Gemeinschaftsdiagnose
Das Gemeinschaftsdiagnose ist eine gemeinschaftliche Konjunkturprognose, die die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute jeweils im Frühjahr und im Herbst eines Jahres unter dem Titel Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft erstellen. Auftraggeber ist die Bundesregierung, vertreten durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit. Die erste Gemeinschaftsdiagnose wurde 1950 verfasst.
Beteiligt am Gutachten sind das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA), das Ifo Institut für Wirtschaftsforschung e. V. München, das Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW), das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI). Die sechs Institute haben sich hierzu zur Arbeitsgemeinschaft deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute (ARGE) zusammengeschlossen.
Ergebnisse der Gemeinschaftsgutachten 2005
2004 hat sich die deutsche Wirtschaft aus einer dreijährigen Stagnationsphase gelöst. Die gesamtwirtschaftliche Produktion, das Bruttoinlandsprodukt, ist um 1,6 % gestiegen.
Für 2005 erwarten die führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute in ihrem im Oktober 2005 vorgelegten Herbstgutachten ein Wirtschaftswachstum von nur noch 0,8 %. Berücksichtigt man aber, dass es 2005 deutlich weniger Arbeitstage als 2004 gibt, dürfte das Wirtschaftswachstum 2005 mit rund 1 % etwa ebenso hoch ausfallen wie 2004. Rund ein Drittel des Wachstums im Jahr 2004 war der höheren Zahl von Arbeitstagen zuzuschreiben.
Im Vergleich zu ihrem vor einem halben Jahr veröffentlichten „Frühjahrsgutachten“ hoben die Institute ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2005 geringfügig um 0,1 Prozentpunkte an. Für das Jahr 2006 sind sie allerdings weniger optimistisch als noch im Frühjahrsgutachten. Die Prognose wurde von 1,5 % auf 1,2 % zurückgenommen.
Ähnlich schwach wie Deutschland ist in den letzten Jahren kaum ein anderes Industrieland gewachsen. Die sogenannte Trendwachstumsrate der deutschen Wirtschaft ist in den letzten 15 Jahren stetig bis auf ein Prozent zurückgegangen. In Europa liegt die Trendwachstumsrate dagegen bei rund 2 Prozent, in den USA sogar bei rund 3 Prozent. Die Institute zogen vor diesem Hintergrund bereits in ihrem Frühjahrsgutachten 2005 die Schlussfolgerung: „Deutschland hat kein Konjunktur-, sondern ein Wachstumsproblem.“ Sie fordern weitreichende wirtschaftspolitische Reformen.
Konjunkturentwicklung 2005
Für den Konjunkturverlauf 2005 ziehen die Institute auf der Basis der Ergebnisse der ersten drei Quartale folgende vorläufige Bilanz:
Impulse für das Wachstum der deutschen Wirtschaft gingen 2005 nur von der weiterhin kräftig wachsenden Weltwirtschaft aus. Die Ausfuhr stiegen deutlich stärker (+ 5,9 %) als die Einfuhr (+ 4,2 %) Die Binnenwirtschaft kam nach wie vor nicht in Schwung.
Die Kaufkraft der privaten Haushalte wurde bei nur wenig höheren Löhnen durch die stark gestiegenen Energiepreise gedämpft. Der Anstieg der Verbraucherpreise beschleunigte sich auf 2,1 %. Der private Verbrauch ging nach Abzug der Preissteigerung zurück (- 0,5 %).
Weiterhin rückläufig entwickelten sich die Bauinvestitionen (- 4,9 %). Lediglich die Ausrüstungsinvestitionen zogen an (+ 4,1 %). Die gesamten Anlageinvestitionen waren erneut rückläufig (- 0,9 %).
Die Zahl der Arbeitslosen, die 2004 annähernd stagniert hatte, nahm um rund eine halbe Million auf fast 4,9 Millionen zu. Der hohe Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr war zwar überwiegend darauf zurückzuführen, dass mit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger jetzt als Arbeitslose registriert werden. Aber auch ohne diesen Sondereffekt stieg die Arbeitslosenzahl.
Die Zahl der Erwerbstätigen nahm zwar geringfügig um 0,2 % zu. Dies war jedoch in erster Linie auf den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente zurückzuführen. Besonders die so genannten Ein-Euro-Jobs sorgten für eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit im Laufe des Jahres. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ging weiter zurück.
Keine wesentlichen Fortschritte ergaben sich hinsichtlich der Verringerung des gesamtstaatlichen Haushaltsdefizits. Es sank nur geringfügig auf 3,5 % des nominalen Bruttoinlandsproduktes, obwohl die Ausgaben nur schwach zunahmen und Sonderfaktoren wie Forderungsverkäufe den Haushalt entlasteten. Belastend wirkten die schwache Konjunktur und Änderungen im Steuerrecht.
Konjunkturentwicklung 2006
2006 erwarten die Forschungsinstitute folgende Konjunkturentwicklung:
Die nur wenig schwächer wachsende Weltwirtschaft stützt weiterhin die wirtschaftliche Lage in Deutschland. Dafür spricht der kräftige Anstieg der Auftragseingänge aus dem Ausland. Im Laufe des kommenden Jahres wird sich die Dynamik der Auslandsnachfrage allerdings etwas verlangsamen.
Die Ausrüstungsinvestitionen steigen zwar besonders in den exportnahen Bereichen weiter an (+ 4,6 %). Insgesamt bleibt die Binnennachfrage bei einem weiteren wenn auch abgeschwächten Rückgang des privaten Verbrauchs (-0,2 %) und der Bauinvestitionen (- 1,2 %) jedoch schwach. Immerhin steigen 2006 dank anziehender Ausrüstungsinvestitionen die gesamten Anlageinvestitionen (+ 1,4 %) erstmals wieder.
Im Ergebnis ist im Jahresdurchschnitt 2006 mit einer leichten Beschleunigung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts auf 1,2 % zu rechnen.
Für eine durchgreifende Wende am Arbeitsmarkt reicht diese konjunkturelle Entwicklung nicht aus. Die Arbeitslosenzahl wird 2006 zwar um rund 120.000 Personen auf rund 4,8 Millionen zurückgehen. Dies ist jedoch in erster Linie auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zurückzuführen. Der Rückgang der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kann erst im zweiten Halbjahr von einer geringfügigen Zunahme abgelöst werden.
Die Verbraucherpreise werden auch 2006 um etwa 2 % ansteigen. Grund sind die gestiegenen Energiepreise, die sich jedoch im Laufe des kommenden Jahres stabilisieren dürften.
Bei weiterhin moderat steigenden Ausgaben ist eine deutliche Annäherung des Haushaltsdefizits an die Zielgröße des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 3 % des Bruttoinlandsprodukts zu erwarten. Das Defizit dürfte auf auf 70 Mrd. Euro sinken, das sind 3,1 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts.
Annahmen und Risiken der Konjunkturprognose der Forschungsinstitute
Die Institute gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft weiterhin kräftig wächst. Das Volumen des Welthandels nimmt 2005 um 6,5 % und 2006 um 7 % zu. Die deutsche Wirtschaft ist bei moderaten Tariflohnerhöhungen und einem Wechselkurs von 1,20 US-Dollar je Euro in der Lage, ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit etwas zu verbessern.
Eine Gefahr sehen die Institute in der starken Abhängigkeit der deutschen Konjunktur vom Ausland. Störungen der weltwirtschaftlichen Entwicklung könnten schnell eine Stagnation der deutschen Wirtschaft bewirken. Als besondere Gefahr sind weiter ansteigende Energiepreise zu nennen. In ihrer Prognose gehen die Wirtschaftforschungsinstitute davon aus, dass ein Barrel Erdöl im Jahr 2005 durchschnittlich 55 US-Dollar kostet. Für 2006 wird ein Durchschnitt von 60 US-Dollar zugrunde gelegt.
Für die Geldpolitik nehmen die Forschungsinstitute an, dass die Europäische Zentralbank den Leitzins 2005 bei 2 % belässt. Im Laufe des Jahres 2006 wird sie ihn um 0,5 Prozentpunkte anheben. Daraufhin werden sich die Kapitalmarktzinsen geringfügig erhöhen.
Die Tarifpolitik verfolgt weiterhin einen moderaten Kurs: 2005 steigen die Tarifverdienste je Stunde um 1,2 %, im Jahr 2006 nur wenig stärker um 1,5 %.
Nicht in der Prognose berücksichtigt sind eventuelle wirtschaftspolitische Maßnahmen der neuen Bundesregierung.
Wirtschaftspolitische Forderungen der Institute zur Überwindung der Wachstumsschwäche
Die Forschungsinstitute forderten bereits in ihrem Frühjahrsgutachten 2005 weitreichende wirtschaftspolitische Reformen, um die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft zu überwinden. Der Staat müsse seinen Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen verringern und den Freiraum für private Initiative erhöhen. Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, die Staatsquote, soll reduziert werden. Der Staat soll die Subventionen kürzen, die Steuern und seine Neuverschuldung senken. Im Bereich der Sozialpolitik sollen die Bürger mehr Eigenverantwortung übernehmen. Der Staat soll lediglich für eine Grundsicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter sorgen.
Um die Eingliederung der Arbeitslosen in den Arbeitsprozess zu ermöglichen, soll nach Ansicht der Institute der Anstieg der Tariflöhne im gesamtwirtschaftlichen Schnitt unter der Summe aus der trendmäßigen Inflationserwartung und dem trendmäßigen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstum liegen. Die voraussichtliche Entwicklung der Tariflöhne im Jahr 2005 entspricht nach ihrer Einschätzung dieser Forderung.
In ihrem Herbstgutachten 2005 drängen die Institute die neue Bundesregierung zu einem schärferen Sparkurs in ihrer Haushaltspolitik. Selbst bei einer Belebung der Konjunktur liege das Defizit bei etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn Aussicht auf ein niedrigeres Defizit bestehe und die Verbraucher Entlastungen erwarteten, werde die Nachfrage gefördert und die Konjunktur so angeregt.
In der Steuerpolitik sollte die Senkung der Belastung der Unternehmen Vorrang haben. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Senkung der Lohnzusatzkosten lehnen die Institute ab. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung lässt sich nach ihrer Einschätzung auch ohne Steuererhöhungen durch Einsparungen senken.
Die sehr moderate Lohnpolitik der vergangenen Jahre sollte fortgesetzt werden. Seit 2002 seien die Lohnkosten je Arbeitsstunde kaum noch stärker gestiegen als die Preise der Anlageinvestitionen. Die Anreize für die Unternehmen, Arbeit durch Kapital zu ersetzen würden deswegen schwächer. Es werde auch weniger profitabel, Vorleistungen aus dem Ausland zu beziehen. Die Entfaltung der positiven Effekte einer moderaten Lohnpolitik in der Beschäftigungsentwicklung brauche aber Zeit.
Die wirtschaftspolitischen Forderungen der Institute entsprechen dem Konzept der sogenannten angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Anhänger der „nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik“ empfehlen demgegenüber staatliche Maßnahmen zur Stärkung der schwachen Inlandsnachfrage, zum Beispiel die Aufnahme weiterer Schulden durch den Staat, um staatliche Investitionsprogramme finanzieren zu können, Zinssenkungen zur Erleichterung von Investitionen sowie Lohnsteigerungen, die den Anstieg der Produktivität zumindest voll ausschöpfen.