Zum Inhalt springen

Extremitätenevolution

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 24. Oktober 2015 um 22:24 Uhr durch Kipepea (Diskussion | Beiträge) (Variabilität der Wirbeltierextremität). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Die Extremitätenevolution behandelt die stammesgeschichtliche Entwicklung der skelettären Bauform paariger Vorder- und Hintergliedmaßen von Tetrapoden aus entsprechenden Fischflossen.

Bauformen

Die paarige Flossen von Fischen und Extremitäten von tetrapoden sind homologe Skelettelemente insofern, als sie bei beiden an Schulter- und Beckengürtel ansetzen und die Extremitäten evolutionäre aus den paarigen Flossen hervorgegangen sind.[1] Sie unterschieden sich jedoch fundamental im Knochenaufbau und der der Emrbyonalentwicklung, so dass eine evolutionärer Übergang aus den Einzelelementen schwer erklärbar ist.

Generelle Bauform der Wirbeltierextremität

Wirbeltierextremität

Die Wirbeltierextremität besteht aus einem langen Knochen (Stylopod), dem Humerus (Oberarmknochen) bzw. Oberschenkelknochen (Femur), der über ein Gelenk mit der Schulter bzw. dem Becken verknüpft ist. Daran schließt sich der Zeugopod an, zwei parallele Langknochen, am Arm Elle (Ulnar) und Speiche (Radius), verbunden durch das Ellenbogengelenk, entsprechend beim Fuß Schienbein (Tibia) und Wade (Fibula) mit dem darüberliegenden Knochen verbunden durch das Kniegelenk. In distaler Richtung folgt der Autopod, das ist am Arm die Handwurzelknochen (Karpalknochen) bzw. am Bein die Fußwurzelknochen (Tarsalknochen), wobei am Arm die Finger und am Fuß die Zehen distal angebunden sind. Die Anzahl der distalen Elemente an einer Extremität ist variabel, sie schwankt von einem bis 5 Zehen und muss an Vorder- und Hinterextremität nicht gleich sein.

Paarige Strahlenflossen

Bauchflosse. Homolog zur hinteren Tetrapodenextremität

Den Extremitäten der Tetrapoden entsprechen beim Knochenfisch (Teleostei) die Brust- und Bauchflossen, die Strahlenflossen genannt werden. Im Innern des Flossenansatzes befinden sich in der Regel mindestens vier proximale, rumpfnahe Knochen (Basalia) in antero-posteriorer Richtung im Gegensatz zu einem Knochen bei den Tetrapoden. Der überwiegende Teil der Strahlenflossen besteht aus den knöchernen Flossenstrahlen (Radii, Sg. Radius) und der Schwimmhaut (Patagium), die von den Radien aufgespannt wird. Die Muskeln für die Flossenbewegung sitzen bei allen Knochenfischen nur am Flossenbasisskelett an. Entsprechend ist die gesamte Flossenbasis, d. h. Flossenbasisskelett nebst Muskeln, bei Strahlenflossern eher unscheinbar. Radiale sind nicht homolog zu Fingern und Zehen. Die Knochen von Lungenfischen ähneln stärker der Bauform der Tetrapoden-Extremität.

Anatomische Vergleiche

Sauripterus. Flosse mit Zehen
Tiktaalik. Schulter (oben) zwei Oberarmknochen (Mitte) und Vordergliedmaßen (unten)
Schlammspringer. Fortbewegung auf Flossen ähnlich Tiktaalik

Richard Owen beschrieb in On the Nature of Limbs („Über die Natur der Gliedmaßen“) 1849 erstmals die Systematik von Wirbeltierextremitäten. Er entdeckte das regelmäßige Auftreten von einem über ein Gelenk an die Schulter bzw. das Becken angebundenen großen Knochen, daran über ein Gelenk in proximo-distaler Richtung zwei weitere parallele lange Knochen, dann eine Reihe kleiner Knöchelchen und schließlich in deren distaler Fortführung die bis zu 5 Hand- bzw. Fußknochen. Owen erkannte die entsprechenden Knochen bei Menschen, anderen Säugetieren und Vögeln als homolog. Darüberhinaus sah er aber auch Brust- und Beckenflossen von Fischen als homolog zu den Extremitäten der Wirbeltiere.[2]

Die Homologie von Fischflossen mit Tetrapoden-Extremitäten blieb lange rätselhaft, da keine wirklich Knochenverwandtschaft hergestellt werden konnte. Ende des 19. Jahrhunderts galt Eusthenopteron, ein 380 Millionen Jahre altes Lungenfischfossil aus der kanadischen Provinz Quebec, als Kandidat für Amphibienvorläufer, da man bei ihm einen Einzelknochen am Schultergürtel ausgemacht hatte, der als homologes Teil des Oberarms gedeutet wurde. Der an der Ostküste Grönlands Anfang der 1930er Jahre entdecke Ichthyostega wies erstmals vollständige Gliedmaßen einschließlich Finger und Zehen aus. Seine Wirbel waren amphibienähnlich. Acanthostega, ebenfalls aus dem Devon und in Ostgrönland gefunden, hat ebenfalls vollständige Gliedmaßen, zudem aber radial angelegte 8 Zehen, die eine paddelartige Flosse bilden.[3] Seine Vorder- und Hinterextremitäten sind so gebaut, dass die Knochen den schweren Körper nicht auf dem Land tragen konnten. Die Gliedmaßen der Landwirbeltiere wurden demnach bereits im Wasser entwickelt, zumal es bereits einfachere Vorgängerstufen zwischen Ichthyostega bzw. Acanthostega und früher lebenden Fischen gegeben haben musste. 1995 wurde in Philadelphia ein Fund einer 365 Millionen Jahre alten Fischextremität gemacht (Sauripterus). Der zugehörige Körper fehlt. Das Tier besaß am Rumpf einen einzelnen Knochen und am Rand der Flossen acht Knochenstäbe. Diese wurden als Zehenvorläufer beschrieben.[4]

Der jüngste Fund, Tiktaalik, ein amhibien-ähnliches 375 Millionen Jahre altes Fossil, gefunden 200 auf Ellesmere Island weist die größte Ähnlichkeit mit dem von Owen beschriebenen Extremitäten-Prinzip auf. Das Tier hat eine Schulter, ein Ellenbogen und ein Handgelenk, bestehend aus den gleichen Oberarm-, Unterarm-, Handgelenksknochen wie beim Mensch. Es konnte sich auf auf dieser Extremität abstützen, ähnlich wie rezente Schlammspringer. Dazu kontre sich der Ellenbogen beugen, unterstützt durch große Brustmuskulatur. Ellenbogen und Knie zeigen in dieselbe Richtung.[3]

Weder bei Sauripterus noch bei Tiktaalik kann die frühe Transformation einer Flosse mit Strahlen zu einer Extremität mit Zehen nachvollzogen werden. Hier fehlen Zwischenformen. Der Übergang ist maßgeblich begleitet vom Verlust skelettärer Elemente und dem gleichzeitigen evolutionären Innovation anderer Elemente (Autopod). Das Ergebnis ist, dass keine homologen Knochen existieren zwischen der Mausextremität und der Zebrafisch-Brustflosse.[5]

Genetische Vergleiche

Die Embryonalentwicklung der Extremität bei Hühnchen und Maus wird mitbestimmt durch eine Organisatorregion ZPA (Zone polarisierender Aktivität) auf der posterkoren Seite der Knospe. In der ZPA wird das Protein Sonic Hedgehog ausgeschüttet. Wird diese Region beim Hühnchen im Labor entfernt und bei einem anderen Hühnchen zusätzlich zur bestehenden ZPA auf der anterioren Seite eingepflanzt, kommt es zu einer spiegelbildlichen Verdoppelung der Zehen.[6] Dieses Experiment wurde beim Rochen, einem Knorpelfisch, durchgeführt, um zu testen, ob die Flosse ebenfalls Verdoppelung distaler Elemente zeigt. Das ist der Fall. Dasselbe gelang beim Hai, ebenfalls ein Knorpelfisch. Eine enge Verwandtschaft genetischer Entwicklungsprozesse in der Flosse evolutionär alter Fische mit denen in der Extremität bei Huhn und Maus konnte so nachgewiesene werden.[3]

Entwicklungsvergleiche

Bei der Tetrapodextremität kondensiert das Mesenchym der Knospe, Zellen aggregieren und differenzieren anschließend zu Knorpelzellen (s. Extremitätenentwicklung). Es erfolgt also zuerst die individuelle Fortbildung der einzelnen Elemente und anschließend deren Chonodrogenisierung zu Knorpel. Bei der Strahlenflosse der Knochenfische ist der Entwicklungsprozess umgekehrt. Zuerst erfolgt die Knorpelbildung und anschließend die individuelle Differenzierung der einzelnen Elemente.[1]

Variabilität der Tetrapodenextremität

Armskelett verschiedener Tierarten. o. von li.: Salamander, Schildkröte, Krokodil, Vogel; u. von li.: Fledermaus, Wal, Maulwurf, Mensch
Vordere Extremitäten Walross (Odobenus rosmarus)

Die Tetrapodenextremität ist eine sehr robuste anatomische Form. So kommt das fünffingrige System etwa bei Mäusen wie Elefanten vor. Da nicht angenommen werden kann, dass die Embryonen solch unterschiedlicher Arten zum Zeitpunkt der Extremitätenentwicklung gleich groß sind, müssen die für die Fortbildung relevanten Entwicklungsmechanismen größenunabhängig sein. Gleichzeitig zeichnet sich die Extremität evolutionär durch eine extreme Anpassungsfähigkeit aus, wie man an ihren unterschiedlichen Formen bei Wirbeltierarten erkennt. Beide Eigenschaften erscheinen intuitiv widersprüchlich. Andreas Wagner konnte jedoch zeigen, dass robuste Formen mit ausgeprägten Gennetzwerken bessere Voraussetzungen für Variation und Innovation besitzen als weniger robuste Formen.[5]

Die pentadaktyle Obergrenze der Hand (fünf Finger) ist dennoch nicht abschließend geklärt. Frühe Saurierarten (z.B. Acanthostega) werden heute wegen der Ähnlichkeit der Zehen eher als polydaktyl, denn als sieben- oder achtzehig interpretiert. Es gibt keine Wirbeltierart, die im Standard mehr als fünf Finger oder Zehen an einer Extremität hat. Pandabär und Maulwurf besitzen verformte Mittelhandknochen mit Fingercharakter. Ausnahmen mit selektiver Einflussnahme des Menschen sind bestimmte Populationen der Katze (Maine-Coon-Katze) und der Norwegische Lundehund (Polydaktylie). Galis führt Entwicklungsconstraints als Grund dafür an, dass eine größere Fingerzahl unterbunden wird[7]

Neuere Forschungsergebnisse existieren zur extremen Länge der Fledermausflügel. Deren Zehen der Vorderextremität sind in einem frühen embryonalen Entwicklungsstadium (Tag 16 nach Befruchtung) und damit nach der erfolgten Kondensations- und Segmentationsphase in der Extremitätenknospe etwa relativ gleich lang wie die der Maus am Tag 12,5. Die erst ab dem 20. Tag folgende Verlängerung insbesondere der Zehen 3, 4 und 5 der Fledermaus konnte mit erhöhter Expression des Bone morphogenetic protein Bmb2 in Verbindung gebracht werden. Bmp2 stimuliert die Knorpelbildung und -differenzierung und vergrößert die Zehenlänge in der Embryonalentwicklung.[8] Die Evolution der Fledermaus wird somit mit Entwicklungsveränderungen im Längenwachstum und in der Längendifferenzierung von Knorpelgewebe in der vorderen Extremität begründet.

Siehe auch

Landgang (Biologie)

Einzelnachweise

  1. a b Günter P. Wagner. Homology, Genes and Evolutionary Innovation. Princeton University Press. 2014
  2. Peter J. Bowler, Find and Limbs and Fins into Limbs. The Historical Contxext 1840 -1940 in: Fins into Limbs. Evolution, Development and Transformation. Brian K. Hall (Ed.) University of Chicago Press 2007
  3. a b c Neil Shubin. Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3.5 Milliarden alte Geschichte unseres Körpers. S. Fischer 2008
  4. E.B. Daeschler, N.H., Shubin, K.S. Thomson und W.W. Amaral. A Devonian tetrapod from North America. Science265:639-642.
  5. a b Wagner, A. 2011: The Origins of Evolutionary Innovations: A Theory of Transformative Change in Living Systems
  6. Saunders, W. and Gasseling M. T. 1948: The proximo-distal sequence of origin of the parts of the chick wing and the role of the ectoderm. Journal of Experimental Zoology 1948 Aug;108(3):363-403
  7. Galis, F. and Alphen, J. J. M. 2001: Why Five Fingers? Evolutionary Constraints on Digit Numbers. Trends in Ecology and Evolution, Volume 16, Number 11, 1 November 2001, S. 637–646(10)
  8. Karen E. Sears, Richard R. Behringer, John J. Rasweiler, and Lee A. Niswander. Development of bat flight: Morphologic and molecular evolution of bat wing digits. PNAS April 25, 2006 vol. 103 no. 17 6581–6586