Bestrebungen zur Gründung eines eigenen Kurdenstaates gibt es schon seit über 100 Jahren. Seit dem Frühjahr 2014 wurden sie – vor allem durch die Zerfallstendenzen des Irak – aktueller denn je.
Die Kurden sind das weltweit größte Volk ohne eigenen Staat. Ihre etwa 30 Millionen leben auf dem Territorium von vier Staaten: in der Türkei (ca. 15 Millionen), in Syrien, im nördlichen Irak und im nordwestlichen Iran. Während es in einigen dieser Regionen schon seit Jahrzehnten – insbesondere im Süden der Türkei und im Westen Aserbaidschans – Bestrebungen zur Gründung eines eigenen Kurdenstaates gibt, haben andere kurdische Siedlungsgebiete diese Versuche bisher noch kaum unterstützt. Doch die dramatischen Ereignisse im Irak (2014) und der seit 2012 immer heftigere Bürgerkrieg in Syrien haben diesen „Jahrhunderttraum“ nun in greifbare Nähe gerückt.
Zerfallstendenzen 2014 im Irak
Der deutlichste Schritt dazu ist in der Entwicklung des Nordirak seit Anfang 2014 zu erkennen. Die nach dem zweiten Irakkrieg erreichte Autonomie der Kurden im nördlichen Viertel des Irak wurde durch die Abwehr des ISIS-Aggression gefestigt und durch die jüngst erfolgte Eroberung der südkurdischen Stadt Kirkuk und der umliegenden Erdölfelder de facto zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit weiterentwickelt.
Obwohl die Türkei – wo der Großteil der Kurden siedelt – seit jeher einen eigenen Kurdenstaat strikt ablehnt, weicht sich diese Haltung der Regierung in Ankara langsam auf. Denn ein solcher Staat würde eine Pufferzone einerseits zu Syrien darstellen, wo seit Jahren eine zum Bürgerkrieg ausgeartete Revolution gegen die Regierung herrscht, und andrerseits zum beständigen Unruheherd des Irak mit seinem Gegensatz der drei Bevölkerungsteile (Kurden, Sunniten und Schiiten).
Dessen 2014 deutlich werdendes Machtvakuum ist nicht nur der umstrittenen Schiiten-Regierung des Premiers Maliki zu verdanken, sondern auch dem Vormarsch der Isis-Rebellen und der Unfähigkeit des Parlaments zu einer politischen Lösung. Das im Frühjahr neugewählte Parlament vertagte sich Anfang Juli abermals, ohne eine Lösung der Krise wenigstens zu diskutieren.
Da die lange von den USA erhoffte Hilfe zur Staatsgründung ausblieb und -bleibt und die Selbstverwaltung der irakischen Kurden de facto schon weitgehend existiert, hängt die Zukunft eines vereinigten Kurdenstaates im Wesentlichen von den Reaktionen der Türkei und des Iran ab. In beiden Ländern gibt bereits erste zaghafte Zeichen der möglichen Unterstützung eines (wenigstens teilweisen) Kurdenstaates.
Kurden im Nordirak
Nach dem zweiten Irakkrieg erhielt ab 2005 die ethnisch relativ einheitliche Kurdenregion im nördlichen Viertel des Irak eine weitgehende Autonomie, die seither durch das Geschick der kurdischen Politiker – vor allem des Präsidenten Masud Barzani – noch ausgebaut wurde. Ein großer Schritt zu echter Selbständigkeit war vor allem die 2013/14 gelungene Einverleibung der südkurdischen Stadt Kirkuk und der umliegenden Erdölfelder, wozu die Schwäche der Bagdader Zentralregierung und die Stärke der kurdischen Peschmerga-Truppen wesentlich beitrugen.
Wenn die nunmehrige Zugehörigkeit Kirkuks zur Autonomieregion von Dauer ist, fehlt den Kurden zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit nur mehr der Anschluss der riesigen Ölfelder an die Pipeline ins türkische Ceyhan.
Dementsprechend selbstbewusst agierte Barzani Ende Juni 2014 beim Besuch des US-Außenministers John Kerry in der kurdischen Hauptstadt Erbil. In einem CNN-Interview sagte er, dass die Teilung des Irak für ihn eine Tatsache sei: „Es ist Zeit für die Kurden, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.“ Denn im Gegensatz zu den von der islamistischen ISIS überrannten Landesteilen ist der Nordirak eine prosperierende Insel der Stabilität mit eigenem Parlament, eigener Armee und wichtigen Investitionen türkischer Industrieller. Sollten auch die Kurdengebiete der Nachbarstaaten ihre Unabhängigkeitsbestrebungen koordinieren, wäre der Nordirak die geeignete Schlüsselregion für einen künftigen kurdischen Gesamtstaat.
Entwicklung in Iraks Nachbarstaaten
Türkei
Da die USA derzeit wenig Einfluss auf die Entwicklung nehmen, wird die Haltung der Türkei zum wesentlichen Kriterium. Zwar hat deren Regierung und die konkurrierende Regionalmacht Iran mehrfach erklärt, dass eine Teilung des Irak unerwünscht sei. Doch dem türkischen Premier Erdogan sind derzeit durch die Geiselkrise der 80 von der ISIS gekidnappten Diplomaten und Mitarbeiter die Hände gebunden.
Trotzdem werden in der Türkei die möglichen Reaktionen öffentlich diskutiert, die bei der langen Grenze mit dem Bürgerkriegsland Syrien (880 km) und mit dem Irak (330 km) von großer Bedeutung sein werden. Die Perspektive eines benachbarten Terrorstaates „Isistan“ fürchtet Ankara ebenso wie die Besetzung der Grenzgebiete durch die schiitischen, von Persien gestützten Regierungen in Bagdad und Damaskus. Daher lehnt Ankara einen kurdischen Pufferstaat nicht mehr so strikt ab wie noch 2013. Vor diesem Hintergrund wird die erstaunliche Wortmeldung des Erdogan-Vertrauten Hüseyin Celik verständlicher, dass den Kurden im Falle des „offiziellen Zerbrechens“ des Irak das Recht auf einen eigenen Staat zustehe.[1]
Aus Sicht der türkischen Regierung ist zwar eine Abtrennung kurdischer Gebiete vom Zentralstaat derzeit undenkbar und auch eine Autonomie in weiter Ferne. Dennoch ist in den letzten Jahren eine gewisse Entspannung zu den – noch vor zehn Jahren als „Bergtürken“ bezeichneten – Kurden festzustellen. So gab der jetzige Premier Erdoğan 2005 in Diyarbakir immerhin „Probleme im Osten“ zu, statt in Zusammenhang mit der PKK nur von „Terrorismus“ zu sprechen. In derselben Rede bezeichnete er die Ursache der Auseinandersetzungen als ein spezifisch „kurdisches Problem“ (kürt sorunu), womit er indirekt ihren ethnischen Charakter anerkannte.
Syrien
In den letzten Monaten des seit 2012 tobenden Bürgerkriegs gelang es den syrischen Kurden mit Unterstützung der türkischen PKK, die Kämpfe von ihrem Siedlungsgebiet im äußersten Nordosten Syriens fernzuhalten. Erleichtert wird die Unabhängigkeit dieses Westkurdistan genannten Landstrichs diese dies durch seinen gebirgigen Charakter sowie durch vorsichtige Unterstützung der irakischen Peschmerga.
Von Assads Regierung in Damaskus wird diese Waffenbrüderschaft für das Westkurdistan genannte Gebiet geduldet, weil sie sich auch gegen die Türkei richtet. Doch für eine eventuell spätere Vereinigung mit angrenzenden Kurdenregionen bietet der Landesteil kaum wirtschaftliche Perspektiven, weil es als Folge der syrischen Vernachlässigung hier keinerlei Industrie gibt.[2]
Iran
Die iranischen Kurden haben ihr Hauptsiedlungsgebiet im äußersten Nordwesten Persiens, einer etwa 400 × 200 km² großen gebirgigen Region. Sie liegt im Westen der iranischen Nordprovinz Aserbaidschan, nahe der Grenze zur Osttürkei und dem heutigen Nordirak.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Aufstände gegen die Regierung in Tehran, deren letzter 1930 mit der Ermordung des Kurdenführers Simko Aga endete. Doch nach der Anglo-Sowjetischen Invasion Irans wurde mit Stalins Hilfe im Januar 1946 ein regionaler Kurdenstaat gegründet. Diese Volksrepublik Mahabad bestand aber nur elf Monate, ebenso wie in Täbris die Aserbaidschanische Volksregierung im von Aseriss bewohnten größeren Ostteil der Nordprovinz. Nach Unterstützung durch irakische Barzani-Krieger kam es zu mehrmonatigen Verhandlungen mit dem Iran, dessen Armee dann aber einmarschierte.[3]
Danach herrschte unter dem Schah „Friedhofsruhe“, und auch nach Khomeinis Revolution 1979 wurde den Kurden keinerlei Autonomie gewährt. Denn es gebe keine ethnischen Gruppen, sondern nur die islamische Glaubensgemeinschaft. Im Juli 2005 brach in Mahabad ein Aufstand aus, der sich auf zehn kurdische Städte ausdehnte und schließlich von 100.000 Soldaten niedergeschlagen wurde.
In den nächsten Jahren ist nicht mit einer Haltungsänderung der Tehraner Regierung zu rechnen, weshalb auch die Chancen auf eine Teilautonomie gering sind.
Einzelnachweise
- ↑ Ein Kurdenstaat im Nordirak hätte für die Türkei viele Vorteile. Wiener Zeitung 27. Juni 2014. p. 6
- ↑ Syrien: Gibt es den Traum vom Kurdenstaat? ARD vom 24. September 2012
- ↑ Mahabad – Der verkaufte Kurdenstaat. Zeit-Online, April 1991