Volkskunde (an Hochschulen im deutschsprachigen Raum auch unter den Namen Europäische Ethnologie, Empirische bzw. Vergleichende Kulturwissenschaft oder Kulturanthropologie geführt) ist ein akademisches Fach, welches sich vorwiegend mit der Alltagskultur breiter Bevölkerungskreise beschäftigt. Der Schwerpunkt liegt dabei im europäischen Raum. Meist von Problemen der Gegenwart ausgehend, ohne sich jedoch auf diese zu beschränken, thematisiert sie Kulturkontakte, -entwicklungen oder -strömungen und geht dabei sowohl empirisch als auch hermeneutisch vor.
Gegenstandsbereich
Die Volkskunde untersucht kulturelle Phänomene wie z.B. Arbeitsgeräte, Bräuche, Volkslieder sowie die subjektiven Einstellungen der Menschen zu diesen. Dabei versucht sie stets, den räumlichen, sozialen und/oder historischen Vergleich herauszuarbeiten. Aufgrund der Fülle an Kulturphänomenen gibt es eine große Anzahl volkskundlicher Subdisziplinen: Arbeiter-, Bild-, Brauchforschung, Erzähl-, Familien-, Gemeinde- und Stadt(teil-)forschung, Geräte-, Geschlechter- (bzw. Frauenforschung), Interethnische Forschung, Kleidungs- (ursprünglich Trachtenforschung), Leser- und Lesestoff-Forschung, Lied- und Musikforschung, Medien-, Medialkultur-, Nahrungsforschung, Reise- und Tourismusforschung, Volksfrömmigkeits- sowie Volksschauspielforschung. Weitere Schwerpunkte sind Bodylore, Interkulturelle Kommunikation, Museumswesen, Rechtliche Volkskunde sowie Wohnen und Wirtschaften.
Von all diesen Forschungsbereichen sind die Geräte-, die Handwerks-, die Hausforschung sowie Wohnen und Wirtschaften hervorzuheben: Ohne deren Ergebnisse wären die zahlreichen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen (Freilicht- und Industrie-)Museen nicht denkbar gewesen.
Wichtige Nachbardisziplinen der Volkskunde sind: im gegenständlichen Bereich Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft; bezüglich der Betrachtungsweise Alltags-, Sozial-, Wirtschaftsgeschichte, Geographie, Kultursoziologie und Sozialpsychologie; hinsichtlich des Forschungsziels Ethnologie und Kulturanthropologie.
Fachgeschichte
Anfänge
Als zur Zeit des Humanismus in Deutschland Tacitus’ Germania von Gelehrten wiederentdeckt wurde, begann man sich für die Lebensumstände des einfachen Volkes zu interessieren, indem man die Inhalte seines Werkes mit der Gegenwart verglich. Während der Aufklärung zeichneten Verwaltungsbeamte systematisch alltägliche Phänomene des bäuerlichen und handwerklichen Lebens auf. Im Zuge der Romantik war es dann kein geringerer als Johann Gottfried Herder, der eine intensive Auseinandersetzung mit der Folkloristik empfahl. So beschäftigten sich u.a. Ludwig Achim von Arnim sowie Clemens Brentano mit Volksliedern und die Brüder Grimm mit Märchen und Sagen.
1852 rief Hans von und zu Aufseß das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg für kulturgeschichtliche Sammlungen des Mittelalters sowie der frühen Neuzeit ins Leben. Sechs Jahre später (1858) begann Wilhelm Heinrich Riehl sich für eine „Volkskunde als Wissenschaft“ stark zu machen. Gut drei Jahrzehnte darauf (1889) gründet Rudolf Virchow in Berlin das (spätere) Museum für Deutsche Volkskunde, das heute Museum Europäischer Kulturen heißt; im Jahr darauf richtet Karl Weinhold (ebenfalls in Berlin) den ersten Verein für Volkskunde ein, welcher ab 1891 eine Fachzeitschrift herausgibt.
20. Jahrhundert
Grundsätzliche Fragen – z.B. nach einer Definition für Volk oder nach der Entstehung volkstümlicher Kulturgüter – wurden erstmals 1900 in Basel von Eduard Hoffmann Krayer, John Meier u.a. erläutert. Anfang der 1920-er Jahre formulierte Hans Naumann seine Theorie vom gesunkenen Kulturgut: Er war der festen Überzeugung, dass jegliche Erscheinungsformen kulturellen Lebens stets von gehobenen Sozialschichten geschaffen und von niedrigeren lediglich übernommen werden.
Auf dem Feld der Erzählforschung war die Finnische Schule für die erste Jahrhunderthälfte tonangebend. Die Kulturraumforschung konnte sich ab 1926 vom Rheinland aus in großen Teilen Deutschlands etablieren. Ende der 1920-er Jahre bereicherte die Schwietering-Schule mit ihrer soziologisch-funktionalistischen Betrachtungsweise die Volkskunde. Eine eher psychologische Herangehensweise vermittelte Adolf Spamer von 1936 an in Berlin.
Für die Phase des Dritten Reichs muss man festhalten, dass viele Volkskundler nicht lange zögerten, ihre Lehre nazifizieren und politisieren zu lassen. Heraus kam eine rassistische und volkserzieherische Volkskunde, die ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit völlig verlor. So verwundert es auch nicht, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem von soziologischer Seite die Forderung laut wurde, dem Fach seine Eigenständigkeit abzuerkennen.
Eine neue Hoffnung brachte jedoch bereits 1946 Richard Weiss’ Volkskunde der Schweiz mit sich, und zwar aufgrund seiner (für die damalige Zeit überaus beispielhaften) psychologisch-funktionellen Sichtweise. In der BRD (und ebenso in Österreich) tat man sich in der Folgezeit äußerst schwer, was eine kritische Auseinandersetzung mit der Instrumentalisierung des eigenen Faches durch die Nazis anging. Viel wichtiger erschien es den einzelnen Instituten, den Gegenstandsbereich der Volkskunde neu zu definieren und zu ergänzen. 1970 diskutierte man daher auf der so genannten Falkensteiner Tagung die verschiedenen Ideen mit dem Ergebnis eines Paradigmenwechsels: Man wollte sich fortan stärker soziokulturellen Problemen widmen. In der Folgezeit gingen mehr und mehr volkskundliche Institute dazu über, sich umzubenennen: Berlin, Kiel und Marburg entschieden sich für Europäische Ethnologie, Frankfurt am Main und Göttingen für Kulturanthropologie, Tübingen für Empirische Kulturwissenschaft, Regensburg für Vergleichende Kulturwissenschaft. Andernorts beließ man es bei dem alten Namen oder wählte eine Doppelbezeichnung, z.B. Volkskunde/Europäische Ethnologie in München.
Die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (DGV), die 1963 in der Kontinuität der Volkstumsforschung in Marburg gegründet wurde, führt nach eigenen Angaben die Arbeit des Verbandes der Vereine für Volkskunde (gegründet 1904) fort.
Literatur
- Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, ISBN 3-534-14230-6
- Rolf Wilhelm Brednich (Hrsg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3. Auflage. Reimer, Berlin 2001, ISBN 3-496-02705-3
- Helge Gerndt: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. (= Münchner Beiträge zur Volkskunde; Bd. 20). 3. Auflage. Waxmann, Münster u. a. 1997, ISBN 3-89325-508-7
- Silke Göttsch, Albrecht Lehmann (Hrsg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Reimer, Berlin 2001, ISBN 3-496-02704-5
- Wolfgang Jacobeit (Hrsg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Böhlau, Wien u. a. 1994, ISBN 3-205-98208-8
- Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. 2. Auflage. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50462-0
- Ingeborg Weber-Kellermann, Andreas C. Bimmer, Siegfried Becker: Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte. (= Sammlung Metzler; Band 79). 3. Auflage. Metzler, Stuttgart und Weimar 2003, ISBN 3-476-13079-7
- Harm-Peer Zimmermann (Hrsg.): Empirische Kulturwissenschaft, europäische Ethnologie, Kulturanthropologie, Volkskunde. Leitfaden für das Studium einer Kulturwissenschaft an deutschsprachigen Universitäten. Deutschland - Österreich - Schweiz. Jonas, Marburg 2005, ISBN 3-89445-351-6
Weblinks
- DGV - Deutsche Gesellschaft für Volkskunde
- Virtuelle Fachbibliothek Ethnologie (Fachinformationen zur Volks- und Völkerkunde)
- Volo - Volkskunde Online
- folklore europaea (multimediale Datenbank zum europäischen Brauchtum)
- Österr. Fachverband für Volkskunde
- Österreichisches Museum für Volkskunde
- SAGEN.at - Datenbank zur Erzählforschung und volkskundlichen Dokumentationen
- Volkskundeinstitute im deutschsprachigen Raum
- Beispiel für einen Selbstverständnistext