Das Festungsgebiet Saint-Maurice gehörte zusammen mit den Festungen Sargans und St. Gotthard zu den drei grossen Festungsgebieten der Schweizer Armee im Reduit-Verteidigungsdispositiv des Zweiten Weltkriegs und während des Kalten Krieges. Es gehörte zur 1. Armeekorps und mit der Armee 61 zur Festungsbrigade 10 und zum Gebirgsarmeekorps 3. Geographisch umfasst es das Gebiet des Schweizer Chablais.

Vorgeschichte
Vor der Erschliessung des Gotthardpasses Ende des 12. Jahrhunderts waren die Bündnerpässe im Osten (Lukmanierpass usw.) und der Grosse St. Bernhard (auch Mont-Joux-Pass) bei Martigny im Westen die bevorzugten Alpenübergänge zwischen Italien, Frankreich (Gallien) und Deutschland (Germanien). 773 zog der Onkel Karls des Großen während des Langobardenfeldzugs über den Grossen St. Bernhard. Im Mai 1800 überschritt Napoleon den Pass.
Die Engnis von Saint-Maurice am Eingang zum oberen Rhonetal wurde von den Römern als Militärposten und Zollstation benutzt, um Abgaben auf der Handelsstrasse über den Grossen St. Bernhard erheben zu können. Ab 1476 – während den Burgunderkriegen – wurde das Schloss St. Maurice am Eingang des Engpasses errichtet.
Angesichts des Risikos eines europäischen Konflikts nach der Julirevolution von 1830 wurde 1831 mit dem Bau einer Sperrstelle beim Schloss St. Maurice nach dem Konzept von Guillaume-Henri Dufour begonnen, um den Durchgang zum Grossen St. Bernhard und Simplonpass sperren zu können.
Strategische Lage und militärische Bedrohungen
Der Passstaat Schweiz besitzt den verkehrstechnisch günstigen Mittelteil des Alpenbogens mit den Übergängen von Mittel- und Westeuropa nach Südeuropa. Zusammen mit den Verbindungen zwischen den Räumen der oberen Donau und der Rhone bildet sie einen zentraleuropäischen Knotenpunkt.
In der Pariser Akte des Wiener Kongresses von 1815, war die Rolle der Schweiz als Hüterin der Alpenpässe festgelegt worden. Die schweizerischen Befestigungen hatten im Rahmen des Territoriumschutzes die Haupteingänge der Alpentransversalen zu sichern.
Die militärhistorische Erfahrung zeigte, dass wenn Interessenskonflikte der europäischen Grossmächte herrschten oder eine Macht die Hegemonie anstrebte, drohte Kriegsgefahr. Wurden im Donauraum und in Oberitalien Interessen militärisch verteidigt, so wurden die schweizerischen Alpentransversalen von strategischer Bedeutung. Die Schweiz musste mit der bewaffneten Neutralität dafür sorgen, dass sie fremden Mächten nicht in die Hände fielen.
Saint-Maurice als Nordportal der Alpentransversalen auf der direkten europäischen Verkehrsachse zwischen Frankreich (Franche-Comté) und Italien (Piemont) war mit seiner Engnis ein militärisch bevorzugter Punkt für Festungsbauten.
19. Jahrhundert und Erster Weltkrieg
Als man um 1880 die Granaten mit Melinit-Sprengstoff zu füllen begann, erwiesen sich die 1831 gebauten Dufour-Befestigungen in St. Maurice als veraltet und mussten ersetzt werden. 1892 begann man auf der rechten Rohneseite die Forts Savatan und Dailly zu bauern. Zum Schutz der beiden Forts wurden vorerst Geschütze auf der Terrasse Ermitage ob Vérossaz platziert und 1911 wurde mit dem Bau des Flankierwerkes Galerie du Scex (vier 7,5 cm Kanonen) begonnen.
Die Festungen Dailly und Savatan wurden in drei Bauetappen zwischen 1892 und 1910 erstellt. Sie verfügten über fünfzehn unterirdische Kasernen, Schützenmauern und Beobachtungsposten, die untereinander telefonisch verbunden waren. Die Bewaffnung bestand aus über 34 Kanonen der Kaliber 5,3 bis 15 cm (Savatan: fünf 12 cm Panzerhaubitzen 1891 Typ Schumann, Dailly: sechs 12 cm Kanonen 1893 Krupp).[1]
Zweiter Weltkrieg
Die Festung Cindey wurde während des Zweiten Weltkrieges zwischen 1941 und 1946 als Erweiterung des zusammenhängenden Festungskomplexes St. Maurice (bisherige Forts Dailly, Savatan und Scex) erbaut. Es übernahm die früheren Sicherungsaufgaben des Schlosses St. Maurice und der Dufour-Befestigung.
Die Festung St. Maurice hatte den Auftrag, jeglichen feindlichen Vorstoss in die Rhone-Ebene und in Richtung Reduitbrigade 21 (Berner Oberland) zu verhindern. Der befestigte Raum von St. Maurice zwischen Chiètres und Follatères war zu halten.
Nach der Kapitulation Italiens wurde am 12. September 1943 wegen der Gefahr des Durchmarsches deutscher Truppen die Südfront mobilisiert.
Kalter Krieg
Bis 1997 und insbesondere mit der Truppenordnung 61 folgten zahlreiche Projekte zum Unterhalt, zur Kampfkraftsteigerung und zum AC-Schutz. Im Festungsbau fand ein Paradigmawechsel von den grossen Felswerken zu kleinen Monoblockanlagen mit wenig Besatzung und kompakter Bauweise statt.
Mit dem Rüstungsprogramm 1993[2] wurden acht BISON-Geschützbunker auf die Festungsgebiete St. Maurice, Gotthard und Sargans verteilt. Jede Batterie hatte zwei Monoblockbunker mit je zwei 15,5 cm Festungskanonen 89 L52 BISON. Die Bison-Batterien konnten dank ihrer Feuerkraft und mit ihren selbstzielsuchenden Granaten den Verlust der aufgehobenen Festungen mehr als ausgleichen.[3]
Truppeneinheiten (Stand 1994)
Die Festung wurde von den Werkkompanien 55, 56, 57, 58 und 59 betrieben. Das Festungsregiment 19 umfasste die Abteilung 1 mit den Kompanien I/1, II/1, III/1, IV/1 und den Haubitzen in der Kompanie V/1. die Abteilung 2 hatte die Kompanien I/2, II/2 und III/2. die Abteilung 3 die Kompanien I/3 und die Haubitzkompanie II/3. die Kompanie I/4 der Abteilung 4 war alleine in Follateres und die Kompanie I/22 und II/22 (Festungsminenwerkfer) waren als Abteilung 22 unterstellt.
Armee 95
Die am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Armeereform 95 brachte die tiefgreifendsten Veränderungen für die Festungstruppen in der ganzen Schweiz. Alle Grenz- und Reduitbrigaden wurden aufgelöst und die Festungsbrigaden mit reduzierter Truppenstärke umstrukturiert.
Armee XXI
Die Armeereform XXI bedeutete das endgültige Ende der Festung St. Maurice und der Festungsbrigade 10 im Jahr 2003.
Im Juni 2011 wurde die Festungartillerieabteilung 13, die für alle Bison und Festungsminenwerfer zuständig war, per Bundesratsbeschluss aufgelöst.
Heutige Verwendung
Die Anlage von Dailly ist heute der Standort der Infrastruktur/Hauptquartierschule 35.
Kommandanten der Festung/Garnison und der Festungsbrigade 10 (seit 1952)
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Festungen und Sperren des Festungsgebietes Saint-Maurice (geografisch)
Artilleriewerke (Rhoneaufwärts)
- Champillon A 365: bei der Sperrstelle Corbeyrier, 1942 schussbereit, zwei 10,5 cm Bunkerkanonen.[5]
- Festung Cindey A 155: Felswand westlich über St. Maurice, Panzerabwehrfort mit Infanterie und Artillerie, 1941–1946 erbaut, bis 1995 einsatzbereit, zwei 10,5 cm Panzerabwehrkanonen 46, vier 9 cm Panzerabwehrkanonen 50/57, Festungskompanie IV/1 mit 258 Mann für Cindey und Scex, seit 2002 für Besucher geöffnet.
- Fort du Scex - Ermitage A 160: Baubeginn 1911, Felswand westlich über St. Maurice, Flankierwerk für Savatan und Dailly, vier 7,5 cm Kanonen 1903, 1938 mit Batterie Ermitage mit vier 7,5 cm Kanonen vergrössert, Schlafraum für 120 Mann. Mit Fort Cindey durch die natürliche Höhle Grotte aux Fées verbunden.
- Toveyres A 140: Hang östlich St. Maurice, Bezirk Aigle, Achse Bex bis Chiètres, zwei 7,5 cm Kanonen, Gegenwerk für Cindey und Scex.[6]
- Petit-Mont A 130: nördlich Toveyres, Fluss Le Courset, Achse Bex bis Chiètres, zwei 7,5 cm Kanonen
- Savatan - Dailly/Aiguille A 200/250: (Hangfuss der Dent de Morcles, Lavey-Morcles), östlich St. Maurice, vier Bauperioden 1892–1894, 1895–1903, 1904–1910, 1911–1920, drei zusammengehörende Anlagen
- Vernayaz A 68/69: Felswand am südlichen Ortsrand von Vernayaz, Bezirk Saint-Maurice, Panzerabwehrfestung.[7]
- Follatères A 66: Rhoneknick nördlich von Martigny, 50 Scharten, Seilbahnzugang, vier 7,5 cm und zwei 10,5 cm Kanonen 39.[8]
- Crêtadon A 67: im Anschluss an die Festung Follatères als deren Gegenwerk
- Commeire A 27: Bezirk Entremont, vier 7,5 cm Kanonen, Gegenwerk zu Champex.
- Champex A 46: «Festung Grosser St. Bernhard», 1940–1943 erbaut, 4 Kasematten, 600 m Stollen, 300 Mann Besatzung, acht 10,5 cm und zwei 7,5 cm Kanonen, sechs Flabkanonen
- Kommandoposten Festungsbrigade 10 (Führungsanlage)
Sperrstellen Kantone Waadt und Wallis (Rhoneaufwärts)
Bezirk Aigle (Kanton Waadt)
- Col du Pillon
- La Comballaz
- Pierre du Moëlle
- Corbeyrier
- Larrevoin Veyges
- Sex de la Sarse
- Vuargny
- Collombey, Saint-Triphon
- Huémoz
- Panex
- Le Fenalet
- Gyron Fenalet
- Morgins
- Porte du Scex
- Bourg-Saint-Pierre
- Bourg-Saint-Bernard
- Champex
- Orsières
- Prayon
Bewaffnung mit 10,5 und 15 cm Kanonen und Festungsminenwerfer
- Champex: zwei 10,5 cm Haubitzen L42 (1942)
- Corbeyrier: zwei 10,5 cm Kanonen 39, L42 SL (1944)
- St. Maurice: zwei 10,5 cm Kanonen 39/46 L52 (1946)
- Dailly: zwei 10,5 cm Turmkanonen 39, L52, zwei 10,5 cm Festungskanonen 35/39, L42, vier 10,5 cm Kanonen L52 39/46 (1952), zwei 10,5 cm Haubitzen 46, L22, zwei 15 cm Turmkanonen 58, L42, zwei 15 cm Kanonen 42, L42 HL (1944), zwei 8,1 cm Festungsminenwerfer
- Martigny: zwei 10,5 cm Haubitzen (1942)
- Savatan: zwei 10,5 cm Haubitzen 42/84, L22, zwei 12 cm Festungsminenwerfer, ein 8,1 cm Festungsminenwerfer
Festungsmuseen und Vereine
- Fondation Forteresse historique de Saint-Maurice: Museen Fort Cindey, Scex und Dailly[11]
- Association des amis des forts de St-Maurice: Verein der Freunde der Festung Saint-Maurice [12]
- Association Saint-Maurice d'Etudes Militaires ASMEM[13]
- Association pour la Promotion et le Soutien de la Forteresse Helvétique APSF, Saint-Maurice, 1992 gegründet[14]
- Association Fort de Litroz betreut Werke am Col de la Forclaz, südwestlich Martigny[15]
- Fort de Chillon: Besuch auf Anfrage[16]
- Fort Champex A 46: Museum in Champex im Originalzustand inklusive 4 Kanonen[17]
- Fort Champillon Corbeyrier: Pyromin Museum – erstes europäisches Museum für Sprengstoff und Feuerwerk[18]
Literatur
- La Forteresse abandonnée. Mit Texten verschiedener Autoren und Photographien von Bernard Dubuis. Edition Pillet, Martigny 2001
- Jean Zeissig: Les fortification de Saint-Maurice, pourquoi? Verlag: Association Saint-Maurice, 1977
- Rochat Pierre: La Garnison de St-Maurice. Editions Cabédita, Divonne-les-Bains 2013 ISBN 978-2-88295-671-2
- Jean-Jacques Rapin: L’Esprit des Fortifications, 2003
- Jean-Jacques Rapin: De la Garnison de St-Maurice à la brigade de forteresse 10 (1892–2003), ASMEM St-Maurice, 2004
Weblinks
- Hans Stadler: Befestigungen. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Offizielle Website der Festung St.Maurice für den westlichen Festungsbereich: Museen Fort Cindey und Scex
- Festung St. Maurice: Geschichte des Fort Dailly
- Schweiz 1940: Festung St. Maurice
- Geschichte des Artillerie-Waffenplatzes St. Maurice, Savatan, Dailly
- VBS: Militärische Denkmäler Kanton Wallis
- Militärische Denkmäler Kantone Waadt und Genf
- Die Festung als Denkmal: Die Anlagen von St-Maurice in einem Bildband
- Schweizer Fernsehen vom 28. März 2014: Fort von Dailly
- RTS: Fort Dailly die grösste unterirdische Festung Europas
- Canal 9 Valais: Fort Dailly für das Publikum geöffnet, 28. März 2014
- Festungswelt.de: Schweiz
- Via Storia: Strassenbau und Militär in der Schweiz zwischen 1750 und 1850
Einzelnachweise
- ↑ VBS: Geschichte der Festungen in St. Maurice
- ↑ VBS Armasuisse, Rüstungsprogramme 1990–2003. 1993: 16 15,5-cm-Festungskanonen 89 Bison mit Munition
- ↑ Defense Threat Informations Group DTIG: Bison.
- ↑ Die Kommandanten der Festung/Garnison Saint-Maurice und der Festungsbrigade 10
- ↑ Fort Champillon: Website des ehemaligen Kommandanten.
- ↑ Festungswelt: Toveyres.
- ↑ Festungswelt: Vernayaz.
- ↑ Festungswelt Follatères.
- ↑ Fort de Chillon 1941–1942.
- ↑ Association Fort de Litroz.
- ↑ Besuch des historischen Forts Dailly.
- ↑ Verein der Freunde der Festung Saint-Maurice.
- ↑ Association Saint-Maurice d'Etudes Militaires ASMEM Verein für militärische Studien Saint-Maurice.
- ↑ APSF.
- ↑ Association Fort de Litroz.
- ↑ Fort de Chillon.
- ↑ Champex: Artilleriemuseum Fort Champex.
- ↑ Pyromin Museum.
Koordinaten: 46° 13′ 15″ N, 7° 0′ 11″ O; CH1903: 566385 / 118913