Geschichte der Gehörlosen (1500–1700)

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Dieser Artikel befasst sich mit der Geschichte der Gehörlosen bzw. der Deaf History.

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Wegen des großen Umfangs ist der Artikel in drei Teile aufgeteilt.

Geschichte der Gehörlosen Teil I
enthält einführende Anmerkungen und die ersten bekannten Ereignisse und Daten aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Melchior de Yebra in Spanien bis Jonathan Lambert auf Martha's Vineyard in Neuengland.

Geschichte der Gehörlosen Teil II behandelt das 18. Jahrhundert, die Zeit des Samuel Heinicke und des Abbé de l'Epée,
sowie das 19. Jahrhundert, die Zeit von Abbé Sicard, Eduard Fürstenberg, Thomas Hopkins Gallaudet und Alexander Graham Bell

Geschichte der Gehörlosen Teil III ist für die Zeit ab dem Mailänder Kongress 1880 bis ins 20. Jahrhundert vorgesehen.

Teil I

Verbreitung von Taubheit

Taube Menschen gab es vermutlich so lang, wie die Menschheit auch existierte. Etwa 0,01 Prozent der menschlichen Bevölkerung ist genetisch bedingt taub. In abgeschlossenen Gebieten kann sich jedoch die genetische Taubheit in weit höherem Umfang ausbreiten. So bestand die Bevölkerung der nordamerikanischen Insel Marthas Vineyard im 17. Jahrhundert zu einem so großen Teil aus Tauben, dass hier „jeder die Gebärdensprache sprach“ (so der Titel eines Buches zu dieser Historie von Nora Ellen Groce).

Ein weit höherer Prozentsatz der Bevölkerung wird taub geboren aufgrund von Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft z.B. durch Röteln oder Masern, weiter erfolgen auch Ertaubungen durch Erkrankungen im Kindesalter. Unter den heutigen Bedingungen hat der Umfang dieser vor- und nachgeburtlichen Ertaubungen eine Rate von etwa 0,1 Prozent in den höher entwickelten und bis etwa 1-2 Prozent in den weniger hoch entwickelten Ländern.

Ertaubungen im Jugend- und Erwachsenenalter und Altersschwerhörigkeit haben aufgrund der bis dahin erworbenen Kennntis der Lautsprache als Mehrheitssprache nicht die spezifischen Auswirkungen wie die von Geburt oder Kindheit an bestehende Taubheit.
Solange die Bevölkerungsdichte noch sehr gering war, waren taube Menschen auch immer nur Einzelerscheinungen und hatten keine eigene Geschichte. Erst bei zunehmender Bevölkerungsdichte konnten sich taube Menschen zu Gruppen zusammenfinden und unter Umständen auch eine spezifische Verständigung mit Gesten und Gebärden entwickeln. Wann und wo dies in bemerkenswerter Weise erstmals geschah, darüber liegen keine Informationen vor.

Gegenwärtig wird geschätzt, dass von der deutschen Gesamtbevölkerung (ca. 80 Millionen) etwa 14 Millionen eine Gehör-Beeinträchtigung haben. Etwa 80.000 davon sind taub, von denen wiederum etwa 35.000 eingetragene Mitglieder der Vereine des Deutschen Gehörlosen-Bundes sind.
Obwohl Taube - wie aus den Zahlenangaben schon ersichtlich - sehr verstreut unter der Bevölkerung leben, habe sie untereinander dennoch stabile Gemeinschaften aufgebaut und verbringen die Zeit außerhalb des Broterwerbs überwiegend unter ihresgleichen.

Pathologie oder Mangel: die doppelte Sichtweise von Taubstummheit

Taube wurden in Europa lange Zeit und vor allem auch unter dem Regiment der christlichen Kirche nicht als vollwertige Menschen angesehen, da sie die „göttliche“ Sprache nicht hatten, mit deren Beherrschung sich der Mensch nach damaliger Meinung vom Tier unterschied, nicht beherrschten. Aristoteles (384 - 322 v Chr.) vermerkte daß Taube von Geburt sich nicht unterhalten konnten, und daß der Blindgeborene von höherer Intelligenz war als der von Geburt Taube. Der Kirchenvater Augustinus (354 - 429) sprach: "Wer nicht hören kann, kann daher auch nicht glauben".

Taubstummheit wurde zunächst mit einer zweifachen Zuordnung nach Taubheit und Stummheit gesehen. Nach den damaligen Vorstellungen erschien das fehlende Sprechvermögen als grundlegender Mangel. Das Gedächtnis bestand nur durch die gegliederten Wörter, die die Gefühle im Bewusstsein festlegten, und es damit erlauben, den Willen zu wecken. Das Fehlen eines Gedächtnisses lieferte der Einbildung des Menschen eine Parade unkontrollierter Bilder nach dem Muster des Traumes oder des Wahnsinns. Die Stummen erreichten kein Gedächtnis und Bewusstsein, sie verharrten in den Ausfransungen des Untermenschlichen und des Tierhaften.

Die römischen Gesetzgeber diskutierten über Taubstummheit in Bezug darauf, ob sie eine Krankheit oder ein Mangel wäre. Die Wissenschaft der Akustik entwickelte sich bei den Griechen in der Auseinadersetzung zwischen denen, die der pythagorei-schen Ansicht von der mathematischen Regelmäßigkeit der Musik und denen, die der emotional begründeten Bewertung des Aristoxènos zuneigten. Angesichts der engen Verknüpfung von Akustuik und Musik kam es den Wissenschaftlern nicht in den Sinn, die Akustiker zur Taubheit zu befragen. Ohnehin befasste sich die Wissenschaft sich vorzugsweise mit idealen Modellen und nicht mit den „Unfällen“ der Natur, die Medizin selbst beschäftigte sich mehr in allgemeiner Wissenschaft als mit Be-schreibungen von Symptomen.

Aristoteles, selbst Sohn eines Arztes, untersuchte die Naturgeschichte und die Wissenschaft von den Arten, ohne Praktiker zu sein. Bei dieser Lage wurden die Stummen mit anderen Kategorien verwechselt, mit den Geisteskranken durch fehlende Gründe für die Stummheit, mit Körperbehinderten aller Richtungen, den Stotterern und Lisplern, vergleichbar der dem Hinken zugeordneten Lähmung.

In Reaktion auf dieses zweifache Gebrechen verfolgten die Praktiker zwei Hauptwege der Heilung: das innere Ohr erhielt lange und oft schmerzhafte Behandlungen. Die Sprechorgane, unterlagen noch radikaleren invasiven Verfahrensweisen ein Schnitt durch das Zungenband sollte die Sprache „befreien“, folgend den Beobachtungen "wundersamer Heilungen" von Stummen durch traumatische Schocks, wie des von Hérodot (490 - 430 v.Chr.) erwähnten Sohn des Krösus, König von Lydien. Dieser war von Geburt stumm und es trotz aller aufgewendeten Heilversuche geblieben. Beim Kampf um die Hauptstadt wurde Krösus unbemerkt von einem persischern Krieger angegriffen. Um seinen Vater zu warnen, schrie der Stumme auf und erlangte so wieder die Sprache. Weitere Fälle wurden aufgezählt, die die Sektion der Zungenwurzel rechtfertigen, denn man nahm an, daß diese von Emotionen beschädigt sei.

Die Physiologie des Körpers wurde als von Geistigkeit gespeist gesehen, Leben als göttliches Prinzip, Pneuma, geistiger Hauch. Eine gelähmte Hand ist eine vom Leben verlassene, tote Hand, das Ohr des Tauben geistlos, ein hohler Umschlag ohne das eingeborene Gefühl, diesen "sehr scharfsinnige Hauch, seit unserer Geburt vom Gehörgeist eingepflanzt", wie Ambroise Paré (1509 - 1590) bei seinen Sezierungen feststellen zu können meinte. Das Fehlen eines Gehörs implizierte eine lethargische Existenz. Andere Ursachen wurden religiös begründet: Jesus verjagte blinde und stumme Geister, der besessene Körperbehinderte wird durch ein Wunder der Gesellschaft zurückgegeben. Bei Tauben und Stummen heilte Jesus das Ohr und die Sprechorgane, mit der Ephphata-Formel öffnete er den Geist: zwei Heilphasen reichen nicht gänzlich ohne diese allerletzte Aktion, das Öffnen der Fenster und Türen zur Sprache wäre nichts ohne diese geistige innere Instanz, die das Hören auf das Verstehen erweitert und von der Stille durch das Aussprechen von Gedanken befreit.

"Taubstummheit" wurde auch bis in die neuere Zeit als krankhafte Erscheinung angesehen, wie etwa in der "Beschreibung des Oberamts Oehringen" von 1865 der Eintrag zeigt: „Die Einwohner sind im allgemeinen in mittelmäßigen, nicht selten auch dürftigen Vermögensverhältnissen und erfreuen sich einer guten Gesundheit; nur in Heuholz zeigt sich der Kretinismus (zwei Blödsinige und drei Taubstumme)“.

Wegen des ohnehin verbreiteten Analphabetismus hatten Taube jedoch bis zum Mittelalter vergleichsweise stärkere gesellschaftliche Anpassungsmöglichkeiten als in den darauffolgenden Jahrhunderten. Die Kirche gewährte Tauben zwar im 5. Jahrhundert die Taufe, jedoch erst im 11. Jahrhundert die Heirat, im 13. Jahrhundert die Beichte und im 16. Jahrhundert die Möglichkeit, das Mönchsgelübde abzulegen (nach Aude de Saint Loup, „Darstellungen Tauber im westeuropäischen Mittelalter“, 1993).

Die Beobachtungen im Zusammenhang mit einer Gruppe von Siedlern auf der nordamerikanischen Insel Martha's Vineyard, die um 1630 aus dem aus dem kentischen Weald auswanderten zeigen dagegen, daß Taube auch in so früher Zeit nicht automatisch eine Randexistenz sein müssen, sondern dies eine Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Einstellungen ist.

Erste pädagogische Bemühungen im 16. und 17. Jahrhundert

Der geringe Umfang und vor allem die Zielrichtung der aus den vergangenen Jahrhunderten erhalten gebliebenen Aufzeichnungen bedingt es, dass die Geschichte der Tauben großenteils nur aus der Perspektive ihrer pädagogischen Erfassung berichtet werden kann.

Mit der ersten Einrichtung von Schulen für Kinder gab es auch pädagogisch tätige Menschen, die taube Kinder zu unterrichten versuchten, sei es aus humanistisch oder religiös motivierten Gründen oder um des Geldes oder der Vergünstigungen willen, das gesellschaftlich besser gestellte Eltern dafür zu gewähren bereit waren.
Anzumerken ist hier, dass damals Mönche der christlichen Kirche trotz der Vorbehalte gegen den "menschlichen" Status von Tauben am ehesten in der Lage waren, mit ihnen zu kommunizieren, da wegen der teilweise herrschenden Schweigepflicht in Klöstern gerade dort spezielle Gebärden zur lautlosen Kommunikation erfunden wurden.

um 1550

Der von 1526 - 1586 lebende spanische Mönch Melchior De Yebra gebrauchte angeblich zur Verständigung mit Tauben ein Fingeralphabet. Welche Form dies hatte, und ob es sich aus dem bereits 900 Jahre zuvor bekannten Fingeralphabet entwickelte, ist nicht bekannt. Unbekannt ist dabei, inwiefern die damals zumeist analphabetisch aufwachsenden Tauben das Fingeralphabet verstehen konnten.

Um 1550 wurden dem spanischen Adligen Juan Fernández de Velasco y Tovar nacheinander drei taube Söhne geboren. Aufgrund der damaligen Anschauungen musste de Velasco y Tovar befürchten, dass seine Söhne mangels Beherrschung der Sprache nicht als Erben seiner Besítzungen anerkannt würden. Deshalb beauftragte er den Benediktiner-Mönch Fray Pedro Ponce de León (1500 -1584) vom Kloster San Salvador de Ona, seine Söhne Pedro und Francisco zu unterrichten. Somit waren die ersten pädagogischen Bemühungen um Taube in Spanien davon motiviert, den Besitz und Privilegien einer Familie zu sichern. Zur Person von Fray Ponce de León wird aufgrund der unüblicherweise fehlenden Informationen seiner Herkunft vermutet, dass er ein illegitimes Kind von Adligen war und die damit entgangenen Privilegien teilweise wiederzuerlangen versuchte, indem er Kinder in adligen Häusern unterrichtete.
Fray Ponce de León konnte die Söhne des Adligen offenbar erfolgreich unterrichten und lieferte damit einen frühen Beweis, dass Taube lesen, schreiben, denken und reden können.

um 1600

Manuel Ramírez de Carrión (1579 - 1652) führte das Werk von Ponce de León fort, indem er den dritten Sohn Luis des Juan Fernández de Velasco y Tovar unterrichtete. In seinem Buch “Wunder der Natur”, das zunächst 1599 in Madrid, dann nochmals 1622 in Montilla in der Druckerei des Marques de Priego und 1629 in Córdoba herausgegeben wurde beschrieb de Carrión „Zweitausend Geheimnisse der Natur“, die er alphabetisch sortiert darbot. Hierin entwickelte er erstmals den für die damalige Zeit wohl revolutionären Gedanken, dass „Taubstumme“ nur deshalb stumm sind und keine Laute produzieren, weil sie sie selbst nicht hören. Daher, schrieb er, sei es mit einer speziellen Technik möglich, sie sprechen zu lehren. Worin diese Technik bestand, wurde in dem Werk jedoch nicht verraten.

Ponce de León ließ ebenso wie später de Carrión nichts über die Methoden verlauten, die ihm zum Erfolg verhalfen. Es wird angenommen, dass er den Verlust seiner vorteilhaften Stellung und seines Ansehens befüchtete, wenn seine Methoden von anderen übernommen und verwendet würden. Zu de Carrións Motiven wird angenommen, dass er sich mit der Bewahrung seiner Stellung als einziger geeigneter Lehrer vorbehalten wollte, den Preis für seine Leistungen hoch zu halten. Ponce de León und de Carrión hatten mangels Vorbildern fast völlige Freiheit in der Wahl ihrer Methoden, die in manchen Fällen harsche Behandlung und die Herausbildung psychischer Abhängigkeit ihrer jungen Untergebenen eingeschlossen haben sollen.

1620

De Carrións Methodik wurden jedoch 1620, von dem im Haushalt des de Velasco y Tovar als Sekretär lebenden Juan Pablo Bonet (1579-1633) in „Reducción de las letras y arte para enseñar a ablar los mudos“ als dessen eigenes Werk plagiiert. Bonet selbst soll wenig direkte Erfahrungen mit Tauben gehabt haben und zählte offenbar mit der bloßen Veröffentlichung seines Werkes auf Anerkennung. Dennoch ist dies das erste schriftliche Werk zu diesem Thema. 1623 soll auch der Dominikaner-Mönch, Missionar und Jesuiten-Verfolger Juan Bautista Morales de Carrións Methodik in „Pronunciaciones Generales de Lenguas, Escuela de Escribir y contar y significación de letras por las manos“ publiziert haben.

um 1660
Der Kleriker und Mathematiker John Wallis erhält für die Erziehung des tauben Alexander Popham für eine gewisse Zeit jährlich einen Betrag von £100,-. Wallis hatte (dabei oder später?) Kenntnis von den Arbeiten des Johann Conrad Ammann

1666
Sir George Downing, der Namensgeber der Straße, in der sich heute der amtliche Wohnsitz des britischen Premierministers befindet, organisiert für die Regierung Agentennetze, unter denen sich auch mehrere Taube befinden. Gefragt, wie er deren "seltsame Zeichen" verstehen könne, soll Downing geantwortet haben: "Sie brauchen nur ein wenig Übung, dann werden Sie ihn verstehen und sich ihm verständlich machen, und dies alles so leicht und einfach, wie man es sich nur denken kann". Diese Anekdote weist zusammen mit den Beobachtungen auf Martha's Vineyard in Neuengland darauf hin, daß es schon in früher Zeit Enklaven in der Bevölkerung gab, in denen bereits eine voll ausgeformte Gebärdensprache existierte. Downing stammte übrigens auch wie die später erwähnten Besiedler von Martha's Vineyard aus dem kentischen Weald.

1630

1634
Siedler aus dem Weald des englischen Kent wandern in Massachusetts ein. Unter ihnen befinden sich einige, die - wie die spätere Geschichte zeigen wird- ein rezessive Erbanlage zur Taubheit mitbringen.

1660

1664
Unter der Leitung des Logikprofessors Johann Lavater, Pfarrer in Uitikon und Professor am Carolineum in Zürich, Schweiz, (nicht zu verwechseln mit Johann Caspar Lavater, 1741 - 1801) wird eine wissenschaftliche Arbeit unter dem Namen „Die Lavater’sche Taubstummenschule“ über die physiologischen, theologischen und pädagogischen Aspekte des "Taubstummenproblems" als Dissertation zur Prüfung vorgelegt

1674
Der von Geburt an taube Etienne de Fay (1669 - 1749) wird im Alter von fünf Jahren in die Obhut der Prämonstratenser-Abtei von Saint Jean d'Amiens gegeben. Er wirkte dort sein ganzes Leben als Architekt, Bildhauer, Bibliothekar, Prokurator und gab vier „taubstummen“ Schülern Unterricht, darunter dem Francois Meusnier und Azy d’Etavigny.

1670
Von den aus Kent 1634 zugezogenen Siedlern wandern sieben Familien auf Martha’s Vineyard ein.

1690
Der taube Kapitän Jonathan Lambert, Nachfahre von Einwanderern aus Kent, überführt auf der Brigantine „Tyrel“ Gefangene der Quebec-Expedition zu den Neuengland-Staaten. Er erhält für seinen Kriegseinsatz eine Belohnung.

1692
Der taube Zimmermann, Küfer und Kapitän Jonathan Lambert zieht auf die Insel Martha's Vineyard und kauft sich dort Land. Dieser Inselabschnitt heißt bis heute "Lambert’s Cove".

  • 18. Jahrhundert, Samuel Heinicke und der Abbé de l'Epée
  • 19. Jahrhundert - der Methodenstreit