Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929
Als Jungenschaft bezeichneten zahlreiche Bünde der bündischen Jugend seit den 1920er Jahren die Altersstufe der 10- bis 18-Jährigen. Diese Bezeichnung wird heute noch gebraucht, beispielsweise in der Deutschen Freischar und in Teilen des CVJM.
Einen neuen Inhalt gewann das Wort durch Eberhard Koebel, auch bekannt unter seinem Fahrtennamen tusk, der aus Ablehnung des in der bündischen Jugend verbreiteten Lebensbund-Prinzips heraus einen reinen Jungenbund gründete, die Deutsche Jungenschaft vom 1. 11. 1929 (auch: Deutsche Autonome Jungenschaft vom 1. 11. 1929), bekannter unter der Abkürzung dj.1.11.
Diese Jungenschaften sahen und sehen sich nach Wandervogel und bündischer Jugend als dritte Welle der deutschen Jugendbewegung, viele Historiker zählen sie heute aber zur bündischen Jugend.
Vorkriegsjungenschaften
Eberhard Koebel gründete am 1. November 1929 die Deutsche Jungenschaft vom 1. 11. 1929 (dj.1.11) innerhalb der Deutschen Freischar als Aufstand der Jungen gegen das Bündische, das einen Lebensbund zum Inhalt hatte und somit Älteren großen Einfluß auf die Jungengruppen sicherte.
Koebel prägte mit dj.1.11 einen neuen Stil von Jugendbünden. Er forderte mehr Verbindlichkeit und Engagement von den Mitgliedern und wollte ihnen eindrückliche Erfahrungen vermitteln, indem die Gruppen beispielsweise die extremsten Fahrten und Lager durchführten oder die „heldenhaftesten Jungen und Führer“ hatten. Er regte die Nordland- und Russlandromantik an, die man heute noch in der Bündischen Jugend wiederfindet (insbesondere im Liedgut). dj.1.11 führte außerdem die Kohte, die Jurte und die Jungenschaftsbluse in die bündische Jugend ein.
Wichtig für das Selbstverständnis der Jungenschaft war vor allem der Anspruch, vollkommen unabhängig zu sein. Die Jungen sollten als „Selbsterringende“ handeln, also Neues selbst gestalten, und nicht als „Wiederholende“, also nur bereits Vorhandenes nachmachen. Diesem Selbstverständnis entsprechend richteten sich die Jungenschaften anders als andere Gruppen ihrer Zeit an der Moderne und ihrer Ästhetik aus, vor allem am Bauhaus.
1932 wurde Koebel Mitglied der KPD, gleichzeitig gab er die Führung der Jungenschaft ab. Seine Hinwendung zum Kommunismus wurde nicht widerspruchslos aufgenommen und die Jungentrucht, die sich 1930 der Deutschen Jungenschaft angeschlossen hatte, spaltete sich nun wieder ab.
Neben den beiden größeren Bünden dj.1.11 und Jungentrucht entstanden Anfang der 1930er Jahre mehrere kleinere Bünde, die sich ebenfalls als Jungenschaft bezeichneten.
Exkurs: Kultur
Jungenschaften in der Prägung von dj.1.11 verstehen sich selbst als ein Milieu, das durch die in den Jungenschaftsgruppen gepflegte Kultur stark geprägt wird. Da diese Kultur für die Beschreibung von Jungenschaften von zentraler Bedeutung ist, wird sie hier am konkreten Beispiel des zentralen jungenschaftlichen Bundes dj.1.11 kurz dargestellt.
Zentrales Ritual von dj.1.11. war die Fahnenwache, ein meditatives Stehen vor der aufgespannten Fahne. Typisch für dj.1.11 war auch das Einstudieren von Sprechchören. Das Stockfechten wurde als Übungsfeld der Selbstdisziplin verstanden. Banjo und Balalaika fanden über die Jungenschaft Einzug in die Jugendbewegung. Eine Besonderheit war auch das Einstudieren von Chorsätzen (besonders solchen russischen Ursprungs), wodurch die Disziplin und Gemeinschaft in den Gruppen betont werden sollte. Der szenische Tanz mit ausgefeilten Choreografien war ein fester Bestandteil von Festen und Lagern. Es gab – für Jugendgruppen der damaligen Zeit eine Ausnahmererscheinung – Ansätze für filmische Produktionen. In der Photographie ließen die Jungenschafter sich vor allem von den modernen russischen Photographen inspirieren. Angeregt vom Bauhaus wurde das Prinzip der Kleinschreibung verfolgt. Nach 1932 setzten sich viele Jungenschaftshorten angeregt durch Koebels Monatsschrift "Die Kiefer" intensiv mit asiatischer Philosophie und kultureller Praxis auseinander. In dieser Auseinandersetzung ist eine der Wurzeln des jungenschaftlichen Jugendwiderstandes gegen die Nationalsozialisten zu sehen.
Die Kluft der dj.1.11. waren die blaue Jungenschaftsbluse, eine Kordel (die Farbe bezeichnete die Funktion, beispielsweise Hortenführer) und Tuchhosen. Spätere Jungenschaften haben diese Kluft zumindest teilweise übernommen, beispielsweise die deutsche jungenschaft. Einige von ihnen, wie die Ordensjungenschaft, sind hier neue Wege gegangen.
Illegalität
Das aufkommende Dritte Reich mit seinem Absolutheitsanspruch in der Jugendarbeit stellte die Fortexistenz der unabhängigen Jungenbünde in Frage. Anders als andere Bünde schloß sich dj.1.11 nicht der kurzlebigen bündischen Sammelgruppierung Großdeutscher Bund an. Statt dessen versuchte dj.1.11 zunächst, das Jungvolk der Hitler-Jugend zu unterwandern, um innerhalb dieser Strukturen die Fortexistenz jungenschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Von anfänglichen Erfolgen abgesehen scheiterte dieser Versuch: Jungenschafter, die ihren Idealen treu blieben, wurden vor allem nach 1934 verhaftet und aus dem Jungvolk herausgedrängt oder verließen es freiwillig –auch nachdem sie hierzu durch Koebel aufgefordert wurden. Nachdem die Jungenschaft als feste Organisation nicht mehr existieren konnte, wurde in der Zeitung „Die Kiefer“ und in Koebels Buch „Die Heldenfibel“ der erfolgreiche Versuch unternommen, die Fortexistenz von dj.1.11 als Gesinnungsgemeinschaft, als „geistiger Orden“, zu ermöglichen.
Nach 1933 nahm die Breitenwirkung der autonomen Jungenschaft stark zu. Angehöriger vieler anderer Bünde übernahmen Stilformen, Überzeugungen und Verhaltensweisen von dj.1.11. Neben dem Nerother Wandervogel war es vor allem der Einfluß von dj.1.11, die den Staat die Gruppen, die die verbotene Bündische Jugend fortführten, als die gefährlichesten politisch-oppositionellen Gegner ansehen ließ (Verlautbarung des RSHA der SS vom 17. März 1943).
Eine Vielzahl von Jungenschaftsgruppen existierte trotz mehrmaligen Verbots fort. Trotz in Anzahl und Intensität im Laufe der Zeit zunehmender Übergriffe durch die HJ und die Staatsgewalt gingen die Jungenschaftshorten weiter auf Fahrt, trafen sich zu regelmäßigen Gruppenstunden und pflegten ihre Kultur.
Viele dieser Gruppen versuchten in einer frühen Phase des Dritten Reiches vor allem ihre Fortexistenz zu sichern. Im Zuge der Erfahrungen mit dem Nazi-Staat sind viele Gruppen auch zum aktiven Widerstand übergegangen: In mehreren Städten wurden HJ-Angehörige überfallen, teilweise gab es regelrechte Straßenschlachten mit der HJ. An einigen Orten ging der Widerstand so weit, daß Menschen außer Landes geschmuggelt wurden und sogar vor allem während des Krieges Sabotageakte vollzogen wurden.
Kontakte wurden gepflegt zu verschiedenen Widerstandskreisen im In- und Ausland, u.a. zu Karl Otto Paetel in Paris.
Der aktive Widerstand führte dazu, daß manche, die von dj.1.11 geprägt worden waren, von den Nazis ermordet wurden. Genannt seien hier nur Hans Scholl (ursprünglich dj.1.11 Ulm - Trabanten), Willi Graf (ursprünglich Deutschmeister-Jungenschaft) und Helle Hirsch (ursprünglich dj.1.11 Stuttgart - Rominshorte). Andere saßen in Konzentrationslagern und Zuchthäusern ein oder fanden während des Krieges in sog. Bewährungseinheiten den Tod.
Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß es durchaus auch Personen gab, die einst Jungenschafter gewesen waren und im Dritten Reich Nationalsozialisten wurden. Dies schränkt allerdings nicht die Bedeutung von dj.1.11 ein, "die wohl wichtigste Gruppe für die Herausbildung des bündischen Gegenmilieus" (Wilfried Breyvogel, S. 435) gewesen zu sein.
Nachkriegsjungenschaften und Gegenwart
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu keiner Wieder- oder Neugründung einer einheitlichen dj.1.11. Stattdessen bildeten sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Jungenschaftsgruppen, die in ihrer Mehrheit eher in der Tradition der "weißen" Vorkriegsjungenschaft standen. Gleichzeitig gab es auch Gruppen, die sich als Fortführung der "roten" dj.1.11 ansahen.
Kurz nach Kriegsende gründete sich die deutsche jungenschaft e.v. Bald folgten der dj.1.11-Bund, autonome Horten und Hortenringe wie das Kartell deutscher Jungenschaften. Der eher der Deutschen Freischar vor 1933 ähnliche Bund deutscher Jungenschaften entstand aus der Jungentrucht, dem Jungwandervogel und der Jungenschaft im Bund.
Manche der neuen Jungenschaftsbünde orientierten sich nicht mehr so stark an an der Vorkriegsjungenschaft, eine zentrale Figur für einige dieser Gruppen war Walter Scherf (Fahrtenname tejo). Andere Jungenschaftsbünde, vor allem der dj.1.11-Bund, können mehr als „orthodoxe“ Erben von dj.1.11 betrachtet werden und bezogen ihre Vorstellungswelten hauptsächlich aus Koebels „Heldenfibel“.
Heute gibt es immer noch einige, zahlenmäßig nicht sehr starke, Jungenschaftsbünde, die sich in unterschiedlichem Ausmaße in der Nachfolge von dj.1.11 sehen. Die Jungenschaften betonen vor allem das Ziel des „Selbsterringens“, das Koebel im „Gespannten Bogen“ programmatisch formuliert hatte. Heutige Gruppen legen in einem unterschiedlichen Maß Wert auf Aspekte vergangener jungenschaftlicher Vorstellungen: Während sich die deutsche jungenschaft (bis 1996 mit dem Namenszusatz Neubund) in ihrem Erscheinungsbild stark der Vorkriegs-dj.1.11 annähert und gedanklich mehr an die Nachkriegsjungenschaft anknüpft, betont die Ordensjungenschaft besonders eine modernisierte Fassung des von dj.1.11 propagierten Ordensgedankens. Die graue jungenschaft versucht eine Symbiose aus Jungenschaftsgedanken und Grauem Corps zu bilden. Wieder andere Gruppen wie die Freie Jungenschaft betonen im besonderen Maße linkes politisches Handeln, was unter anderm seinen Ausdruck in der Besetzung einer Ölplattform im Wattenmeer fand.
Auch in der kirchlichen, vorwiegend der evangelischen, Jugendarbeit und im CVJM hat sich der Begriff der Jungenschaft für Jungengruppen erhalten. Allerdings haben diese Gruppen größtenteils andere Wurzeln als dj.1.11. Auch wenn es vereinzelt christliche Jungenschaften gibt, die sich selbst durchaus als in der Tradition von dj.1.11 stehend sehen, wird von Kritikern oft betont, dass eine konfessionelle Bindung mit dem Autonomieideal von dj.1.11 nicht in Einklang zu bringen ist.
Im Juni 1988 trafen sich in Minden ehemalige Angehörige der verschiedenen Nachkriegsjungenschaften von "deutsche jungenschaft e.v." bis "Bund deutscher Jungenschaften" und beschlossen einen offenen bündischen Älterenkreis zu gründen, den "mindener kreis". Seitdem lädt der "mindener kreis" jedes Jahr im Juni zu einem offenen Treffen an unterschiedlichen Orten ein. Der "mindener kreis" arbeitet eng mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein zusammen, in dem sich auch ein Teil des Nachlasses von Eberhard Koebel befindet.
Literatur
- Wilfried Breyvogel: Jugendliche Widerstandsformen - Vom organisierten Widerstand zur jugendlichen Alltagsopposition, in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Schriftenreihe Band 323, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1994. ISBN 3-89331-195-5
- Paulus Buscher: Das Stigma. Verlag Siegfried Bublies, Koblenz 1988. ISBN 3-926584-01-7
- Paulus Buscher: dj.1.11. Der Finalbund der deutschen Jugendbewegung. in: jungenschaft 1, Sabershausen 1990
- Achim Freudenstein (Hg.): Die Kiefer 1933/1934, vollständiger Nachdruck. ohne Verlags- und Ortsnennung 1994
- Helmut Grau: dj.1.11. Struktur und Wandel eines subkulturellen jugendlichen Milieus in vier Jahrzehnten. dipa, Frankfurt am Main 1976. ISBN 3-7638-0213-4
- Eckhard Holler: Die Ulmer „Trabanten“. Hans Scholl zwischen Hitlerjugend und dj.1.11. Puls 22. Verlag der Jugendbewegung, Stuttgart 1999. ISSN 0342-3328
- Bettina Joergens: Männlichkeiten. Deutsche Jungenschaft, CVJM und Naturfreundejugend in Minden, 1945-1955. Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2005. ISBN 3-935035-57-8
- Eberhard Koebel: Die Heldenfibel. Günther Wolff, Plauen 1933
- Eberhard Koebel: Der gespannte Bogen: eine Flugschrift zur deutschen Jungenschaft. Achims Verlag, Edermünde 1994
- Meino Naumann (Hrsg.): Aber am Abend laden wir uns ein. Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2001. ISBN 3-935035-27-6
- Fritz Schmidt: Deutsche Jungenschaft 1945–1951. Puls 19. Südmarkverlag, Witzenhausen 1991. ISSN 0342-3328
- Johannes Ernst Seiffert: Eberhard Köbels Entwurf. Werkstatt-Verlag, Kassel 1985
Weblinks
Geschichtliches:
- Hortenchronik der dj.1.11 schleswig - zur Nachkriegsjungenschaft
- dj.1.11 – zum Milieu der Nachkriegsjungenschaften
Autonome Jungenschaftsgruppen:
- deutsche jungenschaft (Neubund)
- ehemalige jungenschaft grenzlandfahrer
- graue jungenschaft
- Freie Jungenschaft
Konfessionelle Jungenschaftsgruppen: