Tollkühnheit bezeichnet eine Charaktereigenschaft, die zum Eingehen außergewöhnlicher, höchster Risiken befähigt. Es kann sich dabei um eine krankhaft übersteigerte, vernunftwidrige Tat handeln, die das Maß des rational Sinnvollen und Nützlichen sprengt. Sie kann aber auch im positiven Sinne die Bereitschaft zur Bewältigung einer hoch gefährlichen Aufgabe, etwa einer extrem schwierigen Hilfeleistung in einer Notsituation, darstellen. Tollkühnheit ist der extreme Gegenbegriff zur Feigheit.
Wortbedeutung
Das Kompositum Tollkühnheit setzt sich aus den Wortanteilen „Toll“ (<ahd / mhd tol, ags. dol = einfältig, anmaßend < got. dwals = töricht, griech. tholeros = verwirrt, verrückt, wahnsinnig) und „Kühnheit“ (von ahd kuoni, mhd küene = wagemutig, beherzt) zusammen. Mit dem Wortanteil „Toll“ ergibt sich dabei eine Wortverbindung, die ein Übermaß des als normal Angesehenen kennzeichnen soll, das ursprünglich negativ konnotiert war. Das Standardwerk des Lexikographen Gerhard Wahrig[1] führt dazu eine Reihe paralleler umgangssprachlicher Redewendungen auf, die die figurative Bandbreite der heutigen Bedeutungen zeigen. Sie etikettieren jeweils ein außerhalb der Normalität liegendes Phänomen wie: eine tolldreiste (= verrückte) Tat, eine tolle (= hoch attraktive) Frau, ein tolles (= ganz außergewöhnliches) Buch, ein toller (= sehr sympathischer) Bursche, eine tolle (= aufregende) Party, ein toller (= unerträglicher) Lärm, ein toller (= exzellenter) Einfall etc. Die Bedeutungsvielfalt kennzeichnet auch die Einschätzung der Tollkühnheit von abwertenden Etikettierungen wie „total verrückt“, „krankhaft“, „unvernünftig“ über neutrale Kennzeichnungen wie „außergewöhnlich“, „enorm“, „verwegen“ bis zu bewundernden Aussagen wie „großartig“, „phantastisch“, „unglaublich“, „heldenhaft“, „exzellent“. Die jeweils gewählte sprachliche Ausdrucksform deutet bereits auf die unterschiedlichen Bewertungen mit der Tollkühnheit verbundener Aktionen hin.
Motivation
Die Bereitschaft zu tollkühnen Aktionen erwächst aus sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Situationen und Motiven: Nach Auffassung des Psychoanalytikers Michael Balint[2] hat sie eine anlagebedingte Grundlage, die er philobatisch nennt. Das Naturell des Philobaten tendiert zu extrem wagnisbereitem Handeln. Im Gegensatz zu seinem Gegentypus, dem Oknophilen, sind seine Bestrebungen auf Erfolg ausgerichtet und die Erwartungen des Gelingens stärker ausgeprägt als die Furcht vor dem Misserfolg und dessen Folgen. Die Handlungen des Philobaten geschehen nach Balint eher trieb- als vernunftgesteuert. Er stuft sie wie die des Gegentypus als krankhaft ein. Für den Wagnisforscher Siegbert A. Warwitz[3] basieren die Wahl der Aktionen und deren Sinngebung zusätzlich zu der förderlichen Charaktereigenschaft auf bestimmten persönlichen Wertvorstellungen. Diese können in sehr unterschiedlichem Maße von Reflexion geleitet und von Verantwortungsbewusstsein getragen sein, aber auch nur aus Geltungssucht und spontanem Übermut erwachsen, wie etwa beim sogenannten Balconing.[4] Der Soziologe Horst W. Opaschowski[5] sieht in der Tendenz zu extremen Mutproben und Extremsportarten ein „Zeitphänomen“ und Indiz für eine sich in der übersicherten Gesellschaft zunehmend langweilende Jugend. Extremsportler wie Iris Hadbawnik[6] bekennen offen ihre Faszination am überdimensionierten Wagnis und Extremsport, weil sie ihr Leben bereichern.
Erscheinungsformen
Tollkühnheit in Freizeit und Sport
Die sozialen Netzwerke bieten heute mit ihrer Internetverbreitung schon Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit sogenannten Selfies im Selbstportrait als tollkühne Helden zu präsentieren: So posieren sie in hoch riskanten Momentaufnahmen auf den Gleisen vor einem heranrasenden Zug, auf einem ausgesetzten Brückengländer oder am Rand der 604 Meter senkrecht in den Lysefjord abfallenden Felsplatte des Preikestolen in Norwegen.
In den Flugsportarten haben sich sogenannte Akromanöver[7] etabliert, die dem Piloten wie den Fluggeräten das Äußerste abverlangen, wie etwa das sogenannte „Tumbling“ in der Gleitschirmakrobatik, bei dem der Pilot nicht nur mit einem klassischen Looping über den Schirm hinwegfliegt. Der Schirm wird vielmehr nach einem entsprechenden Energieaufbau, etwa durch hohe „Wingover“, unter dem Piloten hindurchgeschleudert. Dabei wurden Körperbelastungen bis zu 7.5 g gemessen. Bei einem Rekordversuch wurden nach einem Hubschrauberabsprung aus 5800 Metern Höhe insgesamt 568 Tumbling-Überschläge erreicht. [8]
Zitate
- "Tapferkeit in Verbindung mit Macht führt zu Tollkühnheit." - Aristoteles, Politik (Vorlage:ELSalt
- "Denn von den Extremen ist das eine mehr, das andere weniger fehlerhaft." ('"Τῶν γὰρ ἄκρων τὸ μέν ἐστιν ἁμαρτωλότερον τὸ δ᾽ ἧττον") - Aristoteles: Nikomachische Ethik II, Kap. 9, 34, 1109a
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Brockhaus Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Großwörterbuch von Renate Wahrig-Burfeind, 9. vollständig aktualisierte Ausgabe, 2011, Spalte 3575/76
- ↑ Michael Balint: Angstlust und Regression. Klett-Cotta. 5. Auflage. Stuttgart 1999
- ↑ Siegbert A. Warwitz: Vom Sinn des Wagens. Warum Menschen sich gefährlichen Herausforderungen stellen. In: DAV (Hrsg.): Berg 2006. München/ Innsbruck/ Bozen 2006, S. 96–111
- ↑ Gefährlicher Urlaubstrend "Balconing" in RP Online vom 23. Juni 2013
- ↑ Horst W. Opaschowski: Xtrem. Der kalkulierte Wahnsinn. Extremsport als Zeitphänomen. Germa-Press Verlag, 2000
- ↑ Iris Hadbawnik: Bis ans Limit und darüber hinaus. Faszination Extremsport. Verlag die Werkstatt, 2011
- ↑ Eine gute Beschreibung diverser Akro-Manöver
- ↑ 568 Überschläge - Offizielle Pressemitteilung