Roman wird Geschichte nicht nur verlebendigt, sondern gedeutet. Dies geschieht unter Rekurrierung auf die großen Personen der Geschichte. Auch wenn de Vignys Interpretation der französischen Geschichte und seine Wahrnehmung ihrer Jugendirrtümer nicht von allen geteilt wird, ist sein Verständnis des Typus des historischen Romans durchaus verbreitet und wird von anderen Autoren wie z. B. Victor Hugo geteilt.
Zitate aus: Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin 1955
Literatur
- Engler, Winfried, Die französische Romantik, Tübingen 2000
- Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin 1955
- Möllenbrock, Heinz- Joachim: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1980
Beispiele
- 1814 - Waverly von Sir Walter Scott
- 1823 - Lederstrumpf von James Fenimore Cooper
- 1826 - Lichtenstein von Wilhelm Hauff
- 1826 - Cinq-Mars von Alfred de Vigny
- 1831 - Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo
- 1857 - Ekkehard von Josef Victor von Scheffel
- 1868 - Krieg und Frieden von Leo Tolstoi
- 1876 - Ein Kampf um Rom von Felix Dahn
- 1876 - Jürg Jenatsch von Conrad Ferdinand Meyer
- 1879 - Der Heilige von Conrad Ferdinand Meyer
- 1880 - Ben Hur von Lew Wallace (der erfolgreichste historische Roman des 19. Jahrhunderts)
- 1895 - Quo Vadis von Henryk Sienkiewicz
- 1918 - Das törichte Herz der Julie von Voß von Annemarie von Nathusius
- 1929 - Caesar von Mirko Jelusich
- 1933 - Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel
- 1940 - Der Fürst der Welt von Erika Mitterer
- 1949 - Sinuhe der Ägypter von Mika Waltari
- 1980 - Der Name der Rose von Umberto Eco
- 1984 - Brasilien, Brasilien von Joao Ubaldo Ribeiro
- 1986 - Der Medicus von Noah Gordon
- 1992 - Die Säulen der Erde von Ken Follett (3. Platz bei ZDF-Lieblingsbücher 2004)
- 1995 - Die Puppenspieler von Tanja Kinkel
- 1996 - Die Päpstin von Donna Woolfolk Cross
- 2000 - Baudolino von Umberto Eco
- 2001 - Das Lächeln der Fortuna von Rebecca Gablé
- 2004 - Die sieben Häupter des Autorenkreises Historischer Roman Quo Vadis