Tradition
Begriff
Etymologie
Tradition meint 1. das Überlieferte, die Überlieferung, 2. Gepflogenheit, Konventionen, 3. das Überliefern, die Weitergabe.
Das Wort stammt von lat. traditio ("Übergabe, Auslieferung, Überlieferung"). Das Substantiv leitet sich wiederum her vom Verb tradere (aus "trans-" 'hinüber-' und -dare 'geben'). Die Wortbedeutung entspricht weitgehend dem alt-gr. Wort paradosis.
Zwei Hauptbedeutungen lassen sich unterscheiden: 1. Tradition als kulturelles Erbe und 2. Tradition als Tradierung.
Tradition als kulturelles Erbe
Unter Tradition wird in der Regel die Überlieferung der Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten sowie der Sitten und Gebräuche einer Kultur oder einer Gruppe verstanden. Tradition ist in dieser Hinsicht das kulturelle Erbe, das von einer Generation zur nächsten Weitergegeben wird. Wissenschaftliches Wissen und handwerkliche Kunst gehören ebenso dazu, wie Rituale, moralische Regeln und Speiseregeln.
Neben diesen hochkulturellen Inhalten werden zuweilen auch nur temporär gültige Üblichkeiten als Tradition bezeichnet. In diesem Sinne wird der Ausdruck traditionell gebraucht; es ist das Übliche und Gewohnte. Der eher bildungssprachliche Ausdruck traditional wird dagegen auf die hochkulturellen Inhalte bezogen.
Tradition als Tradierung
Seltener bezeichnet Tradition die Tradierung, also den Prozess der Überlieferung selbst, auch wenn in systematischer Hinsicht der Traditionsprozess die Grundlage für die Tradition als kulturelles Erbe bildet.
Traditionstheorie
Traditionstheorien gibt es in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen: In der Ethnologie, der Soziologie, der Philosophie, der Theologie, der Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft. Dabei konzentrieren sich die einzelnen Wissenschaften jeweils auf Teilaspekte des Phänomens Tradition. Bislang liegt kein Ansatz für eine systematisch entwickelte Traditionstheorie vor.
Traditionskritik
Historisch-kritische Methode
Traditionskritik ist zum einen der Name einer Methode der historisch-kritischen Textforschung. Die Methode dient dazu, in verschriftlichten Texten die zugrundeliegenden mündlich verbreiteten Fassungen zu rekonstruieren (z.B. bei biblischen Texten oder Märchen).
Kritik der Tradition
Traditionskritik ist zum anderen eine Bezeichnung der Kritik an Tradition als dem überlieferten, kulturellen Bestand.
Tradition wird problematisch, wenn Formen sich verselbstständigen, deren ursprünglicher Sinn verloren ging.
In Europa begann mit Rationalismus und Aufklärung ein kritisches Infragestellen überlieferter Formen des Wissens, Glaubens und der Moral. Mit der Betonung des Vernunftprinzips (das an die Stelle des reformatorischen Schriftprinzips trat) wurde die Gültigkeit jedes Traditionsprinzips in Frage gestellt. Darauf reagierte schon frühzeitig der Französische Traditionalismus, Ausdruck der konservativen Reaktion.
Das Kräftemessen von Tradition und Vernunft hält bis in die Gegenwart an. Zusammen mit der Eigendynamik eines rationalisierenden Kapitalismus und den Folgen kultureller und ökonomischer Globalisierung ist derzeit eine weltweite Revision überkommener Werte und Überlieferungen zu beobachten. Als Gegenreaktion sind ebenfalls weltweit fundamentalistische Tendenzen zu verzeichnen. Wie schon der Reaktionismus des Franz. Traditionalismus ist die konservative Reaktion in der Gegenwart häufig religiös legitimiert und gewaltbereit.
Tradition in den Kultur- und Geisteswissenschaften
Ethnologie
Geschichtswissenschaft
In den vergangenen Jahren sind so genannte "erfundene Traditionen" ("invented traditions vgl. Eric Hobsbawm"), die zur Legitimierung bestimmter Dinge und Handlungsweisen dienen sollen, zunehmend ins Blickfeld der Historiker gekommen.
Rechtswissenschaft
In der antiken Rechtssprache (röm. Recht) war Tradition (traditio) der Übergabeakt einer (beweglichen) Sache z.B. bei der Vererbung und beim Kauf. Daher auch die noch heute manchmal begegnende Verwendung von Tradition als Auslieferung (vgl. ).
Tradition und Religion
Allgemein
Tradition im Katholizismus
In der röm.-kath. Kirche wird unter Tradition die nachbiblische, aber genauso verbindliche Glaubenslehre seit den Aposteln und Kirchenvätern verstanden. Als Traditionsprinzip dient diese Glaubenslehre in der röm.-kath. Exegese zur Auslegung der Heiligen Schrift; nach röm.-kath. Auffassung kann die wahre Aussage biblischer Texte nur durch die Auslegungstradition der Kirche verstanden werden. Das Traditionsprinzip ergänzt demnach das Schriftprinzip.
Tradition im Protestantismus
Seit der Reformationszeit, in der das röm.-kath. Traditionsverständnis kritisiert wurde, entwickelte sich der Begriffsgegensatz von Schrift und Tradition. Das Traditionsprinzip wurde zugunsten des Schriftprinzips als notwendiges Element des wahren Schriftverständnisses aufgegeben; nach evangelischer Lehre ist die Heilige Schrift selbsterklärend und deshalb allein die Schrift verbindlich für Fragen des Glaubens (vgl. sola scriptura). Die neuzeitliche Traditionskritik verdankt sich wesentlich des traditionskritischen Impulses der Reformation.
Tradition im Judentum
Tradition ist im Judentum immer im Zusammenhang von Tradierung, Lehre und Erinnerung gesehen worden. In Dtn 6 (5. Mose 6) findet sich die Anweisung, das jüdische Glaubensbekenntnis als Summe des (göttlichen) Gesetzes an den Sohn weiter zu geben, dass dieser es an seinen Sohn weiter gebe. Ausserdem soll die Erinnerung an die Geschichte des eigenen Volkes tradiert werden. Kern des jüdischen Traditionsverständnisses ist das Gesetz, die Tora. Bei der Überlieferung der Tora wird unterschieden zwischen der schriftlichen Tora (die sog. 5 Bücher Mose) und der mündlichen Tora, der überlieferten Auslegung der schriftlichen Tora. Diese ist wiederum zum Teil verschriftlicht im Talmud. Die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Tora entspricht der Unterscheidung von Schrift und Tradition im Christentum. Einen eigenen Begriff für solche Tradition gibt es im AT nicht. Es gibt wohl das Wort magan, das überliefern im Sinne von ausliefern meint, nicht aber im hier behandelten Sinn. Ein solches Wort entwickelt sich erst später aus dem Wort masorät (das Verpflichtende, Bindende). Daraus leiten sich die Masoreten her, eine jüdische Gelehrtengruppe im Mittelalter, die die Masora erstellt haben. Die Masoreten haben sich um die textkritische, schriftliche Überlieferung des AT verdient gemacht. Masora gilt heute als Kernbegriff des jüdischen Überlieferungsverständnisses.
Tradition im Islam
Zitate
- "Tradition ist nicht das Halten der Asche
- sondern das Weitergeben der Flamme."
- Thomas Morus (1477/78-1535)
- "Es erben sich Gesetz und Rechte
- Wie eine ewge Krankheit fort;
- Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
- Und rücken sacht von Ort zu Ort.
- Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
- Weh dir, daß du ein Enkel bist!
- Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
- Von dem ist, leider! nie die Frage."
- Goethe, Faust I
Weiteres
Siehe auch
Weblinks
Literaturdatenbank Traditionstheorie
Texte, Zitate und Links zum Thema Tradition