Moderner Begriff
Konstruktiv kritischer Gebrauch
Der heute moralisch vorwurfsvoll verwendete Begriff Spießer oder Spießbürger zeigt zunächst, dass der Begriff des Bürgerlichen (Bürgertum in Abgrenzung vom Arbeiterstand) hier an sich nicht mehr relevant ist. Der Spießbürger ist hier ein Bürger im allgemeinsten Sinne, also ein Staatsangehöriger, bzw. Angehöriger einer Gesellschaft.
Der Begriff lässt sich nicht etwa an Ängsten vor sozialen/politischen Konflikten/Veränderungen festmachen, denn die sind nur menschlich und daher an sich verzeihlich, sondern an einer moralisch verwerflichen Selbstzufriedenheit, bzw. Verleugnung solcher Ängste wider besseren Wissens oder sogar wider einer (verdrängten) besseren Überzeugung.
Einem Spießer ist also nicht seine Angst vorzuwerden, sondern seine Feigheit, nicht etwa diese oder jene Konformität, sondern ein Duckmäusertum/Heuchelei an sich. Er bedient sich allerlei Ausweich-/Fluchtstrategien, um sich der Austragung sozialer/politischer Konflikte zu entziehen. Der Vorwurf richtet sich im Kern also gegen das Element der (Selbst-)Lüge, des (Selbst-)Betrugs. Insbesondere soll der Begriff wohl da treffen, wo Selbstgerechtheit und Heuchlerei ein übertriebenes oder gar krankhaftes Maß annehmen. Freilich wird der Begriff hierdurch relativ, und ist schwer objektiv zu fassen.
Problematisch ist der Begriff zudem, sobald er absolut gesetzt wird, denn tatsächlich ist man allenfalls relativ 'spießig': Eine Gesellschaft setzt sich tatsächlich aus vielen Gesellschaften (Junge/Alte, Frauen/Männer, Heterosexuelle/Homosexuelle, Arbeitnehmer/Arbeitgeber, uvm.) zusammen. Jede Teilgesellschaft bringt ihre exklusiven Normen mit sich.
So lässt sich der Begriff z. B. nicht absolut auf Erwachsene oder alte Leute anwenden, die Jugendliche auf Verstöße gegen Normen (ihrer eigenen Teilgesellschaft) hinweisen, wo sie lediglich ihre echten Überzeugungen offen kundtun und sozialen Konflikt austragen, statt ihm auszuweichen. Umgekehrt ließe sich Jugendlichen kein 'absolut spießbürgerliches' Verhalten vorwerfen, solange diese fortfahren, ihre gesellschaftlichen Grenzen stets auszutesten, soziale Konflikte nicht zu meiden, sondern auzutragen. Beide Verhaltensweisen, 'erwachsenes Meckern' und 'jugendliche Provokation' sind nur natürlich und sozial sinnvoll.
Chauvinistischer Gebrauch (Schimpfwort)
Chauvinistisch und außerhalb echter (konstruktiver) Kritik wird der Spießer-Begriff verwendet, wo er herablassend und pauschalisierend gegen ‚Kleinbürger’ oder allgemein ‚kleingeistige’ Menschen geschmissen wird. Dort soll er, bewusst unscharf definiert, zur allgemeinen Selbstaufwertung des Beschimpfenden herhalten. Er wird in diesem Sinne an zahlreichen verbreiteten Klischees festgemacht, die nicht objektiv verallgemeinerbar sind (s. o.), sondern teilgesellschaftlich jeweils sehr subjektiv attributiert und insofern grundsätzlich austauschbar (Sonntagmorgens das Auto Waschen, Briefmarken Sammeln, Weihnachten mit Tannenbaum, Schlagermusik hören, uva.).
Etymologie
Die Bezeichnung geht auf die im Mittelalter in der Stadt wohnenden Bürger zurück, die ihre Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigten. Spießbürger unterschieden sich von den in der Vorstadt wohnenden Pfahlbürgern, gehörten jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft zu den eher ärmeren Bürgern, da sie bei den städtischen Fußtruppen Dienst taten, während wohlhabendere Bürger hierfür Söldner bezahlen konnten. Der Spieß als Waffe war relativ günstig herzustellen und zugleich gegen die adligen Ritterheere des Hoch- und Spätmittelalters effizient einzusetzen (siehe Pikeniere). Er verhalf Bürgern und Bauern in den Bauern- und Hussitenkriegen zu hohen Siegen in den Schlachten gegen die adlige Kavallerie. Die Bezeichnung „Spießbürger“ war früher durchaus positiv konnotiert, da der Dienst zur Verteidigung der Heimatstadt als Ehre angesehen wurde. Sie meint heute also gerade das Gegenteil, nämlich einen Bürger der von der Sicherheit der Gemeinschaf profitiert, aber sozusagen nicht mehr bereit ist, den 'Spieß' in die Hand zu nehmen.
Offenbar sank dann das Ansehen des „Spießbürgers“ und seiner Bezeichnung ab, „vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten“. „Jetzt gebraucht man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger“ (Wörterbuch Adelungs, 1811).[1] Studenten, die noch lange vor allem aus adeligem oder reichem Bürgerhaus kamen, verwendeten den Begriff schließlich in ihrer Studentensprache. „Spießbürger“ wurde so – ähnlich dem Ausdruck „Philister“ – eine gängige Bezeichnung, die Höhergestellte gegenüber kleinbürgerlichen und aus ihrer Sicht engstirnigen Menschen gebrauchten. Diese Verwendung zeigt sich z.B. bei Heinrich Heine, der 1826 über Göttingen schrieb, wo er wenige Jahre zuvor ein Semester studiert und eines relegiert verbracht hatte:
- „Im Allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingetheilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh... Die Zahl der göttinger Philister muß sehr groß seyn, wie Sand, oder besser gesagt, wie Koth am Meer; wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnungen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur so viel Lumpenpack erschaffen konnte.“[2]
In der Schweiz werden Spießbürger auch als Bünzli[3] oder als Füdlibürger[4] (Füdli = Hinterteil) bezeichnet.
Marxistische Begriffsverwendung
Eine bemerkenswerte Funktion bekam der Begriff bei Karl Marx. Aus wohlhabender Familie und studiert waren ihm die beiden Schimpfwörter geläufig. Er selbst verwendete sie ebenfalls, jedoch nun mit dem Unmut darüber verbunden, dass sich die aus seiner Warte niederen Kleinbürger nicht für den Gedanken einer sozialen Revolution erwärmen konnten. Der Groß- und Bildungsbürger Marx, ab 1843 verheiratet mit Jenny von Westphalen, warf also den unter ihm stehenden Kleinbürgern vor, mit den noch tiefer eingeordneten Proletariern kein Bündnis gegen Großbürgertum und Adel eingehen zu wollen. Diesem Unmut verlieh er 1843 in einem Brief an Arnold Ruge Ausdruck:
- „Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt... Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben“. „Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides wollen die Spießbürger nicht sein“.[5]
In seinem Kommunistischen Manifest schrieb Marx 1848:
- „In Deutschland bildet das … Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“[6]
Da die Kleinbürger insgesamt zufrieden mit ihrem gesellschaftlichen Platz zu sein schienen, galten sie Marx und seinen Nachfolgern als Hindernis auf dem Weg zur kommunistischen Umwälzung. Aus einem despektierlichen sozialen Abgrenzungsbegriff war ein politischer Kampfbegriff gegen eine ganze Volksklasse geworden.
Dieser kommunistische und sozialistische Gebrauch des Begriffs wurde weitergetragen, z.B. beim Naturalisten Arno Holz 1886:
- „Pst! Pst! sonst wackeln die Kronen,
- Ihr Herrn Professoren, seid still!...
- Und die fettigen Spießbürger loben
- Die brave Polizei.“[7]
Dichter wie Tucholsky, Brecht und Horvath setzten dies fort.[8]
Verwendung ab dem 20. Jahrhundert
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff durch die Kurzform Spießer und das Adjektiv spießig erweitert. Neuerdings finden die Begriffe vereinzelt Anwendung selbst auf auch (vermeintlich) 'linke' Gruppierungen, da Kritiker deren Position im Zuge des Marsches durch die Institutionen als neuen Mainstream sehen. Die taz, die in einer Artikelreihe die Neue Bürgerlichkeit erörterte, nutzte den Begriff Spießer in einer darauf bezugnehmenden Abo-Kampagne („Werden Sie Neo-Spießer“). Damit wird also nicht linken Gruppierungen ein Spießertum zugewiesen, sondern das (wahrhaftige) 'Links-Sein' abgesprochen. Denn ein 'linker Spießer' ist (und bleibt) ein Widerspruch in sich, wenn man beide Begriffe im unverwässerten Ursinne versteht.
Literarische Interpretationen
In seinem 1930 erschienenen Roman Der ewige Spießer charakterisiert der Schriftsteller Ödön von Horváth einen Spießer als einen „hypochondrischen Egoist, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet“. Der Spießer reise in der Welt herum und würde doch nur sich selbst sehen. Was gut und böse sei, wüsste er, ohne nachzudenken.
Die Literatur des 19. Jahrhunderts scheint zwei Kategorien von Spießern zu kennen: Charles Dickens schildert den gutmütigen Spießer – gemeint sind Menschen, die einer oberflächlichen Geselligkeit frönen und sich zudem gerne in Vereinen aufhalten. Harmlose Scherze und eine Art familiäres Treiben herrschen vor. Die bösartigen Varianten von Spießern tauchen bei Honoré de Balzac in seinem Roman Die Kleinbürger auf, den Gehässigkeit, Klatschsucht, Verleumdung und Verrat, Dünkel, Besserwisserei und Aufgeblasenheit auszeichnen. Der Untertan in Heinrich Manns gleichnamigem Roman von 1918 ist ein autoritätshöriger Opportunist, Mitläufer und Konformist. Vieles daran erinnert an Adornos „Autoritäre Persönlichkeit“.
Literatur
- Deutsches Wörterbuch Bd. 16 (neue Zählung) Sp. 2455, Artikel Spieszbürger. Auch online verfügbar.
- Hermann Glaser: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert (1964). Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-596-24351-3.
- Karl Heisig: Dt. Philister = Spießbürger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83 (1964), S. 345–350.
- Laura Kajetzke: Der Spießer. In: Stephan Moebius, Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-12573-1, S. 366–380.
- Gerd Stein (Hrsg.): Philister – Kleinbürger – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1985 (= Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 4), ISBN 3-596-25038-2.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_2_1_1544
- ↑ Aus: Reisebilder. Erster Teil: Die Harzreise (1826), zit. nach: DHA, Bd. 6, S. 84.
- ↑ Bünzli – Spiessbürger, Eintrag im Mundartlexikon des Schweizer Radios DRS, abgerufen am 4. Januar 2014
- ↑ Füdlibürger engherziger, armseliger Spiessbürger, Eintrag im Mundartlexikon des Schweizer Radios DRS, abgerufen am 4. Januar 2014
- ↑ Karl Marx: „Deutsch Französische Jahrbücher“, 1. Doppellieferung, Februar 1844. MEW; http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_337.htm.
- Als die bürgerliche Revolution von 1848 scheiterte, neigte Marx zur Verachtung auch desjenigen Teils des deutschen Bürgertums, das auf liberale und demokratische Veränderungen hinarbeitete. Da es sich nicht durchsetzen konnte, setzte er auch diesen Teil des Bürgertums nun mit dem konservativen, im kommunistischen Manifest kritisierten „Kleinbürgertum“ oder „Spießbürgertum“ gleich.
- (Karl Marx/Friedrich Engels:Die großen Männer des Exils; http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_261.htm)
- ↑ (Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, S. 64; http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm)
- ↑ Arno Holz: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1886; http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/holz_buch_1886/?hl=Spie%C3%9Fb%C3%BCrger&p=377
- ↑ Nachweise bei Heinz Hahn: Ihr Spießer! Eine Analyse des Spießertums. Berlin 2009; siehe bei google/books